13.10.1995

Freiheit für die Presse!

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Freiheit für die Presse!

ALLÜBERALL in der Presse der westlichen Länder werden derzeit in den Leitartikeln die Gewerkschaften verurteilt; man empört sich über die angeblichen Privilegien der Lohnempfänger und Arbeitslosen, dabei wird selbst der kürzeste Kommentar den Verfassern mit einem Mehrfachen des Wiedereingliederungsgeldes (RMI) entgolten. Letztes Beispiel ist das Jammerkonzert, das den Rücktritt – bzw. die Entlassung – des Wirtschaftsministers Alain Madelin begleitete: Im Namen der Modernität beklagten die Troubadoure der Internationale des Kapitals den Abgang des Ministers; er habe schließlich, so konnte man hören, den Mut gehabt, die wahren Nutznießer der Gesellschaft zu benennen: Empfänger von Wiedereingliederungsbeiträgen, Arbeiter, die auf dem Mindestlohn beharren, ferner die Beamten und Gewerkschafter. Längst ist die Sprache, wie Marc Blandel, Generalsekretär der Gewerkschaft Force Ouvrière, konstatiert, zum Instrument permanenter Neudefinitionen geworden (so meint „Reform“: „man nehme das unterste Level und mache es im Namen der Gleichheit zum allgemeinen Standard“). Diesem Trend folgend wurde auch der Abgang Alain Madelins umdefiniert: als Beweis dafür, wie „konservativ“ Frankreich nach wie vor sei. „Wir sind beinahe so starr wie das sowjetische System (...). Wir sollten den Mindestlohn abschaffen, dann würde auch die Arbeit flexibler!“ erklärte Pascal Salin, ein dem ehemaligen Minister nahestehender Wirtschaftswissenschaftler. Die Zeitungen rissen sich um diesen subtilen und allgemeinverständlichen Experten.

Claude Imbert, Direktor von Le Point und Kommentator bei Europe 1, spricht mit düsterer Stimme von der Notwendigkeit, „Frankreich zu entkolonialisieren“, es „von den Korsettstangen des Wohlfahrtsgebildes zu befreien, die längst ausgedient haben“. Unter dem tugendhaften Gerede von „nationaler Solidarität“ pervertiere die Fürsorge zu einem Kalkül und zu einem langsamen Absterben der nationalen Vitalität. Damit interpretiert Imbert im Allegro die von Madelin eher im Andante komponierte Weise.

Auf dem Fernsehkanal LCI bietet Guillaume Durand den Tonfall der Besorgnis dar: „Gibt es keine Hoffnung auf eine Reform? Kann man wirklich nichts anderes tun, als den Rückwärtsgang einlegen und brav schnurren, wenn drei Gewerkschaften sich zu Wort melden?“ Also: „Die öffentliche Meinung“ ist die „Korsettstangen“ leid und fordert mit „Ungeduld“ eine „Reform“. Doch Juppé, die Gewerkschaften, die Sozialpartner, das „Schnurren“ und die „Privilegien“ haben noch einmal gesiegt. Gegen den Protest der Journalisten und die niedrigen Notierungen des Francs auf den Finanzmärkten. Frankreich ist wirklich ein unbewegliches Land. S.H.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von S.H.