12.05.1995

Die Tyrannei des „ökonomisch Korrekten“

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Die Tyrannei des „ökonomisch Korrekten“

Von

IBRAHIM

WARDE *

VOR einem Vierteljahrhundert stellte Albert Hirschmann fest, daß der Bereich des Wirtschaftlichen dazu tendiert, den des Politischen zu „kolonisieren“, denn, so schreibt er, „ebenso wie sich die Ökonomie der Physik unterlegen fühlt, beneidet der politische Praktiker den ,Werkzeugkasten‘ des Ökonomen“1. Diese „Kolonisierung“ hat inzwischen einen beträchtlichen Umfang erreicht und zeigt sich bei der Geschäfts-Führung einer wachsenden Zahl von Ländern. Paradoxerweise verfügen dabei jene Experten, die sich in allem und jedem geirrt haben, über einen beachtlichen Handlungsspielraum, und ein zunehmend dogmatischer werdendes Denken dehnt seinen Anwendungsbereich immer mehr aus. Wie in der Theologie ist die Meinungsvielfalt bei esoterischen Details gestattet, ja, sie wird sogar gefördert, denn so entsteht der Eindruck, daß ein engagiertes Streitgespräch stattfindet, um die Wissenschaft voranzubringen. Wenn es aber um die wesentlichen Dinge geht, dann wird die Debatte eng begrenzt auf das, was „ökonomisch korrekt“2 ist.

Für Professor Chalmers Johnson, der diesen „Monotheismus“ als einer der wenigen anprangert, gehen die Anfänge des modernen Ökonomismus auf den Kalten Krieg zurück. Der Zusammenbruch des sowjetischen Modells, der in aller Eile als Zeichen für „das Ende der Geschichte“ interpretiert wurde, hat die Missionsbewegung noch verstärkt: Mit theoretischem Wissen vollgestopfte „Experten“ „wenden in Ländern, von denen sie weder die Sprache noch die Kultur, noch die Geschichte kennen, ein rigides und ideologisches Reformprogramm an, das auf Wirtschaftslehrbüchern aufbaut, deren einziges Ziel es ist, das anglo-amerikanische Kapitalismusmodell zu rechtfertigen“.3

Die Tyrannei des „ökonomisch Korrekten“ kann nicht ohne einen Blick auf das Universitätssystem verstanden werden, in dem, trotz eines gewissen scheinbaren Pluralismus, jede Fachrichtung im allgemeinen „von einem monolithischen ,Zentrum‘ beherrscht wird. An der Spitze eines solchen Zentrums findet man etwa ein Dutzend Institute von Rang, deren Professoren auf Grund ihres Bekanntheitsgrades und durch die Oberaufsicht über Stiftungen, Fachzeitschriften und Universitätsverlage die Debatte und den beruflichen Werdegang der Fachkollegen kontrollieren. Dieses inzestuöse Universum betrachtet die Außenwelt als inkompetent und wenig wissenschaftlich“.4 John Kenneth Galbraith zufolge weisen insbesondere die wirtschaftswissenschaftlichen Institute eine „Kastenstruktur“ auf: „An der Spitze steht die reine Theorie, ganz unten die angewandte Wirtschaftswissenschaft“.5 Wer als brillant gelten will, muß also abstrakt sein, Modelle entwickeln und mit Zahlen jonglieren. In seinem Buch „Warum die Wirtschaftswissenschaft noch keine Wissenschaft ist“ stellt Alfred Eichner fest, daß „die Mathematik als Fassade für ein theoretisches System fungiert, das keinem empirischen Test standhält, mit dem man zwischen Wissenschaft auf der einen und Aberglaube oder vulgären Ideologemen auf der anderen Seite unterscheiden könnte“.6 Aber so wie früher das Lateinische die obligatorische Sprache des autorisierten Diskurses war, so ist die Mathematik heute notwendig, um die Autorität der neuen „Kleriker“ sicherzustellen. Zahlen, Gleichungen und Grafiken sind die äußeren Zeichen für den Reichtum eines an sich dürftigen Denkens.

Darum kam es zu aufgeregtem Protest aus den Fachkreisen, als Präsident Clinton Laura Tyson an die Spitze seiner Wirtschaftsberater im Weißen Haus stellte. Paul Krugman, Professor am Massachusetts Institute of Technology (der den Posten selbst gern gehabt hätte), äußerte Beunruhigung über die unzureichenden mathematischen Kenntnisse Frau Tysons und bedauerte, daß der Präsident die „Rangordnung“ der Gilde nicht respektiert habe.7 Der Hauptvorwurf gegen Frau Tyson besteht in der Tat darin, daß sie, wie es der Journalist Robert Kuttner ausdrückt, „lieber englisch als algebraisch spricht und sich lieber mit der realen Wirtschaft beschäftigt, als Sandburgen zu bauen“.8

Krugman erklärt, daß die Hierarchie innerhalb des Faches kein Geheimnis ist: Der Nobelpreis katapultiert die Älteren an die Spitze der Pyramide, und die Weihe durch die John-Bates-Medaille (eine Art Juniornobelpreis, der jedes Jahr an den besten Wirtschaftswissenschaftler unter vierzig Jahren verliehen wird) ist der Ritterschlag für die Jungen. Die drei zuletzt damit Ausgezeichneten – Jeffrey Sachs, Lawrence Summers und ... Krugman selbst – bilden den Stoßtrupp zur Verteidigung des Dogmas. In Rekordzeit haben sie die Rolle des Großsprechers Trissotin mit der des radikalen Predigers Savonarola vertauscht.

Jeffrey Sachs, seines Zeichens Professor in Harvard, rackert sich auf allen Kontinenten ab und arbeitet dabei mit Zuckerbrot und Peitsche an der Durchsetzung seiner „Schocktherapie“. Von Bolivien bis Polen, von der Mongolei bis Rußland ist das Rezept überall das gleiche. Der gute Doktor erklärt: „Mein Lebenswerk besteht darin, den Ländern, die in einer verzweifelten Lage stecken, aus ihren wirtschaftlichen Krisen herauszuhelfen. Ich bin mathematisch orientierter Wirtschaftswissenschaftler mit einer technischen Ausbildung. Die Grundlage für das, was ich mache, ist die Wirtschaftsgeschichte. Ich bin keineswegs nur ein Prediger.“9

Lawrence Summer ist vor einigen Jahren berühmt geworden: Als führender Wirtschaftsexperte der Weltbank hatte er ein auf unerbittlicher Logik beruhendes Urteil gefällt, dem zufolge „die Dritte Welt in zu geringem Ausmaße verschmutzt“ wäre. Als Beauftragter für Außenwirtschaftsbeziehungen im amerikanischen Finanzministerium war er der große Favorit im Rennen um den Präsidentenposten bei der Weltbank. Die jüngste mexikanische Krise – man warf ihm vor, sie nicht vorausgesehen zu haben – hat ihn zurückgeworfen.

Was Paul Krugman angeht, so hat er seinen Ruf als Wunderkind durch den mathematisch abgesicherten „Beweis“ verdient, daß die Raumfahrtunternehmen ihren Marktanteil ausbauen könnten, wenn ihre jeweiligen Regierungen sie unterstützten. Seitdem gibt er seine Meinung zu jedem Thema zum besten – eine Binsenweisheit hier, eine Riesendummheit da –, und die Presse etikettiert ihn immer wieder und ohne Ironie als „Bilderstürmer“. Mit einer seiner jüngsten Analysen „beweist“ er, daß die Erfolge Singapurs mit denen der UdSSR unter Stalin identisch sind: In beiden Fällen geht es um eine „Mobilisierung von Ressourcen.10

Jeder, der in dieser Welt des „ökonomisch Korrekten“ in puncto Freihandel, Geldpolitik, volkswirtschaftlicher Rechtgläubigkeit oder Sozialpolitik von der Linie der allgemein akzeptierten Meinungen abweicht, fällt unter den Bannstrahl der neuernannten „Kommissare für Ideologie“. Da wütet etwa Jagdish Bhagwati, Professor für internationale Wirtschaft an der New Yorker Columbia-Universität, gegen diejenigen, die das neoricardianische Dogma anzweifeln. Derartige „Dummheiten“ seien ja noch zu entschuldigen, wenn sie von Nicht-Ökonomem kommen, sagt er, aber die Dissidenten unter den Wirtschaftswissenschaftlern, die er als „Idioten“, als „gefährlich“, „inkompetent“ oder „verantwortungslos“ abqualifiziert, verdienten nur noch „Verachtung“. Im übrigen bedauert er, daß man sie nicht einfach aus der Gilde ausschließen kann.11

Der Wähler als Verbraucher

DER Ökonomismus möchte allgegenwärtig sein und erobert die Sozial-, die Geistes- und sogar die Rechtswissenschaft. Gary Becker, der Nobelpreisträger des Jahres 1982, der in seinen Arbeiten die ökonomischen Prinzipien auf so verschiedene Themen wie Alkoholismus, Selbstmord, Arbeit, Zeit, Familie usw. anwendet, ist ausgezeichnet worden, weil er „die Wirtschaftstheorie auf Aspekte menschlichen Verhaltens ausgeweitet hat, denen die anderen Geisteswissenschaften bis dahin keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten“. Und wie Albert Hirschmann es vorausgesagt hatte, machen die Spezialisten der anderen Fächer mit dem Eroberer gemeinsame Sache.

In der Politologie etwa machen Theorien der „rationalen“ und der „öffentlichen Entscheidung“ Furore. Der Wähler wird dabei als Verbraucher und der Politiker als Unternehmer betrachtet. Dies hat den doppelten Vorteil, zum einen die „Werkzeugkiste“ des Wirtschaftswissenschaftlers benutzen zu können – und sich damit der „reinen Wissenschaft“ anzunähern –, und zum anderen für bestimmte politische Entscheidungen auf recht bequeme Art und Weise als Experte bürgen zu können. So stellt Professor Theodore Lowi fest, daß „die republikanischen Regierungen der achtziger Jahre die Theorie der öffentlichen Entscheidung hätten erfinden müssen, wenn es sie nicht bereits gegeben hätte“.12 Denn wenn die Begriffe der öffentlichen Sphäre und des allgemeinen Interesses Trugbilder sind, dann muß der Staat auf seine geringstmögliche Größe gebracht werden. Selbst in den juristischen Bereich ist die ökonomische Analyse weit vorgedrungen. Victor Posner, früher Juraprofessor an der Universität Chicago und heute von Ronald Reagan ernannter Bundesrichter, mag beim großen Publikum unbekannt sein. Er ist aber die Person, die sowohl in wirtschaftswissenschaftlichen als auch in juristischen Fachzeitschriften am häufigsten zitiert wird. Er hat die Bewegung „Recht und Wirtschaft“ gegründet, an deren Seminaren schon mehr als die Hälfte der amerikanischen Richter teilgenommen hat. „Ich verabscheue das Wort ,Gerechtigkeit‘, es hat keine Bedeutung“13, erklärt er. In seinem Buch über die ökonomische Analyse des Rechts, der Bibel seiner Bewegung, fordert er die Juristen auf, die Wirtschaftswissenschaft auf juristische Fragen anzuwenden, und dies mit dem Ziel, die „Tyrannei des Rechts“14 zu brechen.

Mehr noch als im Norden macht der Ökonomismus im Süden und im Osten Boden gut. Schon in den siebziger Jahren hatten die „Chicago boys“ in Chile einem Versuchskaninchen eine Roßkur verordnet, wobei sich dieses – dank der Methoden des Generals Pinochet – sehr folgsam zeigte. Seit der Schuldenkrise und dem Zusammenbruch des Kommunismus herrscht der Ökonomismus sowohl im Süden als auch im Osten völlig unangefochten. Zu einer Zeit, in der internationale Organisationen nur auf der Basis von Austeritätsprogrammen helfen, die von Experten vorher autorisiert wurden, können diese Experten Eliten nach ihrem Bilde formen.15

So wirkte der „Gipfel beider Amerika“, der im Dezember letzten Jahres in Miami stattfand und bei dem die Staatschefs von dreiunddreißig Ländern die Schaffung einer großen regionalen Freihandelszone bis zum Jahre 2010 beschlossen haben, wie ein Treffen der ehemaligen Schüler der wirtschaftswissenschaftlichen Institute der großen amerikanischen Universitäten. In Mexiko war Präsident Carlos Salinas, Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard-Universität und Architekt der großen ultraliberalen Reformen, von den Hütern des Dogmas bejubelt worden und hatte seine Amtszeit glanzvoll beendet. Zur Belohnung hatte Amerika ihn zum Kandidaten für das Präsidentenamt der neuen Welthandelsorganisation gemacht. Die Dow Jones Company, die das Wall Street Journal herausgibt, hatte ihn in ihren Verwaltungsrat gewählt. Siebzehn Tage später kämpfte sein Nachfolger Ernesto Zedillo, Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Yale-Universität, mit der schwersten Krise, die sein Land jemals erlebt hatte, während sein Vorgänger, dessen Reformen heute als „bei weitem nicht ausreichend“ angesehen werden, in Ungnade und Exil lebt.

1 Albert O. Hirschman, „Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States“, Harvard University Press 1970, S. 19.

2 Alice Amsden, „From P.C. to E.C.“, The New York Times, 12. Januar 1993.

3 Chalmers Johnson, „Hurleyism Swamps Foggy Bottom“, The Los Angeles Times, 3. Februar 1994.

4 Andrew Janos, „Politics and Paradigms“, Stanford University Press, 1986, S. 69.

5 John Kenneth Galbraith, „The New Industrial State“, 3rd edition, Houghton-Mifflin, 1978, S. 113.

6 Alfred Eichner, „Why Economics is not yet a Science“, M.E. Sharpe, 1983, S. 231.

7 The New York Times, 3. Janaur 1993.

8 The Washington Post, 7. Januar 1993.

9 Zitiert in: Alfred Malabre, „Lost Prophets. An Insider's

History of Modern Economists“, Harvard Business School Press, 1994, S. 229.

10 Paul Krugman, „The Myth of Asia's Miracle“, Foreign Affairs, November/Dezember 1994.

11 The Economist, 3. März 1990.

12 Theodore J. Lowi, „The State in Political Science. How We Become What We Study“, American Political Science Review, März 1992.

13 Zitiert in: Sidney Blumenthal, „The Rise of the Counter- Establishment, Times Books, 1986.

14 Richard Posner, „Economic Analysis of the Law“, Little Brown 1977.

15 Ibrahim Warde, „Les faiseurs de révolution libérale, Le Monde diplomatique, Mai 1992.

* Professor an der Universität Berkley

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Ibrahim Warde