12.05.1995

Von der Geschäftswelt zum Weltgeschäft

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Von der Geschäftswelt zum Weltgeschäft

Von

JACQUES

DECORNOY

DAS Forschungsunternehmen Dataquest Inc. schätzt, daß es in China mindestens 350.000 Informatikingenieure an Forschungsinstituten, Staatsunternehmen und Universitäten gibt. Ihr durchschnittliches Monatsgehalt: rund 105 Dollar. (...) Die Multis angeln in äußerst fischreichen Gewässern.“1 Nicht für die Firmen, aber für die Gesellschaft ihrer jeweiligen Heimatländer ist das ein Risiko. Millionen Arbeitsplätze sind bedroht, besonders in den USA. Die Unternehmen diktieren ihr Gesetz ohne Grenzen. Und das Gesetz (über das der Abgeordnete abstimmt) hat ihnen zu Diensten zu sein. „Investitionen in die Ressource Mensch, ihre effiziente Nutzung und Anleitung sind ... von grundlegender, vielleicht sogar überragender Bedeutung für Regierungen und transnationale Firmen. Erziehung und Ausbildungsprogramme müssen den Bedürfnissen der Geschäftswelt entsprechen und, in der gegenwärtigen Weltwirtschaft, insbesondere denjenigen der internationalen Geschäftswelt“2. So sucht die neue Weltordnung sich zu organisieren und zu installieren.

Die Diagnose ist klar: „Die Globalisierung ist letztlich Ergebnis von Entscheidungen der Unternehmen. Die potentiellen Vorteile einer stärkeren Integration hängen jedoch auch von der Zusammenarbeit der Nationen untereinander ab, die das Ziel hat, die Grenzbarrieren zu senken und den Integrationsprozeß glatt vonstatten gehen zu lassen.“3 Auf diese Art wird, wie selbstverständlich und zur besseren Durchsetzung, die Doktrin eines Kapitalismus des Fin de siècle entwickelt, gestützt auf den Segen internationaler Organisationen. So wird das Denken eingeschränkt, es wird ihm untersagt, sich eine andere Art von sozialen Beziehungen zu wünschen. Und wer es wagt, die gegenwärtige Entwicklung nicht für unvermeidlich und unüberwindbar zu halten, dem wird veraltetes Denken attestiert.

Es gehört in diesen Zeiten, wo alle an den Freihandel glauben, zum guten Ton, auf der explosionsartigen Vermehrung des Wissens, des Technologietransfers, dem Aufkommen neuer Unternehmen, die in Asien wie Pilze nach dem Monsun wachsen, zu insistieren. Ein „Wunder“ hat das die Weltbank genannt – etwa um den Abbau der Staatsapparate und der öffentlichen Einrichtungen besser zu rechtfertigen? Oder ist es eine Mischung aus Wunder und Trugbild?

Über 90 Prozent der 37.000 transnationalen Firmen und ihrer etwa 206.000 Filialen in anderen Ländern gehören der sogenannten Ersten Welt an, also dem Norden, und die hundert mächtigsten unter ihnen dominieren auf allen Ebenen: Nicht nur in ihren Herkunftsländern haben sie großen Einfluß. Sie haben Investitionskraft und besitzen die Patente der Spitzentechnologie, auf der die heutige Macht beruht und die Monopole von morgen errichtet werden. Um diese Machtmittel geht es, wenn Statistiken abstrakt Investitionsströme oder Kapitalflucht in diesem Land oder jener Region ausweisen. Dieselben Mächte sind am Werk, wenn überall auf der Welt das Dogma der Privatisierung durchgesetzt wird. womit die modernen weltweiten Kontrollmechanismen schließlich den Widerstand der – natürlich archaischen – Handelsprotektion überwinden.

Der Reichtum konzentriert sich auf immer weniger Menschen

IM letzten Viertel des Jahrhunderts ging es offen und öffentlich darum, Volkswirtschaften, Handelsströme, nationale Gesetze und internationales Recht zum Vorteil dieser Mächte umzuformen. Ein unerfreulicher Zufall will es, daß die Phase der tiefen und nicht enden wollenden Depression gleichzeitig noch von Schuldenkrisen geprägt wurde (die bis heute keineswegs gelöst sind, sondern sich zu vervielfachen drohen). Zudem verschlimmerte sich die Abhängigkeit des Südens vom Norden insgesamt, in seinen Ländern wurden der staatliche Rahmen und soziale Einrichtungen zerstört, die Möglichkeit nationaler Autonomie geleugnet. In den reichen Ländern wuchs die Zahl der sozial Marginalisierten auf Dutzende von Millionen, immer mehr Reichtum konzentrierte sich in den Händen einer Minderheit der Erdbewohner.4 Eine Entwicklung, die unter dem Strich für „normal“ gehalten wird.

Derweil rückt das Unternehmen ins Zentrum der Gesellschaft, es diktiert die wissenschaftlichen, technologischen Entscheidungen und die Organisationsweisen, bis hin zum Lebensrhythmus. Es bürdet der Gesellschaft die Risiken seiner unberechenbaren Entscheidungen, der unkontrollierten Spekulation auf und läßt sie jahrelang die Rechnung bezahlen für zahllose Konkurse, Luftblasen der Spekulation. „Anstatt ein globales Dorf zu schaffen, weben diese (transnationalen, J.D.) Firmen Produktions- und Konsumtionsnetze, schaffen Finanzströme, die nur einer Minderheit der Menschen nützen. Die Mehrheit wird von diesen Netzwerken an den Rand oder aus der Gesellschaft gedrängt oder verletzt.“ 5 Die jüngsten Entwicklungen – „bilaterale Investitionsverträge, multilaterale Handelsabkommen, Privatisierungsbeschlüsse, das Plattwalzen nationaler Regulierung und die Dominanz der Ideologie vom freien Markt“ – zielen sämtlich darauf ab, „die Verantwortlichkeiten der Multis zu minimieren und ihre Rechte auszuweiten“.

Von China bis Mexiko, Clintons Business scheint das Business zu sein“7. Unter diesem Titel erinnerte ein amerikanischer Journalist daran, wie sehr die Ausschläge der Politik des Weißen Hauses die Wünsche der Großunternehmen reflektieren, die auf dem eigenen Kontinent wie jenseits des Pazifiks beträchtliche Interessen haben. Man wird sagen, dieses Phänomen sei so alt wie der Kapitalismus. Der Unterschied zur Vergangenheit ist dennoch ziemlich groß. Es werden nationale Befugnisse übertragen, und zwar nicht zugunsten supranationaler Regulationsinstanzen, sondern an mächtige Private. Deren weltweite, notwendig kurzfristige Interessen müssen auf Dauer mit den Erfordernissen einer dauerhaften, gerecht verteilten, demokratisch beschlossenen und ökologisch annehmbaren Entwicklung in Konflikt geraten. Ein bedrohlicher Widerspruch, der in Kriege führen kann.

1 Business Week, 19. Dezember 1994

2 World Investment Report. Transnational Corporations, Employment and the Workplace. United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) New York, Genf 1994, S. 384. Siehe auch Transnational Corporations and Integrated International Production, UNCTAD 1993.

3 UNCTAD 1994, a.a.O., S. 158.

4 Zwischen 1960 und 1989 stieg der Anteil des reichsten Fünftels der Bevölkerung am weltweiten Einkommen von 70 auf 83 Prozent, der des ärmsten Fünftels fiel von 2,3 auf 1,4 Prozent (Zahlen der UNO, 1994).

5 Eric Kolodner, „Transnational Corporations: Impediments or Catalysts of Social Development?“, Forschungsinstitut der UN für soziale Entwicklung, Genf, Dezember 1994.

6 Ebenda

7 Jim Hoagland, „From China to Mexico. The Business of Clinton Seems to Be Business“. International Herald Tribune, 9. Februar 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Jacques Decornoy