12.05.1995

Die Renaissance der Renaissance

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Die Renaissance der Renaissance

Von RICCARDO PETRELLA *

MIT Respekt, ja, fast liebevoll nannte man sie Stahl-, Batterie-, Reifen-, Papier- und Textilbarone und bezeichnete die Ölmultis als die „sieben Schwestern“. Diese großen Familien, die man für allmächtig hielt, teilten sich die Macht mit den öffentlichen Banken der einzelnen Länder, mit den Finanzministerien, mit der Technobürokratie der reichsten Länder der Welt und dem „militärisch-industriellen Komplex“ der Atommächte.1

Aber Wesen und Physiognomie der Herren der Weltwirtschaft verändern sich zusehends, weil die Wirtschaft, die einst auf der Basis eines nationalstaatlichen Kapitalismus organisiert war und auf dieser Basis weltweit agierte, sich in eine Welt-Wirtschaft verwandelt, die durch die Liberalisierung der Märkte, durch Dereglementierungen und durch die Privatisierung ganzer Bereiche der einzelnen Volkswirtschaften charakterisiert wird. So besitzen die großen Familien der Finanz- und Geschäftswelt in der New Yorker Wall Street, in der Londoner City, aber auch in Zürich, Frankfurt und Paris immer noch sehr viel Einfluß, den sie aber mit Finanz- und Industriekonzernen aus Tokio und Osaka oder mit der chinesischen Diaspora teilen müssen, deren Einfluß in Asien und in den Vereinigten Staaten unaufhörlich zunimmt.2

Heute entfaltet sich Macht, die immer weniger auf dem Besitz materieller Elemente (Boden, natürliche Ressourcen oder Maschinen) beruht, entfaltet sich immer mehr über immaterielle Faktoren (wissenschaftliche Kenntnisse, Hochtechnologie, Information, Kommunikation, Werbung und Finanzwesen). Die Wirtschaft entmaterialisiert sich.3 Alvin Toffler, der die wissenschaftlichen Arbeiten, die in den letzten dreißig Jahren zum Thema der Wissens- und Informationsgesellschaft verfaßt wurden, in seinen Büchern populärwissenschaftlich aufbereitet, beschreibt diese Metamorphose in einem seiner letzten Werke.4

Da Informationen im Gegensatz zu Erdöl oder Nahrungsmitteln nicht verbraucht werden können, sondern im Gebrauch entstehen, so Toffler, verschiebt sich die Macht vom Produzenten zum Konsumenten, von der kleinsten zur größten Gruppe und von oben nach unten.5 Ein Zeichen für diese Entmaterialisierung ist die Tatsache, daß auf der Liste der zwanzig größten Industrieunternehmen der Welt heute sechs Unternehmen aus den Bereichen Mikroelektronik und Informatik zu finden sind. Vor zwanzig Jahren stand da noch kein einziges.

Die allgemeine Verbreitung illegaler Praktiken

DIE entstehenden Machtstrukturen zeichnen das Bild einer von neuen Oligarchien beherrschten Weltordnung. Deren Basis bilden gesellschaftliche Gruppen und Eliten, welche über eine Entscheidungs- und Kontrollgewalt verfügen, die außerhalb der politischen und geselschaftlichen Repräsentations- und Legitimationsformen der Nationalstaaten liegt. Die Dynamik dieser Oligarchien gehorcht einer reinen Eroberungslogik: Der angebliche Zwang zum weltweiten Wettbewerb wird zu einem „moralischen Imperativ“ und zieht eine allgemeine Ausbreitung illegaler Praktiken, ja sogar eine wachsende Kriminalisierung der Wirtschaft nach sich. Anders gesagt: Die jüngste Geschichte ist eine der Wiederkehr der Eroberer und von Machtformen und Herrschaftsphänomenen, die man als „neue Barbarei“ bezeichnen kann.

Seit 1971 die Golddeckung des Dollars aufgehoben wurde, erlebte das Weltsystem eine enorme Beschleunigung seiner geschichtlichen Entwicklung. Verstärkt wurde sie noch durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien. Deren Möglichkeiten bei der Sammlung, Lagerung, Verarbeitung und Übermittlung von Daten nehmen in exponentiellem Tempo zu, was wiederum bedeutsame Konsequenzen nach sich zieht. Als erstes wäre dabei das Wachsen des weltweiten Marktes für Kapitalverkehr und Finanzdienstleistungen zu nennen, der weitgehend, wenn nicht sogar vollständig aller staatlichen Kontrolle entzogen ist. Auf 1.200 Milliarden Dollar schätzt man das Volumen des Kapitals, das auf der Suche nach Profiten aus Wechselkursschwankungen ständig zirkuliert. Die Notenbanken und die internationalen Institutionen wie die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BRI) haben es aufgegeben, zu intervenieren und gegen die Allmacht der privaten Händler zu kämpfen.

Die weltweite Kapitalstreuung hat ferner die Internationalisierung der Investitionen und somit die des Produktionssystems beschleunigt. Dies geht Hand in Hand mit der Zusammenfassung der Handelsströme nach Großregionen.7 Dadurch wird auf dem Umweg über das „externe Wachstum“8 die weltweite Ausbreitung von Unternehmen, Strategien und Märkten gefördert: Direktinvestitionen im Ausland, Betriebsverlagerungen, Fusionen und Allianzen zwischen Unternehmen sind das Ergebnis. So entwickelt heute jeder bedeutende Industrie- und Finanzkonzern nur eine Welt-Strategie, besonders natürlich für Nordamerika, Westeuropa und Ost- und Südostasien.

Überdies ist der Gesamtwert der an der Börse notierten Wertpapiere gestiegen, weil es für die Unternehmen, die auf die internationalen Märkte streben, unabdingbar ist, einen problemlosen Zugang zum Weltfinanzmarkt zu haben. Multinationale „Familienunternehmen“ gibt es noch, bisweilen entstehen sogar noch neue (etwa die Brüder Benetton), aber die herrschende Tendenz ist die multinationale Streuung des Aktienbesitzes. Gleichzeitig sind die großen Industriekonzerne auch zu Finanzkonzernen geworden, die permanent Entscheidungen über die in den verschiedenen Geschäftsbereichen und Tochtergesellschaften investierten Gelder treffen.9 Um sich eine ausreichende Schlagkraft für ihre Expansion auf den Weltmärkten zu sichern, zielt ihre Strategie darauf ab, den Wert der Aktiva zu steigern, die mindestens ebensosehr finanzieller wie auch industrieller Natur sind.

Die Abdankung der Politik ist quasi umfassend. Weltweit operierende Megasysteme, die stets den unmittelbaren Interessen der privaten Finanzkonzerne dienen 10, formieren sich in den Bereichen Transport (Flugzeuge, Autos), Kommunikation (Fernsehen, Bilddatenbanken, On-line-Informationsnetze, Dienstleistungen für Unternehmen), Wissenschaft und Forschung (Raumfahrt, Genforschung, Kernfusion, Erhitzung der Erdatmosphäre usw.).

Gegen diese Entwicklung gibt es weder einen starken noch einen gut organisierten Widerstand: Die Situation in Deutschland, Italien und den skandinavischen Ländern kann nicht vergessen lassen, daß die Gewerkschaften ihre Macht, Forderungen aufzustellen und Verhandlungen zu führen, eingebüßt haben. Häufig verfechten sie sogar Thesen wie die vom Zwang zur weltweiten Wettbewerbsfähigkeit und vertreten eine Politik, die jener der privaten Kräfte sehr nahesteht. Wenn man berücksichtigt, daß während der achtziger Jahre in den einzelnen Staaten Fähigkeit und Wille, sich für ein allgemeines Interesse einzusetzen, abgenommen haben, dann muß man feststellen, daß in der entstehenden neuen Welt die miteinander verflochtenen Industrie- und Finanzkonzerne die Hauptakteure auf dem Feld der Wirtschaftspolitik sind.

So ist der ganze Planet in weniger als einem Vierteljahrhundert zu einem sich immer weiter öffnenden Wirtschaftsraum geworden, dessen Symbol die neue Welthandelsorganisation (WHO) ist, die die Schaffung eines liberalisierten und dereglementierten Weltmarktes zur Sache des 21. Jahrhunderts machen will.

Die Erde sieht einer neuen Ära der Eroberungen entgegen, wie im 15. Jahrhundert. In der Renaissance waren die Staaten (die Königreiche Portugal und Spanien, die Republik Venedig und später die Vereinigten Niederlande) die Hauptakteure. Heute sind es die privaten Finanz- und Industriekonzerne, die mit Hilfe und Unterstützung ihrer „Heimat“-Staaten agieren. Sie können sich nicht mehr auf die Verbreitung der Zivilisation, der Religion oder auf den Einfluß einer nationalen Kultur berufen. Sie geben zu, daß es ihnen nur um die Eroberung geht und rechtfertigen sie durch ein einziges Argument: Wenn wir es nicht machen, machen es die anderen.

Diese Eroberer, die dank ihrer Finanzmittel eine Strategie der Weltherrschaft verfolgen können, stellen die wirklichen Herren der Welt dar. Sie entscheiden über den Zugang zu den weltweiten Ressourcen, definieren Werte und Ziele, setzen Prioritäten, destabilisieren Institutionen und bestimmen die Regeln.

Niemals waren die Herren der Welt so gering an Zahl. Im Kommunikations- und Medienbereich sind es nur ein paar hundert Personen: Präsidenten und Vorstandsmitglieder der wenigen Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind: Elektronik, Informatik, Telekommunikation, Software, Radio und Fernsehen, Buch- und Zeitungsverlage, Vertrieb und Freizeit. Ein Viertel von ihnen sitzt in Europa, ein weiteres Viertel in Asien, der Rest in Amerika.

Unter Berücksichtigung der zwischen ihnen geschlossenen Allianzen kommt man auf zehn Unternehmensnetze, die weltweit operieren und mehr oder weniger miteinander verflochten sind – regelrechte Kampfmaschinen, deren alleiniges Ziel die Eroberung und Beherrschung neuer Märkte ist.

Die Großen Netze und ihre Verbündeten

ES gibt nur wenige Unternehmen, die, für sich betrachtet, als allmächtig angesehen werden können. Erst die Verflechtungen machen sie zu den tatsächlichen „Herren“ der neuen Welt. Die Eroberer profitieren dabei von der Unterstützung durch einige gesellschaftliche Gruppierungen. In erster Linie sind es die Planer und die leitenden Kräfte der technologischen Wissenschaften (Wissenschaftler, Forscher, Ingenieure und Intellektuelle), die den Eroberungsgeist legitimieren – im Namen des technischen Fortschritts, der in den „neu“ auf den Markt gebrachten Produkten und Dienstleistungen steckt. Diese gesellschaftliche Gruppierung agiert zusehends globaler. Ihre Zukunft hängt von den Forschungsmitteln ab, die ihrerseits immer stärker von den Privatunternehmen aufgebracht werden.

Ihren zweiten natürlichen Verbündeten finden die neuen Herren in den nationalen und internationalen Technobürokratien, in Gestalt hoher Beamter – staatlicher Manager sozusagen –, die die Regeln für das Funktionieren und die Kontrolle der eingesetzten Mittel festlegen. Sie sind in den gleichen Schulen und Universitäten ausgebildet worden wie die Manager der Privatunternehmen und gehören dem gleichen gesellschaftlichen Kulturkreis an. Sie stehen der Welt der Technologie und der technologischen Innovationen aufgeschlossen gegenüber, und sind sehr empfänglich für die Fortschrittssymbolik der Eroberungsstrategie.

Die dritte und letzte, scheinbar relativ heterogene Gruppe ist die Gruppe der Ideen-, Symbol- und Rhetorikproduzenten, der Medienvertreter und der Angehörigen des Bildungswesens, vor allem der Universitäten. Im Laufe der letzten zwanzig oder dreißig Jahre sind die wichtigen Medien in das herrschende System integriert worden und bringen der Öffentlichkeit die Ideologie der Eroberung nahe, die dabei als natürlich, ja sogar sympathisch präsentiert wird.

Eine besondere Kategorie sind die Finanziers, für die jede Eroberung der Logik des Raubens entspricht – der Planet Erde mit seinen Märkten verwandelt sich in einen Raum für unbegrenzte Profite: Das Sammeln wird zum Raubzug. Gewiß, es hat immer Räuber gegeben, aber die Tragweite ihrer Aktivitäten ist künftig eine andere. Sie stellen die Interessen und Lebensbedingungen von ein paar hundert Millionen Menschen in Frage. Und nichts, auch die Effizienz nicht, rechtfertigt irreparable soziale, politische und kulturelle Schäden.

Möglich wurden die Raubzüge nach der Freigabe der Kapitalbewegungen in den achtziger Jahren erst durch das Fehlen öffentlicher Kontrollen bei gleichzeitiger Wahrung des Bankgeheimnisses. Hinzu kommt die immer größere Rolle der Steuerparadiese, die oft als Ausgangsbasis und als Aufbewahrungsort der Beute dienen. Der Politiker wird als ohnmächtiger staatlicher Beobachter zu einer Art Kanzleibeamter, der die andernorts getroffenen Entscheidungen in seine Bücher einträgt. Geregelt wird alles von der Finanz- und Industriewelt.

Und so wird die Grenze zur Illegalität immer unklarer. Das Fehlen von Kontrollen begünstigt undurchsichtige Geschäfte. Die Abstürze, an die uns die Räuber in den letzten Jahren gewöhnt haben (Konkurs der amerikanischen Sparkassen, des Maxwell-Imperiums, Immobilienkrise, Zusammenbruch der Barings Bank, die Schwierigkeiten des Crédit lyonnais), zeigen, wie oft die Grenze zur Illegalität schon überschritten wurde.

Die Kriminalisierung der Weltwirtschaft schreitet voran. Der verbotene Handel mit Drogen und Waffen, mafiose Produktionsformen, Steuerhinterziehung, doppelte Rechnungsführung, schwarze Kassen in den Unternehmen sind altbekannte Phänomene. Neu ist, wie schnell sie sich ausbreiten – dank der weltumspannenden Produktions-, Transport-, Informations- und Kommunikationssysteme und dank der Liberalisierung im Finanzbereich. Die Computerkriminalität nimmt immer neue Formen an und vergrößert dabei unablässig ihre Möglichkeiten, Schaden zu verursachen. Über die aktive Verbreitung von Computerviren, den Datendiebstahl, die Umleitung von Geld und die Verletzung der Privatsphäre hinaus kann sie im Zusammenhang mit Militär-, Industrie- und Wirtschaftsspionage unabsehbare Konsequenzen haben.

Kontrollen sind dringend notwendig

SIND die neuen Herren der Erde nicht mehr zu kontrollieren? Gegenmittel existieren, und Handlungsmöglichkeiten gibt es in großer Zahl. Die ersten dringend gebotenen Maßnahmen wären: Wiedereinführung nationaler und internationaler Kontrollen, weltweite Besteuerung der Kapitalbewegungen, Abschaffung des Bankgeheimnisses und der Steuerparadiese, koordinierter Kampf gegen Spekulation und Steuerhinterziehung und internationale Aktionen nach dem Vorbild der italienischen „mani pulite“.

Ebenso müßte man die demokratische Kontrolle umfassender gestalten, indem man die existierenden Parlamente stärkt und neue repräsentative Foren für ganze Kontinente und für die ganze Welt schafft. Desgleichen sind die regierungsunabhängigen Organisationen zu stärken. Der Vorrang der Politik müßte auf allen Ebenen wieder durchgesetzt werden. Ebenso könnte man neue internationale Institutionen schaffen, zu einem Teil im Rahmen der Vereinten Nationen – zum Beispiel einen Wirtschaftssicherheitsrat, eine Weltaufsichtsbehörde für Datensicherheit und weitere Instanzen, die in der Lage wären, Menschheitsgüter (wie zum Beispiel das Wasser) zu verwalten, die Anwendung der Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Durchführung der 1992 beim Gipfel in Rio beschlossenen Maßnahmen zu überwachen.

Schließlich ließen sich die neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen, um den notwendigen Dialog zwischen den Kulturen in Gang zu setzen. So öffnen sich Perspektiven gegen die Imperative des Wettbewerbs und Wirtschaftskriegs – und damit für eine wirkliche internationale Zusammenarbeit.

1 Siehe Frédéric F. Clairmont und John Cavanagh, „Sous les ailes du capitalisme“, In: Le Monde diplomatique, März 1994.

2 Ein großer Teil der 1993 in China investierten 26 Milliarden Dollar stammt aus Asien. Siehe: J.R. Chapounière, „La délocalisation des emplois entre l'Union européenne et l'Asie du Sud-Est“, FAST-Bericht, Europäische Kommission, Brüssel, Dezember 1994, S. 4-5.

3 Zu den ersten Überlegungen über die Entmaterialisierung der Wirtschaft gehört: Mark Cantley und Ken Sargeant, „A Community Strategy for Biotechnology in Europe“, FAST- Programm, Europäische Kommission, Brüssel 1992. Ihr Ausgangspunkt ist das Beispiel der Biotechnologie.

4 Alvin Toffler, „Les Nouveaux Pouvoirs“, Fayard, Paris 1992.

(deutsch: Alvin Toffler, „Machtbeben. Der globale Vorstoß der Informationseliten“, Düsseldorf 1993.

5 Es geht dabei um die Idee des „prosumer“, eines Neologismus aus den beiden englischen Wörtern „producer“ und „consumer“. Entwickelt wurde sie in: Alvin Toffler, „La Troisième Vague“, Fayard, Paris 1995.

6 Vgl.: Les dossiers de l'Expansion, Les 1000, Nr. 487-488, 21. November 1994.

7 Siehe: Groupe de Lisbonne, „Limites de la compétitivité“, La Découverte, Paris 1995.

8 Philippe de Woot und Edoardo Arenas, „La Croissance externe“, FAST, Europäische Kommission.

9 Siehe das Dossier: „Un capitalisme hors de contrôle, in: Le Monde diplomatique, Juli 1994.

10 Riccardo Petrella, L'Evangile de la compétitivité, in: Le Monde diplomatique, September 1991. Ders., „Litanies de Sainte compétitivité, in: Le Monde diplomatique, Februar 1994.

Professor an der Katholischen Universität Leuven

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Riccardo Petrella