13.10.1995

Nieder mit dem Gesellschaftsvertrag!

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Nieder mit dem Gesellschaftsvertrag!

In Wort und Bild die Wirklichkeit aufzuputzen, statt sie zu verändern: das scheint das letzte Aufgebot der politischen Macht – im Schulterschluß mit den Medien. Ob es sich um die Ungleichheit, die Einwanderung, die Ausgrenzung oder um den Umgang mit den Problemen auf dem Arbeitsmarkt handelt: Von dem Anspruch, den „Bruch der Gesellschaft“ aufzuhalten und zu überwinden, der Jacques Chirac die Präsidentschaft der französischen Republik eingebracht hat, scheint nicht viel geblieben. Um der Wirtschaft gefällizu sein, die eine restaurative Politik erwartet, und um sich als Garanten von Recht und Ordnung zu präsentieren, sind die Regierenden bereit, das soziale Netz zu durchlöchern und das Asylrecht in Frage zu stellen, mehr Arbeitsplätze mit Niedrigeinkommen zu schaffen oder auch die demokratischen Prinzipien zu vergessen, um „in den Vorstädten Ordnung zu schaffen“.

Von CHRISTIAN DE BRIE

ER war mutig genug gewesen, sich mit den „Privilegierten“ anzulegen und die „Ungleichheit zwischen den Franzosen“, zu kritisieren, die nach seiner Meinung bereits Anzeichen für eine „gefährliche Spaltung der Gesellschaft“ und einen „schwelenden Aufstand“ bewirkte, er hatte den „Mut zur Reform“ gehabt und war entschlossen, „das alte Regime“ zu beseitigen – also wurde Alain Madelin, Minister für Wirtschaft und Finanzen, im August letzten Jahres zum Rücktritt gezwungen. Der Mann war durchaus kein U- Boot der extremen Linken: Er kam von der extremen Rechten zum Ultraliberalismus, er hatte der „Bewegung Okzident“ angehört und brachte es zum Vizepräsidenten der äußerst konservativen Republikanischen Partei, er genoß die politische Wertschätzung der Unternehmer und war der Liebling des Wall Street Journal...

Um welche „Privilegierten“ geht es also? Um jene, die ihr Geld im Schlaf verdienen. Das sind nicht etwa die Couponschneider und Spekulanten, die seit fünfzehn Jahren gemästet werden und die allein 1994 538 Milliarden Francs Einkommen aus dem Volksvermögen unter sich aufgeteilt haben. So funktioniert nämlich der Volkskapitalismus, den die Rechten so lieben: die 400000 Betuchtesten haben 100 Milliarden eingeheimst – das heißt jeder monatlich 250000 Francs im Durchschnitt – während 20 Millionen Menschen sich mit 30 Milliarden begnügen mußten – 1500 Francs für jeden.1 Nein, die Nutznießer sind nach Meinung von Herrn Madelin die Empfänger von RMI-Unterstützung, die mehr Geld bekommen als die Familie nebenan, wo man für den SMIC-Mindestlohn frühmorgens aufsteht und spätabends nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommt.2

Und die „Ungleichheit zwischen den Franzosen“? Nicht etwa, daß ein Prozent der Bevölkerung 25 Prozent des Nationalvermögens an sich bringt, während ein fünfzigmal so großer Bevölkerungsanteil gerade mal 5 Prozent abbekommt, ist das Problem, sondern die „Ungleichheit zwischen den Franzosen des geschützten und denen des exponierten Sektors“3. Aufgrund dieser Ungleichheit sind etwa Museumswächter (geschützter Sektor) begünstigt gegenüber Unternehmen wie Michelin oder Bouygues (exponierter Sektor).

Und wo „schwelt heutzutage der „Aufstand“? Durchaus nicht unter den Millionen von Marginalisierten, sondern, wenn es nach Madelin ginge, „unter den Aktiven, denen, die etwas unternehmen wollen, den Handwerkern, den Bauern, die es müde sind, mit ihren Steuern und Lasten die Rechnung für die öffentliche Verschwendung zu bezahlen“4. „Sicher zittern die Unternehmer bei dem Gedanken, daß Hunderte von Milliarden öffentlicher Gelder, die man ihnen seit Jahren zukommen läßt, unter der Rubrik ,Verschwendung' verbucht werden“, stellt der Generalsekretär der CGT, Louis Viannet, ironisch fest.5

„Der Initiative eine Chance“

UND was den Bruch mit dem „alten Regime“ und die „Reform“ betrifft, so bedeutet das nicht etwa, dem Kapitalismus Manieren beizubringen. Ein Universitätsprofessor, Redenschreiber des ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsministers, hat es so formuliert: Man müsse „das Land aus dem Kollektivismus herausführen“, die „Pyramide der Privilegien, die das Wesen des Staates ausmacht“, niederreißen, „der Initiative wieder eine Chance geben“.6 Nicht etwa zwischen der „Welt der Reichen und der Welt der Ausgeschlossenen“ verläuft die Frontlinie, sondern: „... zwischen Liberalen und Konservativen. (...) Auf der einen Seite stehen all jene Männer und Frauen, ob reich oder arm, die arbeiten, Phantasie entwickeln, etwas unternehmen, und auf der anderen Seite jene, die von Unterstützungszahlungen und Privilegien leben (...) Entscheidend ist die Kluft zwischen der verantwortungslosen und unkündbaren öffentlichen Nomenklatura und den aktiven Männern und Frauen, die mit Sorgen an den nächsten Tag denken.“7

Wie viele andere, die solche Reden halten, ist der Herr Professor selbst ein hoher Würdenträger der öffentlichen Nomenklatura, und er denkt gar nicht daran, sich einzureihen unter jene „Aktiven“, „die mit Sorgen an den nächsten Tag denken“. Ebenso Madelin: Obwohl sein Gehalt noch einige Monate weitergezahlt wird, begann er sofort nach dem Rücktritt, seine Rückkehr in die Nationalversammlung vorzubereiten. Er hatte sich bitter beklagt über das maßlose Privileg der Beamten, die nach nur 37,5 Jahren Beitragszahlungen Anspruch auf ihre vollen Altersbezüge haben, während die Lohnabhängigen des privaten Sektors 40 Jahre zahlen müssen.8 Er selbst wird, wie alle Parlamentarier, nach nur fünf Jahren Beitragszahlungen Anspruch auf eine Rente haben.

Doch seine schönen Worte wurden von den großen „wirtschaftsliberalen“ Blättern angemessen gewürdigt. „Madelin geht – das Aus für die Reformen“, lautete die Schlagzeile des Wall Street Journal. Madelin sei der Mann gewesen, „den Frankreich braucht, damit der französische Staat die Finger aus den Taschen der Steuerzahler nimmt“. Die Angelegenheit sei „demoralisierend für (...) alle, die es noch nicht aufgegeben haben, nach Anzeichen einer Reform in Frankreich Ausschau zu halten“9. Die öffentlichen Ausgaben einschränken und die Steuern senken, „das ist die Wirtschaftspolitik, die die Investoren schätzen“, mahnt die Financial Times10, während die International Herald Tribune bereits „dem entschlossensten Anwalt der freien Marktwirtschaft in der Regierung“ nachtrauert11.

Mehr Raum für den Markt! Dagegen soll der Staat auf seine Sicherheitsfunktionen eingegrenzt werden: Armee, Polizei, Justiz, soziale Kontrolle. Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und Dienstleistungen, Deregulierung und Zerstückelung der Arbeitsgesetzgebung, des sozialen Netzes, des Bildungssystems ... das alles ist schon seit gut einem Jahrzehnt voll im Gange. Es geht nur noch um die Art und Weise: mit Biegen und Brechen im Stil Madelins, oder mit Zustimmung der Betroffenen wie bei Juppé. Der macht kein Geheimnis aus seinen Absichten: Er will die RMI-Wiedereingliederungsbezüge ebenso abbauen wie das soziale Netz. Bei einem Fernsehauftritt verglich er, zur Erbauung der Zuschauer, die symbolische Rente der Landwirte mit der der Beamten – und nicht etwa mit den „hausgemachten“ Super-Pensionen von leitenden Angestellten und Unternehmenschefs, die noch ergänzt werden durch persönliche Abfindungen.12 „Die Privilegien und Ungerechtigkeiten abzubauen“, so hat es der Ministerpräsident ausdrücklich erklärt, „das bedeutet, von den Meistbegünstigten zu verlangen, daß sie die Mindestbegünstigten unterstützen.“13

Wer ernsthaft nach Verknöcherungen und überholten Formen Ausschau hält, wird allerdings genug finden. Das fängt an mit der engen Verflechtung zwischen Reichtum und Macht (politische ebenso wie wirtschaftliche, administrative oder kulturelle Macht). Davon zehrt eine hauptsächlich aus der Großbourgeoisie stammende Elite, der vierzehn Jahre „kollektivistischer Sozialismus“ kein bißchen geschadet haben. Diese männliche multifunktionale Elite blockiert jede soziale Mobilität, häuft Mandate und Funktionen, Pfründen und materielle Vorteile an, bildet neue Erbdynastien in der Geschäftswelt und in der Politik und liefert ein Schauspiel übelster Geschäftemacherei und Korruption. Der harte „Kern“ dieser Elite, die aus demselben sozialen Milieu stammt, in den gleichen Institutionen ausgebildet wurde, die gleichen Werte teilt, untereinander heiratet und in denselben Vierteln und Ferienorten lebt, verteidigt mit Zähnen und Klauen die alte Ordnung, die seinen Bestand sichert.14

Dann sorgen die Schulen und Hochschulen für das Fortbestehen der Ungleichheit. Die elitärsten haben den besten Ruf: In den vier größten, Polytechnique, École nationale d'administration (ENA), École normale supérieure und Hautes études commerciales (HEC) ist seit den 50er Jahren der Anteil von Studenten aus den unteren Schichten von 29 auf 8,6 Prozent gesunken. Ein Jugendlicher aus einfachen Verhältnissen hat eine Chance von eins zu zehn, einen besseren Abschluß als das Kind eines leitenden Angestellten zu erreichen.15

Ähnliches gilt bei Einkommen und Vermögen; hier haben sich die Ungleichheiten in der jüngsten Zeit noch verstärkt. Die Steuerpolitik korrigiert diese Entwicklung nicht, sondern wird sie durch laufende oder geplante „Reformen“ noch verschärfen.16 Einerseits wachsen die Einkommen aus Vermögen schneller als die Löhne und Gehälter; andererseits entfallen 21 Prozent der Einkommen auf die 5 Prozent der Bevölkerung am oberen Ende der Skala, ebensoviel wie auf die unteren 50 Prozent. Schließlich all die übrigen Ungleichheiten: bei der Beschäftigung, der Wohnung, der Gesundheit und der sozialen Sicherheit, beim Zugang zu Unterhaltung, Kultur und öffentlichem Leben. All das reproduziert und verstärkt sich und wird zu einem System, in dem immer mehr Menschen nach und nach ihre Rechte und ihren Status als Bürger verlieren.17

Angesichts einer solchen Häufung von Privilegien und Ungleichheiten kann das Theater um die angeblichen Vorteile der Staatsbediensteten oder den Mißbrauch der RMI-Gelder nur als der Versuch begriffen werden, Zwietracht unter denjenigen zu säen, die gemeinsam kämpfen müßten, um die Dinge zu verändern.

Während die Republik vergißt, daß sie „sozial“ sein wollte (Artikel 2 der Verfassung), scheint auch die nationale Souveränität allmählich vom Volk auf den Markt überzugehen, der sie nicht durch Vertreter, sondern durch die Notierungen an der Börse ausübt und sich seine eigenen Gesetze schafft. Von Alcatel-Alsthom und seinem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und Generaldirektor, der 1,1 Millionen Francs monatlich erhält, bis zum Obdachlosen sind alle gleich. Habt Vertrauen, der Markt schaut auf euch. Eine Art „Newspeak“ begleitet diese Rückkehr zum Obskurantismus: Von nun an ist ein Recht ein Privileg, ein sozialer Fortschritt ein Archaismus, das Mindesteinkommen eine Verknöcherung und die Reform die Gegenreform. Die Wahrheit ist die Lüge.

dt. Vincent von Wroblewsky

1 „La France inégale“, Alternatives économiques, Paris, Sept.-Okt. 1995.

2 Europe I, 24. 8. 1995, zit. in Libération, 25. August 1995 [RMI: Revenu minimal d'insertion (Mindestbezüge zur Wiedereingliederung) Anm. d. Übers.].

3 Europe I, a.a.O.,

4 Le Monde, 29. August 1995.

5 Libération, 25. August 1995.

6 Pascal Salin, Libéraux contre conservateurs, Tribune libre in Le Monde, 27./28. August 1995.

7 Pascal Salin, a.a.O.

8 Die schrittweise Verlängerung bis zu vierzig Jahren war im August 1993 klammheimlich von der Regierung Balladur eingeführt worden.

9 The Wall Street Journal, 28. August 1995.

10 Financial Times, 26./27. August 1995.

11 zit. in Le Monde, 27./28. August 1995.

12 France 2, Nachrichtensendung vom 20. September 1995.

13 Le Monde, 29. August 1995.

14 Siehe „Les riches“ in: Alternatives économiques, Sondernummer, 3. Trimester 1995, ferner Erza N. Sulleiman, Les Ressorts cachés de la réussite française, Paris (Le Seuil), 1995, S. 243 ff.

15 „La France inégale“, a.a.O.

16 Siehe Christian de Brie, Corriger par l'impôt l'inique répartition des richesses, Le Monde diplomatique, Januar 1995.

17 Siehe Alain Bihr und Roland Pfefferkorn, Déchiffrer les inégalités, Paris (Syros), 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Christian de Brie