10.10.2003

Karriere und andere Kleinigkeiten

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Karriere und andere Kleinigkeiten

NACH einer Welle von Unternehmensfusionen und -übernahmen haben die zehn größten Pharmakonzerne die Hälfte des Weltmarkts für Arzneimittel unter ihrer Kontrolle. Und nach wie vor sterben im Süden viele Menschen, weil sie sich teure Medikamente nicht leisten können oder weil es bis heute keine wirksame Behandlung gibt. Die Menschen im Norden dagegen nehmen eher zu viele Medikamente ein, trotz häufig unerkannter Nebenwirkungen und Spätfolgen. Der Macht der Pharmakonzerne kann das nichts anhaben. Sie arbeiten mit allen Mitteln, einschließlich der alltäglichen Bestechung von Ärzten, die mal einen Computer, mal die Reise zum Formel-1-Rennen in Monte Carlo bezahlt bekommen.

Von PHILIPPE RIVIÈRE

Wann immer eine politische Bestechungsaffäre eine Schlagzeile verspricht, fährt die Presse auf das Thema ab. Wenn aber ein Pharmagigant Gegenstand polizeilicher Ermittlungen ist, hüllt sie sich in dezentes Schweigen – wie jetzt im Fall der italienischen Tochter von Glaxo SmithKline (GSK). Gegen 37 Angestellte von GSK-Italien und 35 Ärzte wird wegen Korruptionsverdachts ermittelt. 80 Handelsvertreter stehen im Verdacht, an insgesamt 2 900 Ärzte Geld überwiesen zu haben, damit sie nicht die billigeren Generika, sondern GSK-Produkte verschreiben. Mit Ausnahme des British Medical Journal (BMJ) und des Londoner Guardian (vom 13. Februar 2003) hielt keine Zeitung den Fall für erwähnenswert. Dabei entdeckte die Polizei im Laufe ihrer Ermittlungen das ausgetüftelte EDV-System „Giove“ – das ist der italienische Name für Jupiter – mit dem die GSK-Vertreter anhand der Apotheken-Bestellungen die Verschreibungspraxis der bestochenen Ärzte überwachen konnten.

Wie das BMJ berichtet, haben die Ermittler Telefonmitschnitte von insgesamt 13 000 Stunden Länge ausgewertet. Sie deuten auf einen engen Zusammenhang zwischen der Verschreibungspraxis der Ärzte und der ihnen gewährten Geschenke hin, darunter „Arztreisen“ zum Formel-1-Rennen in Monte Carlo oder in die Karibik und Barzahlungen von bis zu 1 500 Euro.

Im April 1993 unterzeichnete Dr. Nancy Olivieri vom Kinderkrankenhaus in Toronto einen Forschungsvertrag mit Apotex Research Inc. über eine neue Substanz namens Deferipron, die bei Thalassämie-Patienten (also bei erblich bedingter Blutarmut) die Eisenausscheidung fördert und damit einer Schädigung der inneren Organe verbeugt.

Dass dieser „Fall“ acht Jahre später Gegenstand einer 500-seitigen Untersuchung werden sollte, hätte sich die Ärztin damals nicht träumen lassen. Zwei Jahre nach Beginn der Versuchsbehandlungen und der Veröffentlichung erster ermutigender Ergebnisse befürchtete Nancy Olivieri, das Medikament könnte bei manchen Patienten die Leberfibrose verschlimmern. Sie beschloss, ihre Patienten eine auf diese mögliche Nebenwirkung hinweisende Einverständniserklärung unterschreiben zu lassen. Als sie das Papier ihren Vorgesetzten zur Bewilligung vorlegte, kündigte die Pharmafirma den Forschungsvertrag. Und sie drohte der Ärztin mit gerichtlichen Schritten, falls sie die Verschwiegenheitsklausel, die sie unvorsichtigerweise unterschrieben hatte, verletzen sollte. Doch Nancy Olivieri ließ sich nicht einschüchtern. Sie fühlte sich ihren Patienten verpflichtet und stellte ihre Forschungsergebnisse auf einer wissenschaftlichen Tagung vor.

Es folgten sechs Jahre juristischer und beruflicher Drangsalierung, aber Olivieris Hartnäckigkeit zahlte sich aus, das Gericht gab ihr am Ende Recht. Sie konnte ihren Dienst wieder aufnehmen und erhielt für die sechs verlorenen Forschungsjahre eine Entschädigung. Und sie konnte die EU-Kommission dazu bewegen, die Marktzulassung für Deferipron zurückzuziehen.

Roselyne bekam wegen einer akuten Mittelohrentzündung ein Antibiotikum der „dritten Generation“ verschrieben. Zwei Tage später lag sie mit beunruhigend niedrigem Blutdruck im Bett. Sie konsultierte einen anderen Allgemeinmediziner, der „mit diesem Antibiotikum bereits schlechte Erfahrungen“ gemacht hatte und ihr empfahl, das Medikament abzusetzen. Nach zwei Tagen war Roselyne wieder bei Kräften. Ein gottlob harmlos verlaufener Fall, bei dem auch nicht nachzuweisen ist, dass er mit dem Medikament zusammenhing. Doch Ärzte haben ohnehin keine Möglichkeit, ihre Beobachtungen weiterzugeben. Dabei haben sie seit Einführung der Sésame-Vitale-Karte (die der deutschen Krankenversicherungskarte entspricht) jede Leistung per Internet an die französische Krankenversicherung zu melden. Eine Webseite, die solche Beobachtungen sammelt, gibt es jedoch nicht.

Die Aids-Selbsthilfegruppe „Act-up Paris“ bemängelt seit Jahren, dass kein Geld da ist, um die Dosierung bei der Tritherapie von Frauen genauer einzustellen (die Testpersonen bei den bisherigen Versuchsreihen waren hauptsächlich Männer). Nach der aktuellen Gesetzeslage ist kein Unternehmen verpflichtet, seine Produkte nach der Marktzulassung kontinuierlich zu evaluieren oder eine gewisse Anzahl von behandelten Patienten zu überwachen. Finanziert wird daher nach der Marktzulassung vor allem, was „verkaufensfördernd“ wirkt.

„Uns lassen die Pharmafirmen völlig in Ruhe, wir sind nicht interessant für sie“, meint ein Redakteur der Zeitschrift L’Infimière ironisch. „Unsere Leser gehören weder zum Kreis der Arzneimittelkonsumenten noch zu den verschreibenden Ärzten. Das hat zumindest den Vorteil, dass wir frei über die Themen schreiben können, die uns interessieren: über die Beziehung zum Patienten, über die Lage der Krankenhäuser in der Dritten Welt, über die Schwierigkeiten im beruflichen Alltag.“ Die meisten medizinischen Fachzeitschriften sind voll von Werbeanzeigen – und aus diesen Zeitschriften beziehen die Ärzte ihre wesentlichen Informationen und damit ihre Weiterbildung.

Die Pariser Journalistin Suzanne ging nach Südengland, um als freie Mitarbeiterin ihr Brot zu verdienen – was sich als unerwartet schwierig herausstellte. Doch dann erhielt sie per E-Mail ein verlockendes Angebot: „Wir würden uns freuen, wenn Sie an der Ärztetagung in London am 22. Januar teilnehmen und einen Artikel für die französische Presse schreiben würden. Ziel ist, die Öffentlichkeit über eine verbreitete, aber relativ unbekannte Krankheit zu informieren und die neuesten therapeutischen Fortschritte auf diesem Gebiet vorzustellen.“ Es folgte eine detaillierte Beschreibung der angeblichen Krankheit sowie der hervorragenden Erfolge der neuen Behandlungsmethode. „Da wir wissen, dass Sie die Veröffentlichung Ihres Artikels nicht garantieren können, würden wir Ihnen 500 Pfund überweisen, wenn Sie an der Tagung teilnehmen, einen Artikel schreiben und ihn zum Beispiel an Agence France Presse, Le Monde und den Quotidien du Médecin schicken würden.“ Die verblüffte Journalistin bittet um nähere Informationen. „Wir versichern Ihnen, dass dies gängige Praxis ist: Es werden zehn britische Journalisten und vier aus Skandinavien anwesend sein.“ In der Anlage des Schreibens fand sich der Artikel eines Kollegen – nur so als Beispiel. „Sollte es Ihnen gelingen, Ihren Artikel tatsächlich unterzubringen, wäre es für uns natürlich leichter, Sie auch ein nächstes Mal wieder einzuladen.“

Neben Zeitungsartikeln dürfte auch so manches Buch auf diese Art und Weise „gefördert“ werden. Im Nouvel Observateur vom 21. August 2003 hieß es beispielsweise: „Offenbar wurde Robert Wilson, der Autor von ‚Feminine Forever‘, von Wyeth-Ayerst gesponsert. Der Östrogenhersteller finanzierte nicht nur die Publikation von Wilsons Bestseller, sondern auch die in der Park Avenue ansässige ‚Wilson Research Foundation‘.“ Wilson hatte in dem 1968 erschienenen Buch dafür geworben, gegen Beschwerden in den Wechseljahren Östrogenersatzpräparate zu verabreichen, die heute im Verdacht stehen, Krebs zu erregen.

Martin Winckler, Allgemeinmediziner und Romanautor, hat zu allem und jedem eine Meinung und tut diese auch allwöchentlich über den Radiosender France Inter kund. Am 15. Mai 2003 wagte er es, ein Buch des ehemaligen Pharmamanagers Philippe Pignarre zu erwähnen, in dem dieser die aktuelle Krise der Branche beschreibt: Die Entwicklungsaussichten für neuartige Therapien würden sich verschlechtern, was die bisher außergewöhnliche Rentabilität der Branche auf Dauer gefährde. Die Hiobsbotschaft passte schlecht zur Werbeinformation „Forschungsfortschritte für ein besseres Leben“, die der französische Arbeitgeberverband der Arzneimittelhersteller (LEEM) zur gleichen Zeit ausstrahlen ließ. Am 4. Juli sendete „France Inter“ an Stelle von Wincklers Sendung ein musikalisches Intermezzo, kommentarlos. Eine Woche später bekam der LEEM Gelegenheit, die „unbegründeten Anschuldigungen“ des Kommentators mit einer „Gegendarstellung“ zu erwidern.

Als George W. Bush zu entscheiden hatte, wer den mit 15 Milliarden Dollar in fünf Jahren ausgestatteten US-Fonds zur Aidsbekämpfung leiten soll, fiel seine Wahl auf Randall Tobias, den ehemaligen Generaldirektor des US-Pharmariesen Eli Lilly. Die Fachzeitung The Lancet kommentierte die Entscheidung am 12. Juli 2003: „Tobias’ Verbindungen zur pharmazeutischen Industrie geben zu Befürchtungen Anlass: Wird er sich für kostengünstige Generika einsetzen oder die Interessen der US-Firmen wahrnehmen und nur patentierte Versionen kaufen?“

Das dreijährige Tauziehen um die Pharmapatente, das einige Länder des Südens mit den USA, der EU und Japan (88 Prozent des weltweiten Pharmakonsums) veranstalteten, endete kurz vor dem WTO-Gipfel von Cancún mit einem Sieg von „Big Pharma“. Federführend war der US-Konzern Pfizer. Vom Tisch ist das Problem damit jedoch noch lange nicht.

Automatisch bessere Lebensqualität

DIE Abstimmung im Repräsentantenhaus am 23. Juli 2003 wurde in Washington mit Spannung erwartet. Der Gesetzentwurf sah Importgenehmigungen für Arzneimittel vor, die im Ausland billiger verkauft werden als in den USA. Die Fronten verliefen quer durch die Parteien: 87 Republikaner und 155 Demokraten votierten gegen die Interessen der Pharmakonzerne. Immerhin sind gängige Arzneimittel wie Augmentin in den Vereinigten Staaten bis zu dreimal so teuer wie in Europa. Steven Weiss, der Herausgeber des Newsletters CapitalEye.org, hat ausführlich recherchiert, wie die US-Parteien ihre Wahlkampfspenden organisieren. Er kann die Herausbildung der Pro- und Contra-Lager problemlos rekonstruieren: Wer zwischen 1989 und 2002 in seinem Abstimmungsverhalten die Interessen der Pharmaindustrie vertrat, erhielt aus deren Kreisen für seinen Wahlkampf durchschnittlich dreimal so viel Geld wie Volksvertreter, die sich gegen diese Interessen aussprachen.

In den Slogans der Arzneimittelwerbung dient pharmakologische Forschung stets automatisch der „Verbesserung der Lebensqualität“. Worin der Zusammenhang zwischen dem Bedarf an Gesundheitsleistungen und der Neuentwicklung bestimmter Medikamente tatsächlich besteht, wird kaum je hinterfragt. Tropenkrankheiten zum Beispiel stehen seit der Entkolonialisierung einfach nicht mehr auf der Prioritätenliste. Sind die Fortschritte bei Behandlungsmethoden, mit denen die Pharmaunternehmen den Großteil ihrer Einkünfte erwirtschaften, nicht Ergebnis von Investitionen, die letztendlich die Allgemeinheit finanziert? Für welche dringend notwendigen, aber unprofitablen Forschungen ist kein Geld da, weil man alles in die Werbung für die Medikamente steckt, die einen Jahresumsatz von einer Milliarde Euro und mehr erzielen?

Verantwortlich für Fehlentwicklungen ist zu einem guten Teil der Staat, der die Ärzte zwar ausbildet, sie dann aber sich selbst überlässt. Die Pharmalobby hingegen setzt bei der Einführung oder Erprobung neuer Präparate oder Methoden skrupellos auf Erpressung und Einschüchterung. Und der Patient kann sich ohnehin keine fundierte Meinung bilden. Die geplante EU-Gesetzgebung zur direkten Verbraucherwerbung könnte hier für noch mehr Unsicherheit sorgen.

Zur Begründung, warum sie sich aus dem Thema Gesundheit und soziale Sicherung immer mehr heraushält, verweist die Politik gern auf die notorisch knappen Finanzen. Dabei gibt es durchaus Vorschläge, wie sich Patienten und Ärzte bei der Gesundheitspolitik einschalten können: Die Aidskranken haben vorgemacht, wie das geht. Vor allem aber gilt es, die Denkverbote aufzubrechen, die von der Pharmaindustrie mit unlauteren Mitteln errichtet wurden, indem sie Karrieremöglichkeiten für willfährige Wissenschaftler sponsert und deren unbotmäßige Kollegen mundtot macht; indem sie sich das Wohlwollen und die Mittäterschaft mancher Medien erkauft; indem sie die „guten Verschreiber“ hofiert und Ärzte, die an bewährten Medikamenten festhalten, als „rückständig“ denunziert.

Die Pharmaindustrie hat mit ihrer Gedankenpolizei alle fest im Griff – Praxisärzte wie Arzneimittelvertreter, Apotheker wie Chefärzte. Sie trägt damit die Hauptverantwortung dafür, dass die kleine alltägliche Korruption den Gesellschaftsvertrag über den Schutz der öffentlichen Gesundheit längst ausgehöhlt hat.

deutsch von Bodo Schulze

Le Monde diplomatique vom 10.10.2003, von PHILIPPE RIVIÈRE