13.10.1995

Die neuen Gesetzestafeln

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Die neuen Gesetzestafeln

Von

RICCARDO

PETRELLA *

SEIT etwa zwanzig Jahren gibt es neue Gesetzestafeln, die sich nach und nach in der gesamten Menschheit durchsetzen, ja man kann sagen, daß ein neuer Bund geschlossen wurde. In der christlichen Zivilisation war der „alte“ Bund ein Vertrag zwischen Gott und dem Menschen, in dessen Zentrum der Gedanke der Liebe stand: So wie Gott die Menschen (seine Kinder und Geschöpfe) liebte, sollten diese auch ihn (den Vater und Schöpfer) und sich selbst untereinander lieben („Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“). Hier behielt der Mensch seine ganze Freiheit. Er konnte sündigen. Gott, der allmächtige Vater, war barmherzig, er konnte vergeben.

Die heutigen Gesetzestafeln hingegen besiegeln den Bund zwischen dem Markt (sowie der Technologie) und der Menschheit. Der Markt ist der große Regulator des Wirtschaftslebens, der Führer der Menschen und der Gesellschaften, die sich in Zukunft zu fügen haben. Wir müssen, sagt man uns, „auf die Mechanismen des Marktes vertrauen“1, dessen Hauptantriebsfeder der Preis ist, der ständigen Schwankungen unterliegt, die aus dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt resultieren sowie aus den technologischen Innovationen, deren Zwängen und Notwendigkeiten sich niemand entziehen kann.

Hier besteht die Freiheit, die der Markt dem Menschen gewährt, einzig darin, sich zu unterwerfen. Tut er es nicht, sündigt er also, wird ihm nicht vergeben. Er wird schlicht und einfach eliminiert – vom Arbeitsmarkt, vom Warenmarkt, vom Kapitalmarkt ... Die neuen Gesetzestafeln feiern die Idee eines Wettbewerbs zwischen allen Menschen, allen Gesellschaftsgruppen und allen territorialen Gemeinschaften (Städten, Regionen, Staaten), denn, so verkünden sie, es gibt kein individuelles oder kollektives Heil ohne die Eroberung von Markt- und vor allem Weltmarktanteilen.2

Dem amerikanischen Beispiel folgend, haben die maßgeblichen Kreise Japans und der Länder der Europäischen Union sich nach Kräften bemüht – besonders seit den achtziger Jahren und der Schaffung des Gemeinsamen Marktes –, diese Ideen auszuarbeiten und für sakrosankt zu erklären, um sie dann in der ganzen Welt zu verbreiten. Selbst die Führer der Volksrepublik China weisen stolz darauf hin, daß bei ihnen jetzt eine „sozialistische Marktwirtschaft“ herrscht, ein Ausdruck, bei dem der Akzent natürlich auf „Markt“ liegt.

Eine Logik des Krieges

DIE neuen Gesetzestafeln enthalten sechs Gebote. Drei davon sind grundlegende Imperative, aus denen die übrigen drei logisch folgen.

Das erste Gebot betrifft die Globalisierung des Kapitals, der Märkte, der Unternehmen und ihrer Strategien. Obwohl ein relativ junges Phänomen – verglichen mit den altbekannten der Internationalisierung und Multinationalisierung –, wird es doch als unvermeidlich und irreversibel hingestellt3: „Niemand kommt um den Globalisierungsprozeß herum“, erklärte kürzlich Bachrum Harahap, Staatssekretär für die Entwicklung der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit Indonesiens. Ihm zufolge geht die Globalisierung der Produktion, der Telekommunikation, der Verkehrsnetze und der Stromversorgung mit einer Logik des Kriegs einher, denn „wenn es darum geht, Investoren ins Land zu holen, ist es wie im Krieg: töten oder getötet werden“4. Nie kommt es den Verkündern dieser Lehre in den Sinn, daß es auch andere Globalisierungsformen der Wirtschaft geben könnte, zwischen denen man den Gesellschaften die Wahl lassen sollte.

Das zweite Gebot resultiert aus den „wissenschaftlich-technischen Revolutionen“, die es in den letzten dreißig Jahren auf den Gebieten der Energie, der Materialforschung, der Gentechnologie und vor allem der Information und Kommunikation gab. Auch hier muß man sich möglichst schnell umstellen, denn eine von Grund auf neue Gesellschaft ist im Entstehen: die Informationsgesellschaft. Und nur wer hier den Anschluß nicht verpaßt, wird mit Wirtschaftswachstum und hoher Beschäftigungsrate das 21. Jahrhundert erreichen.5 Doch die permanente technologische Innovation, die hauptsächlich der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf den kaufkräftigen, aber nur schwach oder gar nicht wachsenden Märkten der Welt dient, betrifft eher die Herstellungsverfahren als die Produkte, was letzten Endes einen weiteren Personalabbau zur Folge haben wird. Das versprochene Heil ist nur wenigen vorbehalten.

Das dritte Gebot verlangt, daß man konkurrenzfähig bleibt: Ihr müßt die Besten, die Stärksten, die Gewinner sein; seid ihr es nicht, werden andere es sein, und ihr seid aus dem Rennen. Sich dieser Pflicht zu beugen, bleibt keinem erspart, denn sie betrifft, so wird behauptet, nicht nur die Unternehmen, sondern ebenso die Nationen, Städte und Regionen, die Universitäten und Ministerien. Ginge es nach François Perigot, dem ehemaligen Präsidenten des Nationalrats der französischen Arbeitgeberschaft (CNPF) und derzeitigen Präsidenten der europäischen Arbeitgeberorganisation Unice, müßte das Ziel einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auf den Weltmärkten sogar in den EU-Vertrag aufgenommen werden, der auf der Gipfelkonferenz 1996 neu ausgehandelt wird, – als zweites satzungsmäßiges Ziel der Europäischen Union!6

Das vierte Gebot ergibt sich aus den drei ersten: Die nationalen Märkte müssen liberalisiert werden, um einen schrankenlosen Weltmarkt zu schaffen, auf dem Waren, Kapitalien, Dienstleistungen und Personen frei zirkulieren können. Jede Form „nationaler“ Protektion ist daher als häretisch zu verurteilen. Hier darf es weder Interessen der Gesellschaft noch einen souveränen Volkswillen geben.

Daraus läßt sich zwanglos das fünfte Gebot ableiten: die notwendige Deregulierung aller Steuermechanismen der Wirtschaft. Es ist nicht Aufgabe der Bürger oder ihrer gewählten Repräsentanten, das heißt letztlich des Staats, auf diesem Gebiet Normen und Prinzipien festzulegen. Erst recht steht es ihnen nicht zu, in regelmäßigen Abständen das Tun und Treiben der Wirtschaft auf transparente Weise zu evaluieren. Das muß man schon den Produzenten, Verbrauchern und Bankiers überlassen. Der Staat hat nur möglichst günstige Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu schaffen, damit diese dann die Spielregeln festlegen und ungehemmt dem Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit folgen können. Der Staat soll zu einem bloßen Gerichtsschreiber werden, der die Entscheidungen festhält, die andere getroffen haben, und gegebenenfalls darf er das Schiedsrichtertrikot überstreifen, um einen Spieler zurückzupfeifen, der sich einen Regelverstoß hat zuschulden kommen lassen.

Das letzte Gebot schließlich, das die Krönung aller anderen bildet, besagt, daß ganze Wirtschaftszweige privatisiert werden müssen: städtischer Nahverkehr, Eisenbahnen, Luftverkehr, Gesundheit, Krankenhäuser, Erziehung, Banken, Versicherungen, Kultur, Wasser-, Strom- und Gasbetriebe, Verwaltungsbehörden und so weiter.

Die konsequente Anwendung dieser Gesetzestafeln in Europa und auf den anderen Kontinenten wird sich überall verheerend auf die Grundlagen des individuellen wie des kollektiven Lebens auswirken und tut es bereits heute. Je mehr man die Zukunft unserer Gesellschaften dem freien Markt überläßt, desto mehr wird die Welt zum Schauplatz eines gnadenlosen Wirtschaftskriegs, in dem Individuen, Gesellschaftsgruppen, Städte, Länder und Kontinente, die kaum oder gar nicht wettbewerbsfähig sind, beiseite gedrängt und im Stich gelassen werden, wie der Fall Afrika bereits zeigt.

Im Dienst der kaufkräftigen Märkte

NACHDEM es den sozialen und politischen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts im Westen geglückt ist, dem Anspruch des Marktes, Wirtschaft und Gesellschaft zu steuern, strukturelle Grenzen zu setzen, werden die neuen Gesetzestafeln eine irreversible Ungleichheit zwischen den Menschen herbeiführen. Wissenschaft und Technologie werden nunmehr vorrangig als Waffen eingesetzt, um „Konkurrenten auszuschalten“ und um Waren und Dienstleistungen anzubieten, die nur dazu bestimmt sind, die bereits gestillten Bedürfnisse der Konsumenten der kaufkräftigsten Märkte neu anzustacheln (jüngstes und besonders drastisches Beispiel: das enorme Kapital, das in die Datenautobahnen investiert wird). Das soziale Klima wird schwere Schäden davontragen, denn in der Logik der sechs Gebote liegt es nicht, Arbeitsplätze oder gar Vollbeschäftigung zu schaffen, sondern einzig und allein, neue Profitquellen zu erschließen.

In einigen Teilen der Welt wird es zwar begrenzten Bevölkerungsschichten gelingen, ihr Schäfchen ins trockene zu bringen, aber jedes globale Projekt im Dienste des Menschen wird auf Jahrzehnte unmöglich. Auf dem alten Kontinent läßt sich so etwas wie ein spezifisches Gesellschaftsmodell kaum noch erkennen. Dieses Europa, einst als glückliches Wagnis erträumt, ist es nicht mehr wert, anderen als Muster hingestellt zu werden. Denn wenn man von den verdienstvollen sozialen Aktionen der regierungsunabhängigen Organisationen absieht, hat das Europa der „Wettbewerbsfähigen“ den Langzeitarbeitslosen, den Jungen, den Schwachen, den Einwanderern und so weiter weder Vorschläge noch Vorbilder zu bieten.

Doch sollte man auch nicht den wachsenden Unmut und Widerstand übersehen, den diese neuen Gesetzestafeln provozieren. Noch ist er schwach und auf Randgruppen beschränkt, aber er läßt immerhin Hoffnung schöpfen.

dt. Andreas Knop

1 Bangemann-Bericht vom 26. Mai 1994, Brüssel (Europäische Kommission).

2 Vgl. Riccardo Petrella, „L'évangile de la compétitivité“, Le Monde diplomatique, September 1991.

3 Zur Globalisierung als einem neuen Phänomen vgl. das Buch der Lissabon-Gruppe, „Limites à la compétitivité“, Paris (La Découverte) 1995.

4 Nachzulesen in dem Artikel von Kevin Murphy im International Herold Tribune vom 14. September 1995.

5 So die Thesen des Europäischen Runden Tisches der Industriellen (European Round Table), dargelegt in La Compétitivité de l'Europe: passage obligé pour la croissance et l'emploi, Brüssel (ERT), 1994, und des Weißbuchs der Europäischen Kommission, Croissance, compétitivité, emploi, Luxemburg (Office des publications des Communautés européennes), 1994.

6 Laut Agence Europe, Brüssel, September 1995.

* Professor an der Katholischen Universität Löwen.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Riccardo Petrella