13.10.1995

Wo man das Asylrecht mit Füßen tritt

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Wo man das Asylrecht mit Füßen tritt

IN Frankreich verbieten die Bürgermeister großer Städte „Bettlern“ den Aufenthalt im Stadtgebiet. Der Minister für Integration entdeckt den Begriff der „strafbaren Familien“, der Innenminister kündigt einen Charterflug pro Woche zur Abschiebung unerwünschter Ausländer an. Am Beginn dieser Politik standen die rumänischen Roma von Lyon, und nicht einmal der Tod eines Flüchtlingskindes aus dem ehemaligen Jugoslawien, das im August durch die Kugeln eines Polizeibeamten starb, hat sie in Frage gestellt. Anderswo versuchen andere Ausgegrenzte, durch Kreativität und kulturellen Austausch wieder gesellschaftliche Verbindungen herzustellen.

Von PHILIPPE VIDELIER *

Einwanderer und Arme werden in Zukunft aufgefordert, lieber anderswo hinzugehen – als gäbe es ein Anderswo, in dem man die Verdammten dieser Erde endlagern könnte. Wenn es eines Tages nötig wäre aufzuzeigen, auf was für wackligen Füßen unser demokratisches Denken steht, dann würde der Umgang mit den Roma von Lyon als Schulbeispiel in die Annalen aufgenommen. Sie haben entsprechend den Regeln, die sich die internationale Gemeinschaft mit der Genfer Flüchtlingskonvention gegeben hat, Asyl beantragt – entsprechend den Regeln einer Konvention also, die von Frankreich und allen anderen zivilisierten Nationen ratifiziert worden ist. Durch ihre bloße Anwesenheit haben ein paar hundert rumänische Roma mit Frauen und Kindern damit nicht nur das gesamte Ballungsgebiet von Lyon in Aufruhr versetzt, sondern auch die Verwirklichung des Schengener Abkommens in Frage gestellt. Besitzlos und verstoßen fristen sie seitdem ihr Dasein in einem der unsäglichen „besetzten Häuser“ oder in einer stillgelegten Kaserne unter Aufsicht der CRS-Polizei.1 In derart aussichtsloser Lage warten sie resigniert auf die Stunde der großen Abschiebung oder auf die Möglichkeit zur Flucht in andere Gefilde, wo sie möglicherweise auf mehr Milde hoffen können.

Diese Gesellschaft, die über das televisionär aufbereitete Elend dieser Welt gerne Krokodilstränen vergießt, zeigt gleichzeitig eine zunehmende innerliche Verrohung. Die Roma aus Rumänien, von der Härte des Lebens aus dem Land ihrer Geburt vertrieben, kamen mit der Hoffnung auf ein weniger hartes Leben hierher in den Westen. Nach unbeschreiblichen Irrfahrten durch die Ukraine, durch Polen und Deutschland haben sie in Lastwagen oder Bussen mit verdunkelten Fenstern die Grenzen passiert und haben dafür ein kleines Vermögen von 3000 Mark, für das sie ihr Haus verkaufen oder bei den Nachbarn Schulden machen mußten, an skrupellose und stets unbehelligt gelassene Schlepper gezahlt. Wenn sie pulkweise hier ankommen, ist die Reaktion einhellig: „Sollen sie bleiben, wo sie wollen, nur nicht bei uns!“ Nur wenige Stimmen aus den Reihen der humanitären Organisationen fordern noch ein wenig Vernunft und Menschlichkeit ein.

Während in ganz Lyon große Werbetafeln die „100 Zigeunergeigen im antiken Theater von Vienne“ anpreisen, versucht die Stadt auf der Grundlage eines breiten Konsenses, diese Flüchtlinge loszuwerden. Neue, fremde Gestalten, die plötzlich um den letzten März herum zwischen Saône und Rhône aufgetaucht sind, auf Straßen und Plätzen, an Kreuzungen und in Bussen zu sehen waren, bettelnde Frauen mit bunten Kleidern und Kindern auf dem Arm oder am Rockzipfel – so rückten die Roma, die ungebetenen Gäste, schnell ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Einwohner, Stadträte sowie der öffentlichen Verwaltung.

Sobald die katholische Hilfsorganisation Secours catholique ihre Räumlichkeiten hinter dem Rathaus als Postadresse für die Flüchtlinge angeboten hatte, wurde ihr von Mietern und Ladenbesitzern aus der rue Désirée eine Denkschrift übergeben: „In diesem Büro herrscht seit einigen Wochen ein ständiges Kommen und Gehen, es wird geradezu belagert. An manchen Tagen bewirkt dieser Menschenauflauf leider unerträgliche Beeinträchtigungen für Anwohner, Geschäftsleute und Spaziergänger.“ Nur allzugern stimmte die regionale Presse in den Chor der Verärgerten ein: „Wenn eine derartige Situation andauern sollte, besteht große Gefahr, daß in der Bevölkerung von Lyon ein Gefühl des Widerwillens um sich greift, verstärkt durch eine gewisse Aggressivität diesen Zigeunern gegenüber. Die Stadtoberen werden sich gut überlegen, ob sie sich auf dieses Risiko einlassen wollen“2, schließt dieses Plädoyer für Ruhe und Ordnung im Lande.

Grund für die plötzliche Ankunft der Roma in Lyon sei, so hieß es, die in glücklicheren Tagen einer europäischen Solidarität geschlossene Städtepartnerschaft mit Craiova, der Stadt, wo die meisten von ihnen vorher gewohnt hatten. Sie liegen weit zurück, die offiziellen Empfänge unterm Rathausstuck: „Frankreich und die Einwohner Lyons verfolgen mit großem Interesse die Entwicklung Rumäniens. Wir wollen Ihren Erwartungen an Frankreich in vollem Umfang gerecht werden!“3 1995 kommt die Hälfte der Asylsuchenden europäischer Herkunft, die beim Französischen Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (Office français de protection des réfugiés et apatrides – Ofpra) einen entsprechenden Antrag gestellt haben, aus Rumänien. Für die Präfektur des Rhône-Departements besteht kein Zweifel: Es handelt sich um „Ausländer, die sich illegal im Land aufhalten“, denen mit der ganzen Strenge der Gesetze gegen illegale Einwanderung begegnet werden muß.4 Mit dem eigenartigen Zusatz: „Das gilt für diejenigen, deren Asylantrag nach Beendigung des Verfahrens abgewiesen wurde.“ Diese beiden Textpassagen widersprechen sich jedoch diametral: Dem Geist der Genfer Konvention zufolge darf die illegale Grenzüberquerung dem Asylantrag nicht im Wege stehen. Die Opfer politischer Verfolgung haben unter Umständen nicht die Möglichkeit, sich auf legalem Wege in Sicherheit zu bringen. Es unterliegt ausschließlich der Ofpra, nach individueller Prüfung Asyl zu gewähren oder nicht. Während der Dauer des Asylverfahrens hält sich der Antragsteller absolut legal im Land auf.

Doch Frankreich gibt sich mittlerweile seinen Ängsten lustvoll hin. Mit jedem Wahlgang, mit jeder beiläufigen Bemerkung ist die Überzeugung gewachsen, daß tatsächlich die Einwanderung schuld ist an der Mißstimmung im Land. Frankreichs Verhältnis zum Recht – zu jenem Recht, dessen es sich auf internationalem Parkett so gerne rühmt – wird dadurch getrübt, und auch seine Art, die unterprivilegierten Menschen des Südens und jetzt auch des Ostens wahrzunehmen, hat sich verändert. Die rumänischen Roma sind gekommen, um nach französischem Recht Asyl zu beantragen. Doch sobald es um sie geht, um ihr Äußeres, um ihre Verhaltensweisen, haben Recht und Gesetz offenbar keine Geltung mehr.

„Die Rumänen kommen wegen des Wohlstands nach Frankreich, das hat mit Verfolgung nichts zu tun“, urteilt die Präfektur kurzerhand.5 Von ihrer Lebensgeschichte will man nichts wissen. Einer der Geflüchteten erzählt für die Ofpra die Gründe seines Exils: Von der Kündigung seiner Arbeitsstelle bei der Zuckerfabrik in Craiova, die er auf seine ethnische Herkunft zurückführt, der Plünderung seines Hauses, der Feindseligkeit der Polizei ... Er spricht von seiner Angst vor Repressalien, von seinem Wunsch, Rumänien zu verlassen, von seinen wiederholten erfolglosen Ausreiseversuchen: „Eine Woche nach der Geburt unseres Kindes habe ich einen weiteren Versuch unternommen, diesmal über Polen. Sie haben mich an der deutschen Grenze verhaftet und mit dem Flugzeug nach Bukarest zurückgeschickt. Eine Woche später habe ich es noch mal probiert, wieder über Polen. Ich habe dieses Land am Donnerstag, den 8. Juni, gegen 20 Uhr verlassen und es geschafft, zusammen mit anderen versteckt in einem klimatisierten Lastwagen für Lebensmitteltransporte Deutschland zu durchqueren, ohne ein einziges Mal auszusteigen. Wir sind dann in einen Omnibus mit zugemalten Fensterscheiben verfrachtet worden, der uns am Freitag, den 9. Juni, gegen 23.30 Uhr in Lyon in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft abgesetzt hat. Am nächsten Morgen gegen 7 Uhr wurden wir verhaftet, und ich hatte keine Gelegenheit mehr, auf der Präfektur einen Asylantrag zu stellen.“6 Es ist kaum wahrscheinlich, daß man ihm oder seinen Reisegefährten Asyl gewähren wird. Die Rhône-Präfektur hat die Entscheidung der Ofpra bereits vorweggenommen, indem sie die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen dazu aufforderte, „die Rückkehrmaßnahmen, die unausweichlich sind, nicht zu verkomplizieren“, und versicherte, daß der Staat, der „für diese delikaten Aufgaben der Rückführung die Verantwortung“ trägt, wisse, daß er „auf Verständnis bei der Bevölkerung rechnen kann“.

Der „Eklat von Lyon“

Zwei Tage nach der Veröffentlichung dieses „Glaubensbekenntnisses“ kam die dem Außenministerium unterstellte Ofpra den Behörden zu Hilfe und verkündete, daß „angesichts der grundlegenden Änderungen, die sich mittlerweile im politischen Regime Rumäniens ereignet“ hätten, rumänische Staatsangehörige in Frankreich zukünftig nicht mehr als politische Flüchtlinge anerkannt würden. Dabei hatte amnesty international Rumänien gerade einen besonderen Bericht gewidmet: „Trotz anderslautender Versicherungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft“, heißt es dort, „dauern die Menschenrechtsverletzungen an.“ Über fünfzehn Seiten zieht sich der „Katalog über das den Roma angetane Unrecht“, von den Vorfällen gegen die „Bärenvorführer“ im Jahr 1990 bis zu den rassistischen Gewalttaten von Bacau im Januar 1995, wo die Häuser der Roma in Brand gesteckt wurden.7 Anläßlich einer Pressekonferenz in Bukarest machte die Organisation auf Fälle aufmerksam, in denen „Gefangene gefoltert und mißhandelt“ worden waren, sowie auf „die Diskriminierung der Roma-Minderheit durch die Polizei“.

Die Krise von Lyon, deren Bewältigungsversuche auf der Ebene verschiedener Ministerien in erster Linie das Ziel hatte, die Behörden vor der Öffentlichkeit in ein gutes Licht zu setzen, mündete in einem Eklat; dieser war der Anbeginn der Suspendierung des Schengener Abkommens vom 29. Juni 1995 sowie der Wiedereinführung der berüchtigten Charterflüge für Ausländer. Im allgemeinen Wirrwarr wurden am 17. Juni zwölf unglückliche Rumänen vom Flughafen Lyon- Satolas aus nach Bukarest zurückgeschickt, um ein Exempel zu statuieren. Dieser erste Charterflug der Chirac-Ära war der Höhepunkt einer Reihe von Vorfällen, die ebenso besorgniserregend wie beschämend sind.

Am Samstag, den 10. Juni hatte die Polizei in den frühen Morgenstunden eine Razzia gegen 28 Roma durchgeführt, die in der Nacht auf einem Stück Brachland angekommen waren. Obwohl die Polizeiprotokolle verzeichnen, daß diese Leute die Absicht geäußert haben, Asyl zu beantragen, wurden sie als „illegale Einwanderer“ eingestuft und noch am selben Tag ein Ausweisungsbeschluß gegen sie erwirkt. Die Männer wurden in ein Auffanglager gebracht, während Frauen und Kinder der Fürsorge der Heilsarmee übergeben wurden. Zur Anhörung vor dem Verwaltungsgericht wurden die Rumänen mit auf dem Rücken gefesselten Händen geführt, eine Sonderbehandlung, die ansonsten Schwerverbrechern vorbehalten ist. Als es dann am Vorabend der Abschiebung per „Charter“ darum ging, die überall in der Stadt verteilten Frauen und Kinder wieder einzusammeln, kam es zu unglaublichen Szenen, die an unrühmliche Zeiten in der Geschichte des Landes erinnern: „Gegen 16 Uhr wurde über Polizeifunk die Anordnung der Behörden verbreitet: ,Alles, was auch nur annähernd nach Rumäne aussieht, wird festgenommen.' Dann herrschte einen Moment lang beklemmende Funkstille. ,Es hat sich schon komisch angehört', gestand ein Ordnungshüter während der Verfrachtung zweier Zigeunergruppen in Lieferwägen. (...) In wilder Jagd rannten die aus den Karpaten Geflohenen durch die Straßen unserer Stadt, die Beamten dicht auf ihren Fersen.“8 Der spöttische Tonfall des Artikels paßt schlecht zur Brutalität dessen, was da stattgefunden hatte: eine Treibjagd auf verräterische Gesichtszüge – und eine menschliche Tragödie.

Nicht einmal die Tageszeitung Libération schreckte mehr vor flotten Titeln zurück: „Das Eldorado von Lyon ist für die Zigeuner dahin.“9 Eldorado? „Einige hundert Kinder mitten im März auf der Straße, davor durfte man nicht einfach die Augen verschließen“, erklärt Olivier Brachet, ehemaliger Leiter der Zeitschrift Économie et humanisme und heute Direktor des Rhône-Komitees für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Verteidigung des Asylrechts (Comité rhodanien d'accueil des réfugiés et de défense du droit d'asile – Crardda). „Wir haben einfach gesagt, daß die Frauen und Kinder nicht draußen schlafen werden“, ergänzt Pastor Jean Costil von der Flüchtlingsorganisation Cimade. Doch es bedurfte einer spektakulären Aktion – der Organisierung eines Zeltlagers auf dem Vorplatz der Fourvière-Basilika, die hoch über den Dächern Lyons auf einem Hügel liegt – um diesen Appellen zumindest teilweise Gehör zu verschaffen. Am Abend des 11. Mai hatten sich dann 150 Roma in Zelten zusammengefunden, die von Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt worden waren.

Die Angst vor einem Skandal zwang die Behörden daraufhin, eine Lösung zu finden: Eine ausgediente Kaserne in Saint- Priest, einem verrufenen Außenbezirk im Osten Lyons.

„Wir fordern die Bevölkerung von Lyon zur Solidarität auf“, schloß die Erklärung der Hilfsorganisationen, die sich vor der Basilika zusammengefunden hatten. Leider hat es wenig Solidarität gegeben, im Gegenteil: Als etwa vierzig Roma, davon die Hälfte Kinder, in einem Gewerkschaftshaus in Pont-de-Chéruy im Departement Isère untergebracht wurden, organisierte der Bürgermeister persönlich eine Absperrung mit Identitätskontrollen vor dem Eingang der Unterkunft, um seine feindselige Haltung zu demonstrieren: „Bei den bosnischen Flüchtlingen haben wir nichts gesagt. Aber jetzt ist das Maß voll.“10

Diese Aktion ist anscheinend bei den Anwohnern sehr gut angekommen. Man muß dazu sagen, daß es sich bei den so großzügig tolerierten Bosniern um insgesamt vier Familien handelte und daß Pont-de-Chéruy viertausend Einwohner zählt.

Saint-Priest hatte sich 1989 unter den Gemeinden befunden, die ein rumänisches Dorf „adoptiert“ hatten. Doch als Reaktion auf die wenige Wochen vor den Wahlen getroffene Entscheidung der Präfektur, die Roma in der leerstehenden Kaserne unterzubringen, trat der gesamte Stadtrat aus Protest zurück. Alle Fraktionen waren sich einig, mit Ausnahme der Front National, die – noch extremer – die sofortige Abschiebung der „Eindringlinge“ forderte. Dabei sind sowohl Pont- de-Chéruy als auch Saint-Priest Orte, die in den zwanziger Jahren industrialisiert worden waren und einen Großteil ihres Wachstums Einwanderern verdanken. Nach Pont-de-Chéruy kamen damals russische und armenische Flüchtlinge, Albaner und Griechen, um in den Drahtziehereien Arbeit zu finden, während es in Saint-Priest Italiener und Spanier waren, die von einer großen Textilfabrik ins Land gelockt wurden. Vor dem Krieg lebten in Pont-de-Chéruy 29 Prozent Ausländer, im direkt benachbarten Charvieu 51 Prozent und in Saint-Priest 33 Prozent!

Flüchtlinge, Immigranten, Ausländer, Asylsuchende, legal oder illegal: Eine fremdenfeindliche Einstellung wirft sie alle in einen Topf. Zuweilen drückt sich die Feindseligkeit in Briefen aus, wie in jenem Schreiben eines Bewohners von Villeurbanne an Cimade: „Lassen wir uns diese Invasion nicht länger gefallen, und hören Sie auf, ständig für diese Fremden Rabatz zu machen, wo es doch so viele FRANZOSEN gibt, die arbeitslos sind, in Armut leben und die man vor die Hunde gehen läßt, weil für sie angeblich kein Geld da ist.“

Ob er seinen Standpunkt wohl ändern würde, wenn er wüßte, daß das Stadtarchiv seines Wohnortes Villeurbanne gleichlautende Briefe enthält ..., die allerdings vor über fünfzig Jahren verfaßt worden sind? „In zahlreichen Fabriken werden wir entlassen, während ausländische Arbeiterinnen weiterbeschäftigt werden“, beklagte sich 1931 eine Gruppe „französischer Arbeiterinnen“. „Drei Viertel dieser Fremden leben von den Steuerbehörden unbehelligt, und wir, die wir für sie zahlen müssen, werden entlassen.“11 Der damalige Bürgermeister, ein Linker, der jedoch für die Klagen seiner Wählerschaft ein offenes Ohr hatte, empfahl bereits in diesen Jahren den Unternehmen, bei der Einstellung von neuen Arbeitskräften „die Frage der Nationalität in den Vordergrund zu stellen“, wie mancher heute vielleicht sagen würde.

Der Topos vom parasitären Ausländer wird wieder aktuell. In Le Progrès steht zu lesen, es werde „tatsächlich jeder Asylbewerber im Rahmen sanitärer und sozialer Maßnahmen von Hilfsorganisationen unterstützt und in Sammelunterkünften oder Hotels untergebracht. Es trifft auch zu, daß sie staatliche Unterstützung erhalten, einmal 2000 Francs als Integrationshilfe und darüber hinaus 1300 Francs im Monat über einen Zeitraum von maximal einem Jahr.“12

Die Mehrzahl der Roma allerdings erhielt keine dieser Hilfen, die im übrigen gesetzlich festgeschrieben und an ein striktes Arbeitsverbot gekoppelt sind, um zu verhindern, daß aus Flüchtlingen eines Tages Immigranten werden. Eine von Crardda durchgeführte Umfrage bei den Bewohnern der Unterkunft, die das Komitee in Caluire unterhält, zeigt, daß von einem Dutzend Familien lediglich drei ganz oder teilweise die gesetzlich vorgeschriebene Unterstützung erhalten, das sind neun von zweiundvierzig Personen oder weniger als ein Viertel. Alle übrigen, die entweder in den Mühlen der Bürokratie verschüttgegangen oder der Böswilligkeit der Behörden zum Opfer gefallen sind, haben keinerlei Einkünfte und unterliegen selbstverständlich trotzdem dem strikten Arbeitsverbot. Und da beklagt man sich über die Bettelei!

Was die Unterkunft angeht, so würde niemand freiwillig in der Kaserne von Saint-Priest leben wollen, ganz zu schweigen von den „besetzten Häusern“, von denen eines im Juli aus sanitären Gründen von der Polizei zugemauert wurde. „Diese Leute sind schmutzig“, kommentiert ein Händler aus Saint-Priest. „Sie haben die Krätze. Es heißt, daß sie in der Kaserne ihre Notdurft auf den Fluren verrichten.“13 Wahnvorstellungen. Stellen wir uns ein zweistöckiges Gebäude vor, das jahrelang leergestanden hat, in dem 180 Menschen, vielleicht auch mehr, in etwa 30 Zimmern zusammengepfercht leben, wo jeder Winkel mit Feldbetten aus Armeebeständen vollgestellt ist. Gewiß, „sie“ haben andere Bräuche als wir. Es ist offenbar nötig, an die Worte zu erinnern, die Albert Camus vor dem Krieg an diejenigen richtete, die über die kabylischen Berber herzogen: „Es ist erbärmlich zu sagen, dieses Volk würde sich an alles gewöhnen. (...) Auch Monsieur Albert Lebrun höchstpersönlich (der letzte Präsident der Dritten Republik) würde sich an ein Leben unter den Brücken gewöhnen, an den Schmutz und an die Brotkruste, die er vielleicht in einem Mülleimer finden würde, wenn er nur die Summe von 200 Francs im Monat zur Verfügung hätte.“14

Die Indifferenz der 40er Jahre

AM Eingang der Kaserne halten die CRS-Polizisten mißtrauisch Wache. Sie lassen jeden heraus, aber hinein nur diejenigen Rumänen, die ihre „Karte“ bei sich haben – ein in Plastik eingeschweißter Ausweis mit Lichtbild – und diejenigen Franzosen, die auf einer von der Präfektur zusammengestellten Liste verzeichnet sind. Der juristische Status dieses bewachten Gebäudes bleibt unklar. Die Roma befinden sich als legale Asylbewerber im Land, sie sind keine Häftlinge. Dennoch dürfen sie keinen Besuch empfangen. Es wurden keinerlei soziale Begleitmaßnahmen ergriffen, wie sie normalerweise für Flüchtlinge vorgesehen sind. Kein Französischunterricht, kein Schulbesuch für die Kinder. Kann man sich denn gleichzeitig über die so anderen „Sitten“ dieser Leute beschweren und ihnen diese minimale Unterstützung verweigern?

Die einzige Sorge der öffentlichen Ämter ist es, die Roma am Rand unserer Gesellschaft zu halten, bis sie abgeschoben werden. „Das führt dazu, daß man eine Behandlung akzeptiert, die sie zu Untermenschen macht“, stellt die junge Rechtsanwältin Marie-Noälle Fréry fest. Sie hatte Charles Pasqua zu der Zeit, als er noch Innenminister war, zu einem Rückzieher gezwungen: die Ausweisungen im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen den Vertrag zur beruflichen Eingliederung (Contrat d'insertion professionnelle – CIP) an den Gymnasien mußte er zurücknehmen.15 „Wenn man sieht, was heute vor sich geht, beginnt man die Indifferenz der 40er Jahre besser zu verstehen“, fügt sie hinzu. Wer hat sich damals um das Schicksal der Roma gekümmert, die bei Nacht und Nebel verschwanden?

In einer längst vergangenen Zeit, als während der letzten Gefechte des Ersten Weltkriegs die europäischen Grenzen im Feuer der Kanonen neu gezogen wurden, erklärte ein Anthropologieprofessor aus Genf im selbstverständlichsten Ton: „Warum sind uns die Zigeuner so sympathisch? Es liegt nicht nur daran, denke ich, daß sie verarmt, geächtet und verfolgt waren. Es liegt sicherlich auch daran, daß sie in unserem polizeilich durchorganisierten Europa die einzigen Menschen sind, die sich ihre Freiheit bewahrt haben.“16 Es hat den Anschein, daß in einer Zeit, da im Osten Europas erneut Kanonen die Politik bestimmen, die Roma die Sympathie der modernen Welt verloren haben. Sie verkörpern zugleich die nicht integrierbare Differenz und das Gefühl der Unsicherheit.

„Ein guter Paß ist für mich unentbehrlich in dieser Zeit des allgegenwärtigen Polizeistaates“, schrieb Panait Istrati, ein ehemaliger rumänischer Einwanderer, der vom Hilfsarbeiter zum Schriftsteller französischer Sprache wurde. „Ich verlange diesen Paß von Frankreich. (...) Heute hat mein Dorf das Recht dazu, für dasjenige seiner Kinder, das diesen Boden am meisten geliebt hat, mehr von Frankreich zu verlangen als bloß ein Grab.“17

dt. Sophie Mondésir

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Philippe Videlier