Das Gedächtnis der Landschaft
AM 12. Oktober 1492 landete Christoph Columbus in Guanahani, auf den heutigen Bahamas. Damit hatte Europa die Verbindung zu Amerika, der Neuen Welt, aufgenommen. 450 Jahre später, am 2. Dezember 1942, löste der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs aus Italien geflüchtete Atomphysiker Enrico Fermi an der Universität Chicago die erste atomare Kettenreaktion aus. In einem Telefonat zwischen Chicago und Washington wurde die Erfolgsmeldung – spontan verschlüsselt – durchgegeben: „The Italian navigator has landed in the New World.“ Rückfrage: „How were the natives?“ Antwort: „Very friendly.“
Fermis Experiment war Teil des Manhattan Project. Es war der Anfang der Atombombenversuche in Los Alamos. Die Bombe wurde auf dem Versuchsgelände bei Alamogordo, New Mexico, getestet und am 6. August 1945 über Hiroschima abgeworfen. Die Generalprobe für die erste Zündung einer Atombombe hatte den Codenamen Trinity-Test, den Robert Oppenheimer sich in Anspielung auf ein John-Donne-Sonett hatte einfallen lassen. Nach der gigantischen Explosion zitierte Oppenheimer eine Zeile aus der Bhagawadgita: „Now I am become death: the destroyer of worlds.“ Der Test fand in einer Wüstenlandschaft statt, der die spanischen Eroberer 400 Jahre zuvor den Namen Jornada Del Muerto – Reise des Toten – gegeben hatten.
Am 16. Juli 1945, um 5 Uhr, 29 Minuten und 45 Sekunden, war die Welt eine andere. Innerhalb von 48 Stunden wurde sie von einer Explosionswolke umrundet, die „wie eine Prophezeiung“ wirkte (Reg Saner). „Trinity“ war nicht nur das Signal für die Schrecken von Hiroschima und Nagasaki, es markierte auch den Beginn der Tests von Atomwaffen und deren Weiterverbreitung: Seitdem haben weltweit über 2 000 solcher Tests stattgefunden.
Für die Planung und Produktion, für Testexplosionen und Weiterentwicklung dieser Waffen waren riesige Flächen erforderlich. In den USA liegen die meisten dieser Anlagen im Westen, historisch gesehen die „New Frontier“ der Pioniergesellschaft, des „amerikanischen Traums“ auf Kosten der ursprünglichen Bewohner. In allen Berichten, ob von der Eroberung, vom Manhattan Project oder vom Kalten Krieg, besteht die gleiche haarsträubende Gleichgültigkeit gegenüber dem Land und seiner Bevölkerung.
Im Naturschutzgebiet Palos Forest, 20 Meilen südöstlich von Chicago, gibt es eine große Waldlichtung: Plot M, das erste Atommülllager der Welt. Hier lagern, im Boden vergraben, die Abfälle der Chicagoer Sektion des Manhattan Project. In der Wüste Nevada, in dem 320 Quadratkilometer großen ausgetrockneten See namens Frenchman Flat und im Yucca Flat proben die Vereinigten Staaten seit 1951 den Dritten Weltkrieg.
Weiter südlich, im Snow Canyon von Utah, wo John Wayne einst die Rolle des Dschingis Khan spielte, enthält der rote Sand noch Spuren von radioaktiven Isotopen – Erinnerung an die überirdischen Atombombentests. In dem wüstenähnlichen Colorado Plateau, wo Ende der 1940er-Jahre mit dem Uranabbau begonnen wurde, erinnern noch heute Hunderte von aufgelassenen Minen und Stollen an den Uranboom. In den Staaten der Great Plains, in denen noch vor weniger als 200 Jahren tausende von Bisons lebten, lagern Atomsprengköpfe in den Silos am Rand der Prärie. Die Atomwaffen haben unser Verhältnis zur Natur nachhaltig verändert. Und diese Veränderung hat ganzen Landstrichen ihren Stempel aufgedrückt.
MARK RUWEDEL