Eine Welt ohne Visionen
Von IGNACIO RAMONET
PÜNKTLICH zur Jahrtausendwende macht sich Ratlosigkeit breit. Wohin man blickt: Die Fundamente des Staats und der Gesellschaft wanken. Derzeit steht die ganze Welt unter dem Schock des unerwarteten Zerfalls der politischen Nachkriegsordnung. Im Westen haben das Ende des Kalten Kriegs und der Zusammenbruch der Sowjetunion das gesamte Wertesystem erschüttert, das seit der Aufklärung gültig war. Wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht; denn immer größer wird der Abstand zwischen unseren begrifflichen Mitteln und dem, was es zu begreifen gilt. Bleibt uns etwa nun, nachdem alle Gewißheit und jede gemeinsame Vision verschwunden sind, nichts anderes übrig, als uns mit jener „Entzauberung der Welt“ abzufinden, von der schon Max Weber sprach?
Überwältigende technologische Umwälzungen, permanente ökonomische Instabilität und eine nicht abreißende Kette von Umweltkatastrophen drohen die Welt ins Chaos zu stürzen. Ein heilloses Durcheinander hat sich breitgemacht. Die Folgen sind offensichtlich: ein sprunghafter Anstieg der Ungleichheit, eine ungekannte soziale Kälte, neue Formen der Armut und der Ausgrenzung, Politikverdrossenheit und Irrationalismus, Nationalismus, Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit, begleitet von einem neuerwachten Interesse an ethischen Fragestellungen.
Zwei Paradigmen beherrschen das Denken in diesen Zeiten der Desillusionierung. Das erste ist das der Kommuniktion1, ein Begriff, der allmählich die zweihundert Jahre gültige Idee des Fortschritts verdrängt. Diese Entwicklung untergräbt nachhaltig den gesellschaftlichen Auftrag der politischen Macht. Daher der so zentrale und immer erbittertere Wettlauf zwischen Politik und Massenmedien.
Das zweite wesentliche Paradigma ist das des Marktes. Alles soll künftig nach den Wirkungsgesetzen dieses Allheilmittels funktionieren. Nicht mehr die Gesetze der Natur und der Geschichte werden die Entwicklung der Gesellschaften erklären, sondern die „Gesetze“ des Marktes. Allen voran die Strukturgesetze der Finanzmärkte: Sie arbeiten weltumspannend, rund um die Uhr, unmittelbar und immateriell – und bilden somit die Speerspitze der Globalisierung, jenes entscheidenden Phänomens unserer Zeit.
Im Zentrum dieses Systems steht das Geld. „Alles dreht sich ums Geld“, sagt der Wirtschaftsexperte Michel Beaud, „Anstatt uns den in Not geratenen Menschen zuzuwenden, was bitter nötig wäre, verwenden wir all unsere Kraft und unseren Einfallsreichtum aufs Geld. Noch nie war das Geld in ähnlichem Ausmaß Leitgedanke, ja, höchstes Gut: Es hält uns in Bann und blendet uns.“2
Zufall, Ungewißheit und Instabilität sind die Parameter, an denen sich die neue Harmonie einer Welt ablesen läßt, in der Armut, Analphabetentum, Gewalt und Krankheiten immer mehr um sich greifen. Einer Welt, in der das reichste Fünftel der Bevölkerung über 80 Prozent aller Geldmittel verfügt, das ärmste dagegen über knapp 0,5 Prozent... Einer Welt schließlich, in der die Summe der Transaktionen auf den Finanzmärkten etwa das Fünfzigfache des Werts der Waren beträgt, die im internationalen Handel umgesetzt werden ...
UNSER Herr und Meister, der Markt, der gebannt seine Termingeschäfte und schnellen Profite verfolgt, ist nicht in der Lage, an die Zukunft der Menschen und der Umwelt zu denken, das Wachstum der Städte planmäßig zu lenken oder etwas gegen den sozialen Bruch zu unternehmen. „Reichtum ist mehr als bloß ein hohes Pro-Kopf-Einkommen“, sagt heute selbst Ralf Dahrendorf, nachdem er so lange das Hohelied des Marktes gesungen hat. Seiner Meinung nach müßte der Reichtum vielmehr die Gesamtheit der Bedingungen berücksichtigen, die zu einem guten Leben beitragen. Die Ausgrenzung sei nicht nur ökonomisch schädlich, sondern zudem gesellschaftlich brisant und politisch explosiv.3
Viele Bürger suchen trotzdem weiter nach Sinn und Werten. Irgendwie spürt jeder, daß ein Ziel vonnöten wäre, eine große gemeinsame Vision. Denn, wie der Philosoph Jean-Luc Nancy feststellt, „sonst haben wir eines Tages, wenn das Fieber der technischen, sozialen und geopolitischen Umwälzungen vorbei ist, kein Subjekt der Geschichte, und also niemanden mehr, der den Lauf der Dinge aufhalten könnte“4. Wie soll man Ordnung in eine Welt bringen, die an allen Ecken und Enden aus den Fugen gerät? Mit welchen geistigen Werkzeugen soll man sie begreifen? Welcher Logik gehorchen die derzeitigen Veränderungen?
An Informationen mangelt es nicht, im Gegenteil, ihr Umfang nimmt von Jahr zu Jahr rapide zu. Überdies bieten der multimediale Beschuß und die weltweite Vernetzung völlig neue Möglichkeiten für eine schöpferische Freizeitgestaltung und einen spielerischen Umgang mit unseren Kenntnissen. Eine neue Welt kündigt sich an, in der Tat ... Doch schon schlägt der Markt mit geballter Kapitalkraft zu – denken wir an die jüngst erfolgten Megafusionen von Time Warner mit Turner Broadcasting System und Walt Disney mit ABC – und stellt alles, was das kulturelle Leben bereichern könnte, in den Dienst des Profits.
In Frankreich, wo es drei Millionen Arbeitslose und eine Million Empfänger von Wiedereingliederungsgeldern gibt – alles in allem fünf Millionen Ausgegrenzte –, dämmert es immer mehr Menschen, daß es mit den Zeiten des Geschichtsoptimismus vorbei ist, daß die Welt, auf die wir zutreiben, eine Welt der Tragödien und Katastrophen sein wird. Die Politiker werden der Probleme offensichtlich nicht mehr Herr, und im Volk beginnt es langsam wieder zu gären ...
1 Vgl. hierzu „Médias et contrôle des esprits“, Manière de voir Nr. 27, September 1995.
2 Le Monde, 6. September 1994.
3 La Repubblica, 21. September 1995.
4 Le Monde, 29. März 1994.