Chruschtschow, der Stalinist
ES gibt bereits zahlreiche interessante Chruschtschow-Biografien, vor allem die von Edward Crankshaw („Der rote Zar. Nikita Chruschtschow“, 1967) und von Mark Frankland. Doch Crankshaw und Frankland schrieben ihre Bücher zur Zeit des Kalten Kriegs. In England erschien soeben eine Biografie des Russland-Kenners William Taubman. Ihm war es möglich, heute, im postsowjetischen Russland, die Geheimakten und Parteiprotokolle einzusehen und auch in die Ukraine zu reisen, um Zeitzeugen und Familienmitglieder zu befragen. Das Resultat ist erhellend: „Khrushchev. A Man and His Era“ vermittelt all jenen, die in den letzten zehn Jahren die vielen Informationen aus den sowjetischen Archiven nicht verfolgen konnten, ein neues Geschichtsbild.
Von NEAL ASCHERSON *
Mit eigenen Augen habe ich Nikita Sergejewitsch Chruschtschow nur ein einziges Mal gesehen, aber dieses eine Mal war er in Hochform. Hunderttausend Menschen hatten sich in Ostberlin auf einem von Ruinen gesäumten Gelände in der Nähe der Friedrichstraße versammelt, um seine Rede zu hören. Aus weiter Ferne sah ich auf einem rot drapierten Podium eine marionettenhafte Figur in einem sackartigen weißen Anzug; sie fuchtelte mit den Fäusten und brüllte auf die Menge ein.
Chruschtschow hatte sich derart in Rage geredet, dass er die Pausen für den Übersetzer vergaß. Die ringsum aufgetürmten Großlautsprecher verwandelten das russische Geschimpfe in Echosalat. Kein Mensch verstand auch nur ein Wort. Da plötzlich wurde der Sommerhimmel schwarz, als habe selbst der liebe Gott die Geduld verloren. Und schon rollte der Donner, zuckten die Blitze, und dann rauschte der Regen hernieder wie eine Wand. Ich sah, wie die roten Spruchbänder durch das Wasser immer dunkler wurden und in sich zusammensanken, als die Menschen in alle Himmelsrichtungen davonstoben. Dabei hielten sie sich ihr Neues Deutschland oder die durchweichten Flugblätter, auf denen die deutsch-sowjetische Freundschaft gepriesen wurde, schützend über den Kopf. Die Bäume, die aus der Kuppel einer zerbombten Kirche emporwuchsen, bauschten sich unter den Sturmböen auf und bogen sich zur Seite. Doch Nikita Chruschtschow hielt stand. Als ich mich im Wegrennen kurz umblickte, sah ich immer noch den weißen Anzug vor der schwarzen Sturmwolke schimmern, und immer noch flogen die kleinen Knubbelfäuste durch die Luft. Er mochte nur ein Bauernjunge sein, der als Kind barfuß herumgelaufen war und sich die Nase am Hemdsärmel abgewischt hatte, aber das ließ er sich nicht bieten, weder von Gott noch von den Menschen.
Aus der großartigen Biografie von William Taubman habe ich gelernt, dass Chruschtschow im Laufe seines Lebens mehrere solche Szenen widerfuhren. Ein Beispiel ist das große Picknick, das er im Mai 1957 für den Schriftstellerverband veranstaltete – eines der vielen Treffen mit den Moskauer Intellektuellen, das in einem Desaster endete. Nach einer bizarren, vom Wodka befeuerten Schimpftirade stürzte er sich auf Margarita Aliger und blaffte ihr entgegen, sie sei ein „ideologischer Saboteur“. Just als die Dichterin davontaumelte und in Ohnmacht fiel, brach ein Gewitter los und das Festzelt fiel unter einem gewaltigen Regenguss in sich zusammen. Chruschtschow fand solche Szenen eher erfrischend als deprimierend. Im Unterschied zu Stalin war er nicht paranoid. Er bezog Kraft aus der Vorstellung, dass alle Welt ihn als Emporkömmling behandelte, als Bauerntölpel mit Wurstfingern, dem man es einfach nicht gestatten konnte, Erfolg zu haben. Er würde es allen zeigen! Und so kam es. Seine aggressiven Instinkte waren ungehemmter als die jeder anderen historischen Führerfigur, Napoleon und Hitler eingeschlossen. Und sie saßen so tief, dass er die Welt in den Abgrund treiben konnte, wozu es in der Kubakrise 1962 ja fast gekommen wäre.
Ein rüder, übereifriger kleiner Apparatschik
DIE erste große Frage, die uns Chruschtschow aufgibt, lautet: Wie konnte ein so offensichtlich unberechenbarer und impulsiver Mensch sich bis an die Spitze der sowjetischen Machtpyramide hocharbeiten? Die Antwort lautet, wie Taubman überzeugend zeigt, dass er mit der Zeit gelernt hatte, seine eigenen Schwächen und Mängel als Schutzmechanismen einzusetzen. Chruschtschow wuchs in dem Bauerndorf Kaliowka auf und genoss praktisch keine schulische Ausbildung. Nach der Revolution begann er seine Parteikarriere als Funktionär im Kohlerevier des Donezbeckens, und schon 1928 hatte er es zum Leiter eines Fachressorts im Zentralkomitee der ukrainischen KP gebracht. In seiner Umgebung galt er als rüder, übereifriger kleiner Apparatschik, der ohne groß zu fragen auch brutale Befehle ausführte, der aber ein zu kleines Licht war, als dass er für seine ehrgeizigen Kollegen eine Bedrohung hätte darstellen können. Noch Jahre später, als er bereits in der Moskauer Führungsgruppe war, behandelte ihn Stalin mit einer Mischung aus Sympathie und Herablassung und ließ ihm Fehler durchgehen, die eine imposantere Figur vielleicht nicht überlebt hätte. Einmal tippte Stalin Chruschtschow an den Schädel und meinte ironisch: „Mein kleiner Lenin! Was für ein hohler Kopf!“. Aber gerade dieser Ruf war der beste Schutz, den der aufstrebende Apparatschik sich wünschen konnte. In Wirklichkeit war er ein schlauer und überaus ehrgeiziger Kopf. Und die Genossen, die einem so „unkultivierten“ und naiven Menschen keine Intrigen zutrauten, merkten meist zu spät, dass sie sich getäuscht hatten. Dieser Chruschtschow war ein Clown, aber einer mit sehr tückischen Augen.
1929 wurde er nach Moskau beordert, und zwei Jahre später war er bereits Parteichef der Hauptstadt und auch Parteichef der Region. In seiner Moskauer Zeit trieb er unter anderem den Bau der U-Bahn voran. 1938 wurde er als Parteichef der Ukraine nach Kiew zurückgeschickt, wo er als Stalins „Vizekönig“ fungierte. Um es ganz klar auszudrücken: Chruschtschow hielt sich während der schlimmsten Zeit des „Großen Terrors“ an der Seite Stalins. Damit war er mitverantwortlich für die Verhaftung und den Tod von Millionen Menschen, in manchen Fällen, wenn die Initiative von ihm selbst ausging, war er auch allein verantwortlich. Während seiner Amtszeit als Moskauer Parteichef überlebten von 38 Spitzenbeamten der Stadt und der Region nur 3, von 146 Parteisekretären nur 10, und von 63 gewählten Mitgliedern des Moskauer Parteiausschusses nur 8 Genossen. Als ihm das Politbüro der KPdSU 1937 eine Quote vorgab, wonach er 35 000 „Volksfeinde“ zu verhaften hatte, von denen 5 000 zur Exekution vorgesehen waren, meldete der pflichteifrige Chruschtschow 41 000 Verhaftungen, von denen 8 500 zur„Liquidierung“ bestimmt waren. Ferner beantragte er, die etwa 2 000 Exkulaken, die in der Moskauer Region Zuflucht gefunden hatten, ebenfalls auf die Verhaftungslisten zu setzen. „Zum Wohle des Volkes müssen wir über die Leichen der Feinde gehen“, lautete der Slogan, mit dem er die Schauprozesse gegen die alten Bolschewiki feierte, die er unter anderem als „trotzkistisch degenerierte Elemente“ beschimpfte.
Hier gibt es keine moralische Grauzone. Die Wahrheit liegt auf der Hand und ist nahezu unverdaulich: Derselbe Mann, der Stalins Verbrechen gegen die Kommunistische Partei anprangerte, der die Tore des Gulag aufstieß und zumindest einige der Schuldigen bestrafte, war selbst im gleichen Maße schuldig. Chruschtschow würde heute von jedem internationalen Strafgerichtshof wegen Beihilfe zum Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Nach Stalins Tod 1953 war den meisten Menschen in der Sowjetunion, und erst recht seinen eigenen Genossen und Rivalen in der Parteiführung, durchaus bewusst, welche Rolle er bei den „Säuberungen“ der 1930er-Jahre gespielt hatte. Und schon in der Zeit davor hatte er in der Ukraine während der Kampagne zur Kollektivierung der Landwirtschaft viele Todesurteile unterzeichnet. Trotzdem haben seine Feinde bei all ihren Intrigen, die sie gegen den Nachfolger Stalins inszenierten, niemals den Vorwurf erhoben, dass der Henker des Tyrannen sich selbst zum Richter des Tyrannen ernannt hatte. Warum haben sie ihm das durchgehen lassen? Und wie hat er selbst über seine Vergangenheit gedacht?
Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Alle Männer, die in der Stalin-Ära der Parteiführung angehörten, hatten überlebt, weil sie bereit gewesen waren, Unschuldige in den Tod zu schicken. Manche von ihnen hatten sogar ihre eigenen Ehefrauen oder Kinder denunziert. Persönliche Verantwortlichkeit war also kein Thema; alle hatten Blut an den Händen, auch wenn einige (etwa Berija) besonders viele Menschen umgebracht hatten. Im Grunde war alles nur eine Frage der Macht. Nachdem Stalins Verbrechen vor dem höchsten Gremium der Partei offenbart worden waren, konnte jeder, der genügend Anhänger und bewaffnete Kräfte zu mobilisieren vermochte, zum Kreml marschieren und seine Rivalen wegen Beihilfe zum Mord und wegen ungerechtfertigter Verhaftungen hinter Gitter bringen oder kaltstellen. Chruschtschow hat genau dies getan, zuerst 1957 mit Berija und anschließend mit der „parteifeindlichen Gruppe“ um Malenkow, Molotow und Kaganowitsch.
Komplizierter ist die zweite Frage, welche Entschuldigungen sich Chruschtschow selbst hat einfallen lassen. Taubman spricht in diesem Zusammenhang von einer „erstaunlichen Mischung aus Täuschung und Selbsttäuschung“. Er selbst hat niemals zugegeben, dass er Stalins Befehle aus Angst befolgt hat, obwohl Angst ganz sicher auch im Spiel gewesen ist. (Als Funktionär im Donezbecken hatte er für kurze Zeit einer trotzkistischen Oppositionsgruppe angehört: ein „Fehltritt“, der tausende andere Parteimitglieder das Leben gekostet hat. Irgendwann später hat er diese Episode Stalin gestanden, der diskret dafür sorgte, dass ihm wegen seiner „Beichte“ auf einem Parteikongress Absolution erteilt wurde.) Chruschtschow selbst erklärte schlicht, er sei wie Millionen Menschen „damals guten Glaubens“ gewesen. Taubman meint dazu: „Bis 1935 oder vielleicht auch 1936 war es für jemanden wie Chruschtschow noch möglich, an Stalin zu glauben. Danach war es zu spät, nicht an ihn zu glauben.“ Aus Taubmans Buch wird deutlich, dass Chruschtschows Glaube an Stalins Unfehlbarkeit während des Zweiten Weltkriegs ins Wanken geriet. Er erkannte, dass Stalins strategische Entscheidungen oft irrational waren und dass sie hunderttausende Soldaten das Leben kosteten. Als er dann nach Kriegsende den Wiederaufbau der Ukraine zu organisieren begann, entdeckte er mit ehrlichem Entsetzen, dass die jüngere Generation von Parteifunktionären (die man zum Wiederaufbau dringend benötigte) während der Säuberungen der 1930er-Jahre fast vollständig liquidiert worden war. Er hätte es wissen müssen. Schließlich hatte er Ende der 1930er-Jahre die politische Herrschaft über die Ukraine ausgeübt. Aber offenbar hatte er damals die Augen verschlossen vor dem schieren Ausmaß dessen, was die Geheimpolizei des NKWD im Namen der Partei anrichtete.
In den letzten Lebensjahren Stalins fürchtete Chruschtschow die Einladungen in die Datscha des großen Führers, wo die herrschende Klasse der Sowjetunion nach Stalins Willen langweilige Filme ansehen, zu Grammofonmusik tanzen und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken musste. (Bevor ihn der Ruf nach Moskau ereilte, war Chruschtschow ein strenger Abstinenzler gewesen, und erst Stalin hatte ihn dazu gebracht, die im innersten Parteizirkel herrschende Neigung zu Wodka und Cognac zu teilen). Gleichwohl blieb trotz aller wachsenden Zweifel an der politischen Linie des Führers seine Ehrfurcht vor Stalins „Größe“ unerschütterlich. Dieses Gefühl überdauerte sogar noch die große Rede auf dem 20. Parteikongress von 1956, in der er mit dem Stalinkult abrechnete. Als Beleg verweist Taubman auf den Auftritt Chruschtschows auf dem Plenum des Zentralkomitees im Juni 1957, als er die Genossen anschrie: „Wir alle zusammen sind nicht so viel wert wie Stalins Scheiße!“ Auf diesem ZK-Plenum, auf dem übrigens Chruschtschows Rivalen ausgeschaltet wurden, bekamen die Teilnehmer noch viel mehr Details über die Verbrechen des Stalin’schen Terrors zu hören als auf dem 20. Parteikongress selbst; diese Sitzung wurde denn auch vierzig Jahre geheim gehalten.
Taubman hält Chruschtschows Rede von 1956 für „den mutigsten und riskantesten Schritt, den dieser je unternommen hat“. Und er ist wahrscheinlich zu Recht der Ansicht, dass sich „das sowjetische Regime davon nie wieder ganz erholt hat, und auch er selber nicht“. Von der Sitzung des Parteikongresses, auf dem die Rede gehalten wurde, waren die ausländischen Gastdelegierten ausgeschlossen. Die Sitzung dauerte vier Stunden, und das völlig unvorbereitete Auditorium war danach zutiefst schockiert und erschüttert. Als sich der Text in den darauf folgenden Monaten in aller Welt verbreitete, gerieten einige kommunistische Regime ins Wanken und die kommunistische Weltbewegung war wie gelähmt, weil sie vor der fatalen Alternative stand, entweder dem Glauben an die Unfehlbarkeit Stalins oder dem Glauben an die unfehlbar führende Rolle der KPdSU abschwören zu müssen.
Warum Chruschtschow damals Stalin attackiert hat, wird sich wohl nie eindeutig klären lassen. Aber sicher spielte ein opportunistisches Motiv eine Rolle dabei. Im Kampf um die Nachfolge Stalins war es offensichtlich eine Trumpfkarte, den Diktator und seine Henker als Verbrecher zu verurteilen, und Chruschtschow war nicht der Erste, der diesen Trumpf auszuspielen versuchte. Heute weiß kaum noch jemand, dass der monströse NKWD-Chef Berija nur wenige Wochen nach Stalins Begräbnis ein kurzlebiges Reformprogramm auf den Weg brachte, mit dem er über eine Million politischer Gefangener amnestierte, die Zwangsarbeitslager abschaffte, den Gulag dem Justizministerium unterstellte und das Erzwingen von Geständnissen durch Folter verbieten ließ.
Und doch lag Chruschtschows Handeln mehr zugrunde als das nackte politische Kalkül. Seine Rede vor dem Parteitag verriet einen wirklichen Hass auf Stalin, aber auch Empörung und Wut über das Schicksal der alten Parteigenossen und – wie Taubman vermutet – das ganz persönliche Bedürfnis, „sich wieder als anständiger Mensch zu fühlen“.
Zehn Jahre lang regierte Nikita Chruschtschow die Sowjetunion. Er machte Schluss mit dem allgegenwärtigen Staatsterror, und am Ende seiner Amtszeit durfte das Land hoffen, dass es in Zukunft immer mehr Freiheiten geben würde. Chruschtschow bestand auf einer sofortigen Anhebung des Lebensstandards und verzichtete auf die Stalin’sche Leier von den endlosen Opfern, die das Volk in der Gegenwart für eine ferne Zukunft bringen müsse. Aber er löste keines der grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme des kommunistischen Systems, einige haben sich unter seiner Herrschaft sogar noch verschärft. Er hatte sich schon immer für technologische Spielereien begeistert, zum Beispiel für den völlig abstrusen Plan, Kohlevorkommen noch unter Tage in Gas umzuwandeln, oder für die Entwicklung tödlicher Strahlen zur Bekämpfung der Rattenplage. Vom ersten Tag seiner Regierung an malträtierte er die gesamte Sowjetunion mit seinen sprunghaften Ideen und unausgegorenen Patentrezepten.
Am schlimmsten war es in der Landwirtschaft. Chruschtschow wusste, dass die Kolchosenwirtschaft für die Lebensmittelversorgung des Landes eine Katastrophe war, konnte aber die einzig mögliche Abhilfe nie ins Auge fassen: die Rückgabe des Bodens an die Bauern und finanzielle Anreize für die Herstellung pflanzlicher und tierischer Lebensmittel. Stattdessen wurde viel Zeit und Geld an gigantische Projekte verschwendet, die nur Von-der-Hand-in-den-Mund-Lösungen darstellten. Das galt etwa für ein Programm zur Neulandgewinnung oder für die fixe Idee, den Maisanbau auf dafür nicht geeignete Regionen auszudehnen (bis heute hält die Nikita-Sergejewitsch-Version der bei Touristen beliebten Matroschka-Puppe einen Maiskolben in der Hand), oder die „Düngemittel-Kampagne“ von 1963.
Chruschtschow war von der Rückständigkeit der Bauern zugleich abgestoßen und fasziniert. Sein ganzes Leben lang spielte er mit utopischen Ideen von Agrostädten, einem ganz neuen Siedlungstyp, der die Kluft zwischen Stadt und Dorf überwinden und die alte bäuerliche Kultur für immer abschaffen sollte. Immer wieder stattete er seinem Geburtsort Kalinowka Besuche ab, wobei er den dortigen Bauern neue Betonhäuser spendierte oder ihnen völlig ungeeignete deutsche Karrenpferde aufdrängte, einen neuen Kolchose-Vorsitzenden ernannte oder über die private Schweinehaltung herzog. Aber auch in diesem Dorf veränderte sich das Leben kaum. Und so stieg Nikita Sergejewitsch am Ende seiner Besuche immer wieder in seine Limousine und fuhr in den Kreml zurück, wo er neue Pläne für eine Pipeline entwarf, durch die Milch von 500 000 Kühen nach Kiew fließen sollte.
Was immer er anpackte, es tat es mit dem gleichen krassen Dilettantismus. 1957 tourte er quer durch die Sowjetunion, um seinen neuen Plan für dezentralisierte „regionale Wirtschaftsräte“ unter die Leute zu bringen. 1961 machte er sogar den Vorschlag, die KPdSU in zwei Parteien, und zwar in einen industriellen und einen landwirtschaftlichen Flügel aufzuspalten. Und kurz bevor er im Jahr 1964 entmachtet wurde, schockte er die Partei mit der Idee, dass man die Akademie der Wissenschaften abschaffen solle. All diese Pläne, die für sich genommen nicht alle falsch waren, hatten vor allem eine Wirkung: Sie demoralisierten die Parteiführung und stärkten die Gruppe der Verschwörer, die schließlich – unter der Führung Breschnews – seinen Sturz herbeiführte.
Es gab allerdings auch Zeiten, in denen alles wunderbar zu laufen schien. Der Sputnik umkreiste emsig piepsend die staunende Erde; Juri Gagarin meldete sich lächelnd aus dem Weltraum zurück; die Neuland-Kampagne erbrachte eine Zeit lang eindrucksvolle Getreideernten. 1957 verkündete Chruschtschow seine weitschauendste Vision: Er wollte die Vereinigten Staaten „überholen“, zunächst in der landwirtschaftlichen Produktion und dann auf allen anderen Gebieten. Seit dieser Zeit war er auf die USA und seine persönliche Beziehung zu den Präsidenten Eisenhower und Kennedy fixiert.
Ein Bauernjunge in Hollywood
DABEI schwankte er ständig zwischen echter Begeisterung für die technischen Errungenschaften und die Modernität der US-Amerikaner und fürchterlichen Wutanfällen und Beschimpfungen wie: „Wir werden euch noch unter die Erde bringen“, oder: „Wir können die ganze Welt in Trümmer schlagen.“ Einige seiner Ausbrüche waren genau kalkuliert. Andere brachen aus seinem Innersten hervor, etwa wenn er das Gefühl hatte, ein hochnäsiger Westler wolle den ungebildeten Bauernjungen übers Ohr hauen. „Ich hab ihn mit einem Telefonmasten gefickt“, tönte er, nachdem er dem englischen Premierminister Harold Macmillan einmal die Meinung gesagt hatte.
Die Geschichte von Nikita Chruschtschows Rolle im Kalten Krieg ist so unglaublich, dass man sie sich immer wieder gern anhört. Taubmans Darstellung enthält viele lebendige Einzelheiten; ihr Glanzpunkt ist die Schilderung des Staatsbesuchs in den USA von 1959: Chruschtschows Begeisterung über die Begrüßungsgala, seine heftigen öffentlichen Ausfälle, seine bizarre Begegnung mit Hollywood. Aber das beste, ja das Schlüsselkapitel des ganzen Buches behandelt das Desaster des Pariser Gipfeltreffens: die Vorgeschichte des abgeschossenen U-2-Spionageflugzeuges, das Gipfeltreffen selbst, das Chruschtschow genüsslich platzen ließ, und das Nachspiel in der UN-Vollversammlung, wo Chruschtschow laut schreiend mit seinem Schuh auf das Rednerpult eintrommelte.
Nicht ganz zufrieden stellend ist dagegen Taubmans Darstellung der Kubakrise von 1962, als Chruschtschows Vorliebe für „Schachpartien im Dunkeln“ die Welt an den Rand der atomaren Vernichtung brachte. Zwar sind alle neueren Enthüllungen über die Krise – die ja immer wieder von den überlebenden Beteiligten durchgespielt wird – in die elegant erzählte Geschichte eingebaut. Taubman meint ganz richtig, dass der Kremlchef kurz davor stand, sich verhängnisvolle Illusionen darüber zu machen, wie die US-Regierung auf das Auftauchen sowjetischer Raketen in Kuba reagieren würde. Denn bei dem Wiener Treffen mit Kennedy im Jahr zuvor hatte er die Überzeugung gewonnen, der neue US-Präsident werde bei einem drohenden Krieg klein beigeben. Taubman stellt auch zu Recht fest, dass die sowjetischen Raketen nicht in Kuba stationiert wurden, um westliche Zugeständnisse in der Berlinfrage zu erzwingen, wie man damals vermuten konnte. Aber in seiner Darstellung kommen einige überaus dramatische Momente in der Konfrontation vom Oktober 1962 zu kurz, und er geht einigen der großen Fragen aus dem Wege. So fragt er zwar, was die Sowjets ihrer Vorstellung nach eigentlich in Kuba wollten, aber er fragt nie, was eigentlich die USA im Sinn hatten, als sie versuchten, Castro durch die Invasion in der Schweinebucht zu stürzen. Und er geht nur kurz und ganz am Schluss auf das Argument ein, wonach Chruschtschow in dem politischen Deal, der die Krise beigelegt hat, eigentlich ganz erfolgreich abgeschnitten hatte: Die US-Raketen wurden aus der Türkei abgezogen, und Washington gab die Zusicherung, Kuba in Zukunft nie wieder anzugreifen.
Der britische Botschafter in Moskau, William Hayter, beschrieb Chruschtschow als „flegelhaft, redselig, impulsiv, unbeherrscht und in außenpolitischen Fragen alarmierend ahnungslos“, außerdem habe er sein Gegenüber nie ausreden lassen. Nikita und seine Frau Nina – eine strikt parteitreue Intellektuelle und keineswegs die mollige, plumpe Mami, als die sie von Ausländern wahrgenommen wurde – waren privat ein strenges Elternpaar. Taubman hat die Geschichte von Lyuba ans Licht gebracht, der schönen Witwe von Chruschtschows Sohn Leonid, die verhaftet und ins Arbeitslager geschickt worden war, weil sie mit ausländischen Diplomaten geredet hatte. Ihr Schwiegervater tat so, als hätte Lyuba nie existiert, und ihr Sohn Tolja wurde zum Straßenkind. Im Gegensatz dazu hielt Chruschtschows wunderbarer Sohn Sergei, ein Raumfahrtingenieur, auch nach dessen Sturz zu seinem Vater und half ihm dabei, die lebendig geschriebenen, aber nicht unbedingt zuverlässigen Memoiren abzufassen und ins Ausland zu schmuggeln. Sergej ist heute US-Bürger. Wird sich sein Vater deshalb im Grabe herumdrehen? Nicht unbedingt, denn ein Teil von Nikita Sergejewitsch sehnte sich danach, einer dynamischen, erwerbseifrigen und optimistisch zupackenden Welt anzugehören. Er hätte einen großartigen texanischen Öl-Tycoon abgegeben. Vielleicht hätte er auch großartige Hollywood-Filme produziert.
Die Durchschnittsrussen hatten jahrzehntelang, wenn sie an Chruschtschow zurückdachten, ein verbittertes Gefühl. Für sie war er ein gefährlicher Clown, der dem Image Russlands im Ausland nur Schande gemacht hatte. Das hat sich, wenn man Taubman glauben darf, inzwischen geändert. Heute erinnert man sich, wenn überhaupt, im Lande selbst vor allem an seine Demaskierung von Stalin und an seine Vision von einem besseren Leben für alle Sowjetbürger. Sein Ansehen im Westen hat sich auf ähnliche Weise gewandelt. Anfangs verabscheute man ihn als den „Schlächter von Budapest“, der die Panzer gegen die ungarische Revolution von 1956 eingesetzt hatte. Später (und vor allem nach der Kubakrise) wurde er zum Objekt von gehässig-liebevollen Witzen – der fette kleine Possenreißer mit den schlechten Zähnen, der sich nie aufspielte und immer für eine originelle Überraschung gut war. Mein Lieblingsausspruch fehlt bei Taubman allerdings: Wenn man sich über unerhebliche Details von irgendwelchen Texten stritt, war das für Nikita so, als würde man „einer Bettwanze heißes Wasser in die Ohren gießen“.
Die Persönlichkeit Chruschtschows war auf schreckliche Weise deformiert und seine Verbrechen waren unverzeihlich. Doch seine Lust auf alles Neue war entwaffnend. Wie in dieser unvergesslichen Geschichte, die Taubman über den Staatsbesuch in London im Jahre 1956 erzählt. Bei der Fahrt durch die Straßen fragte er seinen offiziellen Begleiter, was diese merkwürdigen Uuh-Uuh-Laute bedeuten, die aus den hinteren Reihen der Menschenmenge an sein Ohr drangen. Der britische Diplomat erklärte ihm, dass die Leute buhen, womit sie ihr Missfallen äußern wollten. Nachdem er kurz nachgedacht hatte, begann Chruschtschow im Fonds der Limousine vor sich hin zu üben: „Buh“. Und wieder: „Buh“. Es machte ihm Spaß. Wo immer er an diesem Tag noch hinkam, rief er allen möglichen verwirrten Menschen sein „Buh“ entgegen. Er hatte wieder etwas gelernt.
deutsch von Niels Kadritzke
Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe
* Langjähriger Korrespondent und Kolumnist des Londoner Independent. Autor des Buches „Schwarzes Meer“, Berlin (Berlin Verlag) 1996. Wir danken der London Review of Books für die Überlassung der Rechte.