12.05.1995

Die drei Modelle

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Die drei Modelle

VOR wenigen Jahren noch waren Untersuchungen zum rechtlichen und gesellschaftlichen Status von Immigranten in Europa wenig verbreitet – heute gibt es dafür eine regelrechte Konjunktur. Meist behandeln sie die Gemeinschaften aus dem arabisch-moslemischen Kulturkreis. Der von Roger Bistolfi und François Zabbal herausgegebene Sammelband1 ermöglicht dem Leser, sich von den unterschiedlichen politischen Ansätzen der verschiedenen Staaten ein Bild zu machen. Bistolfi analysiert sie in seiner ausführlichen und fundierten Einleitung.

Da sind zunächst einmal die Unterschiede zwischen den einzelnen Immigrantengruppen. Die Geschichte der Migrationen hat sie in verschiedene Schichten aufgefächert, nach Herkunft, Nationalität, gesellschaftlicher Rolle und religiöser Zugehörigkeit, mit den jeweiligen Lebensbedingungen und Folgen. Hinzu kommen die eher lockeren Organisationsformen in der muslimischen Welt (die Schwierigkeiten der französischen Regierung, einen „Gesprächspartner“ zu finden, sind da symptomatisch). Aber auch die Gastländer sind ihrerseits keineswegs monolithisch: Jedes hat seine eigene Tradition. Frankreich und Griechenland etwa stehen sich in der Frage des Verhältnisses von Staat und Religion als zwei Extreme gegenüber. Schwierig ist auch ein Vergleich zwischen der französischen Tradition der Assimilation und der niederländischen Theorie der „Pfeiler“, die auf einer kollektiven Organisation der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen beruht. Der Sammelband zeigt diese Unterschiede auf, bevor er sich in Einzelstudien den europäischen Staaten widmet: Frankreich, Belgien, Großbritannien, Niederlande, Deutschland, Spanien, Italien, Griechenland.

Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Ländern nicht willkürlich. Drei Typen offizieller Haltungen in den Gastländern lassen sich feststellen. Die Assimilation, die lange Zeit die französische Position charakterisierte: die Anerkennung des anderen setzt hierbei voraus, daß er auf seine Besonderheiten verzichtet. Die Eingliederung nach dem britischen oder niederländischen Modell: sie beharrt im Gegenteil auf dem Respekt vor den Besonderheiten. Und drittens die Integration, wie sie zur offiziellen Doktrin in Frankreich geworden ist: die Anerkennung der Grundwerte der Gastgesellschaft wird nach wie vor gefordert, aber der Akzent wird auf den prozeßhaften Charakter der Integration und auf die kulturelle Vermischung gelegt.

Rechtlich können sich die Immigranten nicht auf den Minderheitenstatus berufen, denn der kann nur gewährt werden, wenn sie die Nationalität des Gastlandes angenommen haben. Das Völkerrecht (1992 verabschiedete die UNO eine „Erklärung über die Rechte von Personen, die Minderheiten angehören“) und das europäische Recht (der Europarat hat zu Beginn dieses Jahres einen Rahmenvorschlag über den Schutz von Minderheiten vorgelegt, dessen Unterzeichnung Frankreich bisher verzögert) suchen im Umgang mit dem Fremden einen Mittelweg zwischen den Modellen von Integration und Eingliederung. Man kann allerdings die Frage stellen, ob sich die unterschiedlichen theoretischen Haltungen in der Praxis nicht eher verwischen. In Frankreich zeigt sich ganz deutlich, daß die Mehrheit der Bevölkerung – trotz wohlmeinender Dekrete des „Haut Conseil à l'intégration“ (Hoher Rat für die Integration) – eher dem Modell der Assimilation als dem der Integration anhängt.

Darüber hinaus scheint die allgemeine Tendenz von dem Gedanken der Multikulturalität immer deutlicher abzurücken. Roger Bistolfi zeigt, wie die Niederlande und Großbritannien auf die Gefahren der Abkapselung von Einwanderergruppen reagieren. Ein Phänomen, das sich übrigens weniger aus einer inneren Problematik der Multikulturalität erklärt als aus den Verbeugungen der Regierungen vor dem Neoliberalismus der achtziger Jahre. Es ist übrigens auch darauf hinzuweisen, daß das französische Modell, trotz einiger historischer Belastungen, durchaus zu einer gewissen Flexibilität fähig ist.2

Zwischen den europäischen Staaten scheint sich eine Annäherung abzuzeichnen – wünschenswert wäre, daß sie zu einem Mittelweg zwischen individualistischen und kommunitären Konzepten führt. Aber wie auch immer die Modelle aussehen: ehrliche Juristen geben zu, daß es nicht so sehr auf die Regeln ankommt. Wichtiger ist, was die Leute daraus machen.

NORBERT ROULAND

1 „Islams d'Europe. Intégration ou insertion communautaire?“, hg. von Roger Bistolfi und François Zabbal, Éditions de l'Aube, La Tour d'Aigues, 1995, 382 S., 160 F.

2 Vgl. Norbert Rouland, „La tradition juridique française et la diversité culturelle“, in: Droit et Société, 27/1994, S. 381–419.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Norbert Rouland