Topographie der einsamen Inseln
Von GILLES DELEUZE *
DIE Geographen sagen, es gebe zwei Arten von Inseln. Das ist eine wertvolle Auskunft für die Imagination, da sie darin die Bestätigung dessen findet, was sie von anderer Seite schon wußte. Es ist nicht der einzige Fall, in dem die Wissenschaft die Mythologie materieller macht und umgekehrt die Mythologie die Wissenschaft mit mehr Leben erfüllt. Die kontinentalen Inseln sind akzidentelle, abgedriftete Inseln: sie sind von einem Kontinent abgetrennt, entstanden aus einer Abspaltung, einer Erosion, einem Bruch, sie überleben den Untergang dessen, was sie festhielt. Die ozeanischen Inseln dagegen sind ursprüngliche, wesentliche Inseln: bald bestehen sie aus Korallen und zeigen uns einen wahrhaften Organismus, bald sind sie die Folge unterseeischer Eruptionen und heben eine Bewegung aus den Tiefen an die Oberfläche; manche tauchen langsam empor, andere dagegen verschwinden und kehren wieder, und man hat gar keine Zeit, sie zu annektieren. Diese beiden Arten von Inseln, die ursprünglichen und die kontinentalen, zeugen von einem tiefen Gegensatz zwischen dem Ozean und der Erde. Die einen erinnern uns daran, daß sich das Meer auf der Erde befindet und sich die geringfügigste Absenkung der höchsten Strukturen zunutze macht; die anderen, daß die Erde noch immer vorhanden ist, unter dem Meer, und ihre Kräfte sammelt, um die Oberfläche zu durchstoßen. Gestehen wir ein, daß im allgemeinen die Elemente einander verabscheuen, daß ihnen voreinander graut. Nichts, was beruhigend wäre. So daß eine einsame Insel uns philosophisch normal vorkommen muß. Der Mensch kann nur dann gut und in Sicherheit leben, wenn er den Kampf zwischen Erde und Wasser für beendet (zumindest für beherrscht) hält. Diese beiden Elemente nennt er gern Vater und Mutter, wobei er die Verteilung der Geschlechter der Laune seiner Träumerei überläßt. Halb muß er sich davon überzeugen, daß ein derartiger Kampf nicht existiert, halb dafür Sorge tragen, daß es keinen mehr gibt. Auf jeden Fall ist die Existenz der Inseln die Negation einer solchen Sichtweise, einer solchen Anstrengung und einer solchen Überzeugung. Immer wieder wird man sich darüber wundern, daß England bevölkert ist; der Mensch kann nur dann auf einer Insel leben, wenn er vergisst, was sie repräsentiert. Die Inseln sind aus der Zeit vor dem Menschen oder für die Zeit danach. […]
Die Insel, erst recht die einsame Insel sind aus der Sicht der Geographie äußerst arme oder schwache Begriffe, sie haben nur einen geringen wissenschaftlichen Gehalt. Das gereicht ihnen zur Ehre. In der Gesamtheit der Inseln gibt es keinerlei objektive Einheit. Noch weniger bei den einsamen Inseln. Zweifellos kann eine einsame Insel einen extrem kargen Boden haben. Als einsame Insel kann sie eine Einöde sein, aber nicht notwendigerweise. Wenn die wahre Einöde unbewohnt ist, dann insofern, als sie nicht die Bedingungen aufweist, die das Leben ermöglichen, sei es pflanzliches, tierisches oder menschliches Leben. Daß dagegen die einsame Insel unbewohnt ist, bleibt ein Faktum, das allein von den Umständen, d. h. von der Umgebung abhängt. Die Insel ist das, was vom Meer umgeben ist und was man umrundet, sie ist wie ein Ei. Ei des Meeres, sie ist rund. Alles sieht so aus, als hätte sie ihre Einöde um sich herumgelegt, außerhalb ihrer. Was einsam ist, ist der Ozean ringsum. Nur infolge der Umstände, aus anderen Gründen als dem Prinzip, von dem sie abhängt, fahren die Schiffe in der Ferne vorbei und legen nicht an. Eher wird sie alleingelassen, als daß sie eine Einöde ist. So daß sie die springendsten Quellen, die leichtfüßigste Fauna, die farbenprächtigste Flora, die erstaunlichste Nahrung, die lebendigsten Wilden bergen kann […] – trotz alledem bleibt sie die einsame Insel. Um diese Situation zu verändern, müßte man eine allgemeine Umverteilung der Kontinente, der Lage der Meere, der Navigationsrouten vornehmen.
Das heißt abermals, daß das Wesen der einsamen Insel imaginär und nicht real, mythologisch und nicht geographisch ist. Und damit ist auch ihr Schicksal den menschlichen Bedingungen unterworfen, die eine Mythologie möglich machen. Die Mythologie ist nicht einem bloßen Willen entsprungen, und bald haben die Völker ihre Mythen nicht mehr verstanden.
Genau in diesem Augenblick beginnt Literatur. Die Literatur ist der Versuch, auf höchst kunstvolle Weise die Mythen, die man nicht mehr versteht, zu interpretieren, in dem Augenblick, wo man sie nicht mehr versteht, weil man sie nicht mehr zu träumen und nicht mehr zu reproduzieren vermag. Die Literatur ist der Wettstreit der Gegenbedeutungen, die das Bewußtsein ganz natürlich und notwendig an den Themen des Unbewußten vornimmt; wie jeder Wettstreit hat sie ihren Preis. Man müßte aufzeigen, auf welche Weise die Mythologie in diesem Sinn Bankrott macht und in den beiden klassischen Romanen der einsamen Insel stirbt, Robinson und Suzanne. „Suzanne et le Pacifique“ (von Jean Giraudoux, dt: „Suzanne und der Pazifik“, übers. v. Otto F. Best, München 1958) betont den getrennten Aspekt der Insel, die Trennung des jungen Mädchens, das sich auf ihr befindet; Robinson betont den der Erschaffung, des Neubeginns. Freilich ist in diesen beiden Fällen die Art und Weise, wie die Mythologie scheitert, sehr verschieden.
Mit der Suzanne von Giraudoux stirbt die Mythologie den hübschesten, anmutigsten Tod. Mit Robinson den bedrückendsten. Ein langweiligerer Roman ist kaum vorstellbar; traurig, mit anzusehen, daß Kinder ihn noch immer lesen. Robinsons Weltanschauung beruht ausschließlich auf dem Eigentum, noch nie hat man einen derart moralisierenden Eigentümer gesehen. An die Stelle der mythischen Neuerschaffung der Welt dank der einsamen Insel ist die Wiederherstellung des bürgerlichen Alltags auf der Basis eines Kapitals getreten. Alles wird aus dem Schiff geholt, nichts wird erfunden, alles wird mühselig auf die Insel angewandt. Die Zeit ist lediglich die Zeit, die das Kapital braucht, bis es am Ende einer Arbeit Gewinn abwirft. Und die unverhoffte Funktion Gottes besteht darin, den Ertrag zu garantieren. Gott erkennt die Seinen, die ehrbaren Leute daran, daß sie schöne Besitzungen, die Bösen daran, daß sie schlechte, ungepflegte Besitzungen haben. Robinsons Gefährte ist nicht Eva, sondern Freitag, arbeitswillig, glücklich, Sklave zu sein, allzu schnell der Menschenfresserei überdrüssig. Jeder gesunde Leser träumt wohl davon, daß er endlich Robinson frißt.
Dieser Roman ist die beste Veranschaulichung der These, die den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Protestantismus behauptet. „Robinson Crusoe“ zeigt den Bankrott und den Tod der Mythologie im Puritanismus. Mit Suzanne ändert sich alles. […] Die Insel birgt bei ihr unmittelbar all das, zu dessen Herstellung, Perfektionierung, Ausreifung die Zivilisation Jahrhunderte gebraucht hat. Aber auch in Suzanne stirbt die Mythologie, wenngleich nach Pariser Art. Suzanne muß nichts neu schaffen, die einsame Insel liefert ihr das Double aller Gegenstände der Stadt, aller Auslagen der Kaufhäuser, ein unbeständiges Double, vom Realen getrennt, da es nicht die Festigkeit erhält, wie sie die Gegenstände in den menschlichen Beziehungen des Kaufs und Verkaufs, des Tauschs und der Geschenke gewöhnlich haben. Es ist ein fades junges Mädchen; ihre Gefährten sind nicht Adam, sondern junge Kadaver, und als sie später lebendige Menschen wiedersieht, liebt sie sie mit einförmiger Liebe, nach Priesterart, als wäre die Liebe die Minimalschwelle ihrer Wahrnehmung.
Es geht darum, das mythologische Leben der einsamen Insel wiederzufinden. Doch mitten im Bankrott gibt uns Robinson einen Hinweis: zuerst brauchte er ein Kapital. Suzanne dagegen war vor allem getrennt. Und weder der eine noch die andere konnten Element eines Paares sein. Diese drei Hinweise muß in ihrer mythologischen Reinheit wiederherstellen und zur Bewegung der Imagination zurückkehren, die die einsame Insel zu einem Modell, einem Prototyp der kollektiven Seele macht. Zunächst freilich findet dank der einsamen Insel nicht die Schöpfung selbst statt, sondern die Neuschöpfung, nicht der Beginn, sondern der Wiederbeginn. Sie ist der Ursprung, jedoch der zweite Ursprung. Dank ihrer beginnt alles von neuem. Die Insel ist das notwendige Minimum dieses Neubeginns, das Material, das den ersten Ursprung überlebt hat, der Kern oder das strahlende Ei, das ausreichen muß, alles zu reproduzieren. Das setzt natürlich voraus, daß die Formung der Welt in zwei Takten, zwei Stufen, Geburt und Wiedergeburt, vor sich geht, daß die zweite ebenso notwendig und wesentlich ist wie die erste, daß also die erste notwendig kompromittiert ist, für eine Wiederholung geboren und in einer Katastrophe schon wieder verneint. […] Der zweite Ursprung ist also wesentlicher als der erste, weil er uns das Gesetz der Serie liefert, das Gesetz der Wiederholung, von dem der erste uns lediglich die Momente lieferte. Aber dieses Thema zeigt sich, mehr noch als in unseren Träumereien, in allen Mythologien. Wohlbekannt ist es als Mythos der Sintflut. Die Arche setzt am einzigen Ort der Erde auf, der nicht überflutet ist, an einem kreisförmigen und heiligen Ort, von dem aus die Welt neu beginnt. Es ist eine Insel oder ein Berg, beides zugleich, die Insel ist ein Berg im Meer, der Berg eine noch trockene Insel. So ist die erste Schöpfung in einer Neuschöpfung enthalten und diese in einer heiligen Erde inmitten des Ozeans konzentriert. Der zweite Ursprung der Welt, wichtiger als der erste, ist die heilige Insel: viele Mythen erzählen uns, daß man dort ein Ei findet, ein kosmisches Ei. Da sie einen zweiten Ursprung bildet, wird sie den Menschen und nicht den Göttern anvertraut. Sie ist getrennt, durch die ganze Dichte der Sintflut getrennt. Der Ozean und das Wasser sind in der Tat das Prinzip einer Absonderung, dergestalt, daß sich auf den heiligen Inseln ausschließlich weibliche Gemeinschaften bilden wie die von Kirke und Kalypso. Zwar ging der Anfang von Gott und einem Paar aus, nicht aber der Neubeginn, der von einem Ei ausgeht, denn die mythologische Mutterschaft ist häufig eine Parthenogenese. Die Idee eines zweiten Ursprungs verleiht der einsamen Insel ihren vollen Sinn, Überbleibsel der heiligen Insel in einer Welt, deren Neubeginn auf sich warten läßt. Im Ideal des Neubeginns liegt etwas, was dem Beginn selbst vorausgeht, was ihn aufgreift, um ihn zu vertiefen und zeitlich zurückzuverlegen. Die einsame Insel ist die Materie dieses Unvordenklichen oder Tieferen.
Französischer Philosoph (1925–1995). Der hier abgedruckte Textauszug (Originaltitel: „Causes et raisons des îles désertes“) entstammt einem Manuskript aus den Fünfzigerjahren für eine Sondernummer der Zeitschrift Nouveau Fémina. Wir entnahmen ihn dem Band „Gilles Deleuze, Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974“, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, der dieser Tage im Suhrkamp Verlag erscheint.