12.05.1995

Formen der Macht am Ende des 20. Jahrhunderts

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Formen der Macht am Ende des 20. Jahrhunderts

■ Wer sind im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert die wahren Herren der Welt? Wer besitzt in den demokratischen Industrienationen hinter den Kulissen wirklich...

Wer sind im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert die wahren Herren der Welt? Wer besitzt in den demokratischen Industrienationen hinter den Kulissen wirklich die Macht? Sobald man derlei Fragen stellt, kommt man zu dem Schluß, daß die Regierenden, die aus gigantischen Wahlkämpfen hervorgegangen sind, den neuen, globalen und gefährlichen Kräften ohnmächtig gegenüberstehen. Diese jedoch bilden durchaus nicht, wie es manche Zukunftsromane glauben machen wollen, eine Art geheimen Generalstab, der im verborgenen sein Komplott schmiedet, um die politische Kontrolle der Erde zu übernehmen. Eher handelt es sich um Kräfte, die in strikter Umsetzung der neoliberalen Dogmen ganz ungeniert agieren. Sie gehorchen exakten Losungen: Handelsfreiheit, Privatisierung, freie Wechselkurse, Wettbewerb, Produktivität. Ihr Slogan könnte lauten: „Alle Macht den Märkten!“

Die Wirtschaft, der Handel, die Medien, die wie viele andere Bereiche durch die neuen Technologien stimuliert worden sind, haben eine regelrechte Explosion hinter sich. Dadurch sind Wirtschaftsimperien eines neuen Typs entstanden, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, ihre Produktionsstätten auslagern und ihr Kapital mit Lichtgeschwindigkeit verschieben, um es auf der ganzen Welt zu investieren. Sie kennen keine Grenzen, keine Staaten, keine Kulturen. Sie spotten über die nationale Souveränität. Die sozialen Folgen kümmern sie nicht. Sie spekulieren gegen Währungen, provozieren Rezessionen und kanzeln die Regierungen ab.

Sofern diese nicht mit ihnen unter einer Decke stecken, scheinen sie handlungsunfähig geworden zu sein. Denn gerade jene Probleme, die – wie die Massenarbeitslosigkeit – durch die Geschäftemacherei der neuen Eroberer hervorgerufen wurden, sind auf nationalstaatlicher Ebene nicht zu lösen. Angesichts einer solchen Situation wächst das Mißtrauen der Bürger gegenüber den „Eliten“, und das Vertrauen in die Regierungen schwindet. Man fragt sich, welche politischen Reformen im internationalen Maßstab durchzuführen wären, wie ein Zusammenspiel derjenigen Kräfte, die auf der Strecke zu bleiben drohen, beschaffen sein könnte, um jene neuen Herren der Welt einer demokratischen Kontrolle zu unterziehen.

Von IGNACIO RAMONET

ES ist wie in einem Roman von Jorge Luis Borges: In einem fernen Reich hat ein glanzvoller und grausamer Herrscher, gebeugt von den Attributen seiner Macht und eingeschlossen in seinen prächtigen Palast, nicht wahrgenommen, daß die Welt um ihn herum sich unmerklich verändert hat. Bis der Tag der Entscheidung kam und er zu seinem höchsten Erstaunen merkte, daß seine Befehle nur mehr leere Geräusche waren, denen keine Handlungen folgten. Denn die Macht hatte sich verschoben, und der glanzvolle Herrscher war nicht mehr der Herr der Welt.

Laufen diejenigen, die sich nicht nur in Frankreich unendliche Redeschlachten im Wahlkampf liefern, um auf demokratische Weise an die Macht zu kommen, nicht Gefahr, im Falle eines Sieges eine ähnliche Enttäuschung zu erleben wie der Herrscher jener Fabel? Wissen sie, daß sich die Macht am Ende unseres Jahrhunderts verschoben hat? Daß sie jene festen Orte, die das Politische umschreibt, längst verlassen haben? Laufen sie nicht Gefahr, schon sehr bald nur noch ein Schauspiel ihrer Ohnmacht zu liefern? Werden sie dann nicht zum Herumlavieren und zum Rückzug gezwungen sein, wo nicht zum Renegatentum? Um schließlich festzustellen, daß die wirkliche Macht längst woanders liegt – außerhalb ihrer Reichweite?

Eine große französische Wochenzeitschrift veröffentlichte kürzlich eine Erhebung über die „50 einflußreichsten Männer der Erde“1: darunter kein Staatsoberhaupt oder Regierungschef, kein Minister oder Abgeordneter aus welchem Land auch immer. Vor ein paar Wochen hat ein anderes Blatt seine Titelstory dem „einflußreichsten Mann der Welt“2 gewidmet. Wer war's? William Clinton? Helmut Kohl? Boris Jelzin? Nein, sondern Bill Gates, der Boß von Microsoft, der die strategisch wichtigen Märkte der neuen Medien beherrscht und sich anschickt, die Datenautobahnen unter seine Kontrolle zu bekommen.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben die ungeheuren wissenschaftlichen und technischen Umwälzungen in mehreren Bereichen ein regelrechtes Doping der ultraliberalen Thesen vom Laissez-faire, Laissez-passer“ nach sich gezogen. Der Fall der Berliner Mauer, das Verschwinden der Sowjetunion und der Zusammenbruch der kommunistischen Regime haben sie noch bestärkt. Besonders der globale Datenaustausch hat sich durch die Revolutionen in Datenverarbeitung und Telekommunikation sagenhaft beschleunigt. Diese Revolutionen haben in zwei zentralen Bereichen des modernen Nervensystems – bei der Börse und im Datennetz – einen regelrechten big bang ausgelöst.3

Die Datenübertragung mit Lichtgeschwindigkeit (300.000 km/sec), die Digitalisierung von Texten, Bildern und Tönen, die heute schon alltägliche Fernübertragung durch Satelliten, die mobilen Telefone, die allgemeine Verbreitung von elektronischer Datenverarbeitung in den meisten Herstellungs- und Dienstleistungssektoren, die Tatsache, daß die Computer immer kleiner werden und weltweit vernetzt werden können – all das hat die bisherige Ordnung der Welt nach und nach auf den Kopf gestellt.

In erster Linie gilt das für die Finanzwelt. Denn hier vereinigen sich künftig vier Eigenschaften zu einem Modell, das den neuen Technologien vollkommen angepaßt ist: Stofflosigkeit und Unwandelbarkeit, Unmittelbarkeit und Allgegenwart. Gewissermaßen göttliche Attribute, die folgerichtig zu einem neuen Kultus, einer neuen Religion führen: zur Religion des Marktes. Auf der ganzen Welt werden rund um die Uhr Daten unverzüglich ausgetauscht. Die wichtigsten Börsen sind miteinander vernetzt und funktionieren als Schleife. Nonstop. Überall auf der Welt sitzen währenddessen Tausende von hochbegabten und -diplomierten jungen Leuten vor ihren Bildschirmen und hängen den ganzen Tag am Telefon. Sie sind die Geistlichen des Marktes. Sie legen die neue wirtschaftliche Vernunft aus, die stets recht behält und der sich jedes Argument – zumal sozialer oder humanitärer Art – zu beugen hat.

Meistens funktionieren die Märkte jedoch sozusagen blind, indem sie Parameter einbeziehen, die aus der Hexerei oder der Vulgärpsychologie stammen könnten, etwa: „die Ökonomie der Gerüchte, die Analyse des Herdentriebs oder die Untersuchung von Ansteckung durch Nachahmung...“4 Aufgrund seiner neuen Charakteristika hat der Spekulationsmarkt auch mehrere neue Produkte: die äußerst kurzlebigen und komplexen Derivate oder Futures. Nur wenige Experten kennen sich gut damit aus und können dadurch – natürlich nicht ohne Risiken, wie es der Zusammenbruch der britischen Barings Bank kürzlich gezeigt hat – einen beträchtlichen Vorsprung bei ihren Transaktionen gewinnen. Auf der ganzen Welt sind es kaum zehn5, die auf nutzbringende Weise – das heißt zu ihrem größtmöglichen Profit – Einfluß auf die Wechsel- oder Aktienkurse zu nehmen wissen. Sie gelten als die „Herren der Märkte“; ein Wort von einem ihrer Exponenten genügt, um alles umkippen zu lassen: der Dollar fällt, die Börse in Tokio bricht zusammen.

Angesichts der Macht dieser Spekulationsgiganten können die Staaten kaum etwas ausrichten. Das hat besonders die jüngste Kapitalkrise in Mexiko gezeigt, die über das Land Ende Dezember 1994 hereinbrach. Was vermögen die Devisenreserven der Vereinigten Staaten, Japans, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und Kanadas – der sieben führenden Industrienationen (G 7) – zusammengenommen schon gegen die geballte Ladung privater Investmentfonds, zumeist angelsächsischer oder japanischer Provenienz? Nicht viel. Denken wir nur einmal an die größte finanzielle Anstrengung, die je in der modernen Wirtschaftsgeschichte zugunsten eines Landes, in diesem Falle Mexikos, unternommen wurde: Die größten Staaten der Erde (darunter die USA), die Weltbank und der Internationale Währungsfonds haben gemeinsam etwa 50 Milliarden Dollar zusammengebracht. Eine beträchtliche Summe. Doch die drei größten amerikanischen Rentenfonds – die heutigen Big Three6 – Fidelity Investments, Vanguard Group und Capital Research & Management – kontrollieren allein schon 500 Milliarden Dollar7.

Die Geschäftsführer dieser Fonds konzentrieren in ihren Händen eine nie dagewesene Finanzmacht, die kein Wirtschaftsminister und kein Direktor der Weltbank besitzt8. Auf einem sofort reagierenden Weltmarkt kann jede unerwartete Bewegung dieser Spekulationsmammuts unmittelbar zur wirtschaftlichen Destabilisierung eines beliebigen Landes führen.

Im Januar 95 haben sich die politischen Köpfe der führenden Weltmächte mit den achthundertfünfzig wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungsträgern der Welt im Rahmen des Internationalen Forums in Davos (Schweiz) getroffen. Sie haben deutlich werden lassen, wie sehr sie der neumodischen Parole „Alle Macht den Märkten!“ mißtrauen und wie sehr sie die übermenschliche Macht jener Geschäftsführer der Fonds fürchten. Denn durch ihren sagenhaften Reichtum, der häufig in den Sicherheitszonen von Steuerparadiesen versteckt ist, können sie sich leichthin über jede Regierung hinwegsetzen und nach Belieben im Cyberspace der Geofinanz agieren. Dieser Cyberspace zieht auch neue Grenzen, steckt ein neues Gebiet ab, von dem das Schicksal eines Großteils der Welt abhängt. Hier gibt es keinen Gesellschaftsvertrag, hier gibt es weder Sanktionen noch Gesetze, außer denen, die seine Protagonisten zu ihrem größten Profit willkürlich festlegen.9

„Auf den Märkten wird täglich abgestimmt“, meint Georges Soros, Multimilliardär und Finanzier, „und dadurch werden Regierungen zu Maßnahmen gezwungen, die zwar unpopulär, doch unerläßlich sind. Denn gerade auf den Märkten entwickelt sich ein Gespür für den Staat.“10 Darauf antwortet Raymond Barre, der frühere französische Premierminister und große Verfechter des wirtschaftlichen Liberalismus: „Man kann die Welt gewiß nicht mehr den Händen einer Bande verantwortungsloser Dreißigjähriger überlassen, die nur ans schnelle Geld denken.“11 Für Raymond Barre besitzt das internationale Währungssystem nicht die institutionellen Mittel, die geeignet wären, den Herausforderungen der Globalisierung und der allgemeinen Öffnung der Märkte die Stirn zu bieten. Das stellt auch UNO-Generalsekretär Butros Butros-Ghali, fest: „Die wirklichen globalen Machtverhältnisse entgleiten weitgehend den Staaten, denn man kann davon ausgehen, daß durch die Globalisierung neue Formen der Macht auftauchen, die über staatliche Strukturen hinausgehen.“12

Unter diesen neuen Mächten erscheint die der Massenmedien als eine der stärksten und gefährlichsten. Der Kampf um Einschaltquoten im globalen Maßstab nimmt zuweilen die Züge homerischer Schlachten an. Die Konzerne führen einen Kampf auf Leben und Tod, um sich die Rechte an Multimedia und am Zugang zu den Datenautobahnen zu sichern, wobei die letzteren, in den Worten des amerikanischen Vizepräsidenten Albert Gore, „heute für die USA dieselbe Bedeutung haben wie in den fünfziger Jahren die Highways“.

Zum ersten Mal in der Weltgeschichte richten sich die Botschaften (Informationen und Schlager) – auf dem Umweg über Fernsehsender, die durch Satelliten übertragen werden – ununterbrochen an die ganze Welt. Zur Zeit gibt es erst zwei globale Sender – Cable News Network (CNN) und Music Television (MTV) –, doch morgen werden es Dutzende sein. Sie werden die Lebensgewohnheiten und die Kulturen, die Denkweisen und die Debatten grundlegend verändern; sie werden an der Sprache und am Verhalten der Politiker schmarotzen oder diese kurzschließen. „Konzerne, die mächtiger sind als die Staaten“, schreiben zwei französische Essayisten, „fallen über das kostbarste Gut der Demokratien her: die Information. Werden sie ihr Gesetz nun der ganzen Welt aufzwingen oder, umgekehrt, für den Bürger einen neuen Freiraum schaffen?“13

Weder Ted Turner von CNN noch Rupert Murdoch von der News Corporation Limited, weder Bill Gates von Microsoft noch Jeffrey Vinik von Fidelity Investments, weder Larry Rong vom China Trust & International Investment, weder Robert Allen von ATT noch Georges Soros oder ein paar Dutzend andere jener wirklichen Herren der Welt haben ihre Projekte je von der allgemeinen Zustimmung abhängig gemacht. Die Demokratie betrifft sie nicht; sie sind über die endlosen Diskussionen erhaben, in denen Begriffe wie Gemeinwohl, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit noch etwas bedeuten. Sie haben keine Zeit zu verlieren. Ihr Geld, ihre Produkte und Ideen überwinden mühelos die nationalen Grenzen, die es auf dem Weltmarkt nicht mehr gibt.

In ihren Augen steht die politische Macht erst an dritter Stelle. An erster Stelle steht die wirtschaftliche, dann kommt die Macht der Medien. Und wenn man diese beiden besitzt – wie es in Italien Silvio Berlusconi im vergangenen Jahr gezeigt hat –, dann wird die politische Machtergreifung zur bloßen Formalität.

1 Le Nouvel Observateur, 5. 1. 1995

2 Le Point, 4. 3. 1995

3 Vgl. dazu: Alvin Toffler, „Machtbeben. Der globale Vorstoß der Informationseliten“, Econ 1993; Alvin u. Heidi Toffler, „Überleben im 21. Jahrhundert?“, DVA 1994; Paul Kennedy, „In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert“, Fischer 1993.

4 Pierre Henry de Menthon, „Les dix qui font grimper les taux“ [Die zehn, die die Zinsen in die Höhe treiben], Le Nouvel Économiste, 6.1.1995

5 Ibid

6 Zwischen den dreißiger und siebziger Jahren war The Big Three die Bezeichnung für die drei größten amerikanischen Autohersteller: General Motors, Chrysler und Ford.

7 „1995 Mutual Fund Guide“, US News and World Report, 6. 2. 1995.

8 Vgl. Eric Leser, „Le pouvoir sans partage des deux cents gérants“ [Die ungeteilte Macht von 200 Geschäftsführern], Le Monde, 28.1.1995.

9 Daher ist es nicht erstaunlich, daß, besonders in den USA, die Kluft zwischen Armut und Reichtum ständig größer wird. So stellt die International Herald Tribune vom 19. 4. 1995 fest, daß „1 Prozent der vermögendsten Personen ca. 40 Prozent des nationalen Reichtums kontrollieren, zweimal soviel wie in Großbritannien, dem Land mit der größten sozialen Ungleichheit in Westeuropa“.

10 La Repubblica, 28.1.1995

11 Christine Mital, „Au rendez-vous des maitres du monde“ [Ein Treffen mit den Herren der Welt], Le Nouvel Observateur, 9. 2. 1995.

12 Le Figaro, 28. 1. 1995

13 Renaud de la Baume und Jean-Jérôme Bertolus, „Les Nouveaux Maitres du monde, Belfond, Paris 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Ignacio Ramonet