12.05.1995

Wie ich den Aufstieg der Nazis erlebte

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Wie ich den Aufstieg der Nazis erlebte

■ Gunter Holzmann ist 1912 in Breslau (dem heutigen polnischen Wroclaw) geboren, einer Stadt im damalig deutschen Schlesien. Seine Familie gehörte...

Gunter Holzmann ist 1912 in Breslau (dem heutigen polnischen Wroclaw) geboren, einer Stadt im damalig deutschen Schlesien. Seine Familie gehörte zum dortigen jüdischen Bürgertum. Als nationaler Führer einer linken Jugendorganisation erlebt er den Aufstieg des Nationalsozialismus und wird zum unmittelbaren Zeugen der politischen Gewalt, die Hitlers Gefolgsleute in jener Zeit in Deutschland schüren. Sehr früh schon stößt er mit den Nationalsozialisten zusammen, die er zuerst offen, später aus dem Untergrund heraus bekämpft. Aufgrund der ersten antisemitischen Gesetze, die die Zahl der an den Universitäten zugelassenen jüdischen Studenten begrenzen, ist er gezwungen, zur Fortsetzung seines Studiums nach England zu gehen. Er studiert Medizin in Cambridge. Schließlich geht er endgültig ins Exil, um den Verfolgungen und der Bedrohung, in die Todeslager deportiert zu werden, zu entgehen. Er emigriert zunächst nach Peru und später nach Bolivien.

In Lateinamerika führte Gunter Holzmann ein engagiertes und aufregendes Leben. Er ist nacheinander Forschungsreisender und Ethnologe, Archäologe und Naturforscher, Goldsucher und Schriftsteller gewesen; daneben hat er lange Jahre über die Therapie der Arthritis geforscht. Seit Anfang der fünfziger Jahre lebt er im bolivianischen Santa Cruz; dort hat er unter anderem die Alliance Française und das Maison de la Culture gegründet. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, insbesondere „Se acabaron los carretones“ (Santa Cruz, 1991). Mit Hubert Beuve-Méry, dem Gründer von Le Monde diplomatique, dessen publizistisches Konzept er stets unterstützt hat, unterhielt er jahrelang einen Briefwechsel. Zur Zeit beendet Gunter Holzmann seine Memoiren. Im folgenden veröffentlichen wir noch nicht erschienene Auszüge daraus über einen kurzen Abschnitt seines Lebens, von 1932 bis 1934. „Am Anfang nahmen nur wenige die wilden Drohungen Hitlers und seiner Gefolgsleute ernst“, schreibt er. Denn: „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, sagte man sich.“

Von GUNTER HOLZMANN

ÜBERALL Stiefel. Um 1932 schossen sie in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden, die Männer mit den braunen Hemden und den blankgeputzten Stiefeln. Stiefel, um zu marschieren, mit entschlossenem, kraftvollem Schritt, mit männlicher, martialischer Gebärde. Stiefel, um alles niederzutrampeln, um zu treten und zu zertreten.

Erst waren es kleine Banden, dann ganze Bataillone, Regimenter, eine Horde aggressiver, bedrohlicher Sturmtruppen (die SA), die in perfekter militärischer Formation singend aufmarschierten. Woher kam das Geld zur Ausrüstung und zum Unterhalt jener tatsächlichen Privatarmee Hitlers, die mit Gewalt und unter dem geheimen Einverständnis von Polizei und Behörden allmählich in den Städten und Dörfern die Straßen beherrschten? Die Angst vor dem Kommunismus trieb die Wohlhabenden dazu, die Partei der Nationalsozialistenmit hohen Geldsummen zu unterstützen.

Das braune Hemd überzustreifen schien die Männer mächtig und einig zu machen im Kampf für eine höhere Sache; es nahm ihnen ihre Frustrationen und verschaffte ihnen außerdem Essen, Bier und ein Gefühl von Straffreiheit. Viele junge Arbeitslose, die unpolitisch waren und ohne Hoffnung in die Zukunft sahen, schlüpften nur zu bereitwillig in die Uniform dieser Sturmtruppen. Und wurden mit der Verherrlichung von Haß und Gewalt indoktriniert.

Ich lebte in Breslau, meiner Geburtsstadt, und jene Gruppierung der deutschen Jugendbewegung, der ich angehörte, nannte sich Kameraden. Wir waren beinahe ausschließlich junge deutsche Juden, Kinder einer assimilierten, im Wohlstand lebenden gesellschaftlichen Schicht. Wir praktizierten weder die jüdische Religion noch die jüdischen Traditionen; und wir setzten uns deutlich ab von den zionistischen Strömungen, die die Existenz eines jüdischen Volkes proklamierten, dessen Heimstätte sich in Palästina befände. Unsere Kultur, unsere Erziehung, unsere Nationalität waren deutsch.

Verständlicherweise veränderte sich diese Situation, je mehr der von den Nazis zum Dogma erhobene Antisemitismus sich im Alltag in Deutschland einnistete.

Anfangs nahmen wenige Menschen die wilden Drohungen Hitlers und seiner Gefolgsleute ernst. Die Sturmtruppen sangen: „Wenn's Judenblut vom Messer spritzt, geht's uns noch mal so gut!“ Doch niemand nahm derartige Monstrositäten wörtlich, weil sie in einer so gesitteten und zivilisierten Nation wie dem damaligen Deutschland einfach unvorstellbar waren. Es konnte sich nur um primitive und geschmacklose Propaganda handeln, um die niederen Instinkte der Massen zu befriedigen. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, sagte man sich.

Doch allmählich setzte sich das verbrecherische Räderwerk in Bewegung: Diskriminierung, Boykott, Verfolgung, Enteignung, Deportierung, Vernichtung. Die gesamte ehrbare kapitalistische Welt – der Vatikan inbegriffen – wohnte der Entwicklung mit nicht gerade ruhigem Gewissen bei; sie befürwortete sie nicht gerade und hielt sie auch nicht für notwendig, sie hütete sich jedoch, zugunsten der Opfer zu intervenieren, um dem Hauptziel nicht im Wege zu stehen: dem Kreuzzug gegen den Kommunismus. Wenn einige Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder sterben sollten, war es zwar sehr bedauerlich, aber man mußte eben die Augen schließen. Der Zweck heiligt die Mittel.

Während des Wahlkampfes 1932, ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, besaß ich die Kühnheit, mich in eine von der nationalsozialistischen Partei organisierte Veranstaltung einzuschleichen, auf der Adolf Hitler eine Rede halten sollte. Ich wollte begreifen, weshalb diese Person eine derart unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Massen ausübte. Der ungeheuer große Saal war mit riesigen Hakenkreuzen geschmückt. Tausende von Menschen aus den verschiedensten sozialen Milieus drängten sich bis zu den Türen. Die strategisch plazierten Saalordner setzten sich aus Mitgliedern der SA zusammen, die braune Hemden und einen langen Dolch an der Seite trugen; sie kontrollierten die Ein- und Ausgänge. Ein Orchester in Uniform spielte Militärmärsche. Einige Redner stiegen auf die Bühne und hielten Ansprachen an die Menge, um den Saal aufzuheizen. Sie beschimpften und verfluchten Juden, Jesuiten und Freimaurer und klagten diese an: als die wahren Schuldigen an der schändlichen Niederlage von 1918; als Wegbereiter des Kapitalismus, Kommunismus und sämtlicher Leiden Deutschlands. Sie versprachen einen gnadenlosen Kampf gegen diese Kräfte des Bösen.

Nach mehreren Stunden unerträglichen Wartens hatte der Führer endlich seinen theatralischen Auftritt im Saale – unter dem tosenden Beifall der Menge, die stehend aus voller Kehle die Nationalhymne sang. Die Stimmung war bereits am Siedepunkt angekommen.

Die berühmte Gestalt lief schnell die Stufen zum Podium hinauf. Intuitiv spürte ich, daß die Person vor mir ein Hochstapler sein mußte. Körperlich wirkte er schmächtig und schwächlich und ähnelte in nichts den starken blonden Helden aus der germanischen Mythologie, die die Nazis so sehr verehrten. In seiner braunen Uniform sah er nachgerade auas wie die Karikatur eines Soldaten.

Er begann zu gestikulieren und zu zetern, wobei er zeitweise wahre Höhepunkte von Haß und Hysterie erreichte und auf die Massen eine unglaubliche hypnotische Wirkung ausübte. Die Menschen ließen sich von dieser üblen, fanatischen Rhetorik mitreißen, insbesondere die Frauen, von denen einige in einen Zustand völliger Ekstase gerieten. Er versprach jedem das, was er sich wünschte; den Armen Brot und Arbeit; den Reichen noch größere Gewinne und Deutschland eine ruhmreiche Zukunft. Das Wichtige war nicht, was er sagte, sondern die Art, wie er sprach.

Hier im Raum hatte ich erstmals eine Vorahnung, welch entsetzliche Katastrophen eine derartig fanatisierte Masse auslösen könnte. Dieser Mann schien von einer diabolischen Kraft besessen zu sein, die in der Lage war, die Welt zu verheeren. Er erinnerte mich an Savonarola, jenen blutgierigen, charismatischen Mönch, der die Massen von Florenz zur Zeit der Inquisition dazu brachte, Häretiker und Hexen verbrennen zu lassen. Es war ein erschreckender, abstoßender Anblick; und beim Hinausgehen dachte ich, wie sehr dieser delirierende Saal doch von einer ziemlich kranken Welt zeugte.

Damals kümmerte ich mich intensiv um die Anleitung der Fraktion Das schwarze Fähnlein, die sich von den Kameraden losgelöst hatte und innerhalb der deutschen Jugendbewegung einen autonomen Weg eingeschlagen hatte.

Trotz ihrer Erfolge war die nationalsozialistische Partei noch nicht an die Macht gelangt, und die Mehrheit des deutschen Volkes hielt sich nicht an die antisemitischen Anweisungen; es lehnte sie sogar ab, so daß ich bis 1934 persönlich keine Diskriminierung erfahren habe.

Im Vergleich zu dem, was später geschah, schienen die ersten, bereits Anfang 1933 beschlossenen antijüdischen Maßnahmen gemäßigt und eher verbal zu sein. Am 30. Januar wurde Hitler zum Kanzler ernannt; am 23. März wurde das Ermächtigungsgesetz verabschiedet.Zur großen Freude ihrer bürgerlichen und konservativen Verbündeten konzentrierten die Nazis ihre Aktivitäten darauf, Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter zu verhaften, foltern und umzubringen, um zuerst mit jeder organisierten Opposition aufzuräumen. Einige Geschichtsfälscher haben uns glauben machen wollen, das ganze deutsche Volk sei einvernehmlich dem Führer gefolgt; dies zu sagen bedeutet zu vergessen, daß Hitler, um die Macht zu erobern und zu behalten, zunächst Zehntausende von Deutschen umbringen ließ.

Eine der ersten Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung war die Auflösung der unabhängigen Organisationen der deutschen Jugend, die alle, per Erlaß, in die Hitlerjugend zwangseingegliedert wurden. Wir, wie einige andere Gruppierungen auch, verweigerten uns diesem Diktat einer einheitlichen Staatsjugendorganisation und befanden uns fortan in der Illegalität. Nunmehr setzten wir unsere Aktivitäten im Untergrund fort.

Ein Ausflug in die Höhle des Löwen

IN dieser gefährlichen und konfusen Umbruchsituation beging ich eine meiner größten Dummheiten. Niemand wußte, wohin sich Deutschland bewegte. Die Kommunisten hatten den fatalen Irrtum begangen, die Sozialdemokratie als ihren Hauptfeind zu bekämpfen; aus diesem Grund hatten sie sogar den Wahlsieg der Nazis indirekt begünstigt. Naiverweise hatten sie geglaubt, daß, wenn die Nazis erst an der Regierung wären, sie ihre demagogischen Wahlversprechungen nicht würden halten können und kläglich scheitern würden. Dann – so dachten sie – würde der Weg frei sein für die proletarische Revolution.

Auch die reaktionäre Bourgeoisie glaubte, die nationalsozialistische Dynamik im Griff zu haben, und niemand nahm die antisemitischen Drohungen wörtlich, die – wie allgemein angenommen – nur auf ein paar jüdische Spekulanten gemünzt schienen, die ohnehin von ihren eigenen Glaubensbrüdern hart kritisiert wurden.

Innerhalb der Nazi-Partei selbst gab es verschiedene Strömungen, und zahlreiche Mitglieder verurteilten die Exzesse im aufrichtigen Glauben, alles werde sich zugunsten der Vernunft und der Gerechtigkeit wieder einrenken. Außer einem kleinen Kreis der um Adolf Hitler versammelten Fanatiker und Zyniker hatte niemand eine Ahnung von den sich anbahnenden Schrecken der Zukunft, die in dem entsetzlichsten Verbrechen der deutschen Geschichte und in der Vernichtung von Millionen europäischer Juden münden sollte.

In dieser Situation beschloß ich mit einer gehörigen Portion Leichtsinn, den Stier bei den Hörnern zu packen und nach Berlin zu fahren, um den Jugendführer des deutschen Reiches, Baldur von Schirach, zu einem persönlichen Gespräch aufzusuchen.

In Begleitung eines meiner Kameraden, Heinz Goldner, wurde ich beim Hauptquartier der Nazi-Partei in Berlin vorstellig. Ohne allzu viele Schwierigkeiten gelangten wir ins Innere des imposanten, mit riesigen Hakenkreuzen geschmückten und von den furchterregenden Sturmtruppen geschützten Gebäudes. Wir erreichten den Vorraum der Abteilung der Hitlerjugend, wo uns mehrere Kerle mit brutalen Gesichtern und mürrischen Umgangsformen den Weg versperrten. Trotz ihrer braunen Uniform, ihren braunen Stiefeln und dem Dolch am Gürtel glichen sie eher Straftätern oder gedungenen Mördern.

Ich machte mir mein schauspielerisches Talent zunutze und verlangte in hochmütigem Ton und mit der Gebärde eines Kommandanten ein Gespräch mit ihrem obersten Chef, Baldur von Schirach. Die stämmigen Kerle waren leicht perplex und schwankten, ob sie mich in Stücke reißen oder vorbeiziehen lassen sollten. Schließlich leiteten sie mein Gesuch weiter, und wenige Augenblicke später wurden wir höchstpersönlich von Baldur von Schirachs Stellvertreter empfangen. Schirach selber war nicht da.

Der magere und kleinwüchsige, mit äußerster Sorgfalt gekleidete Mensch trug keine Uniform; er war in Zivil und wußte sichtbar nicht, was er mit uns anfangen sollte. Unser Eindringen in diese Welt verdutzte ihn. Er hörte mir zu, behandelte mich mit gewisser Höflichkeit und versprach, unser Ersuchen nach einer Revision der Nazi-Politik gegenüber unabhängigen Jugendbewegungen seinem Vorgesetzten zu unterbreiten. Ich bin mir sicher, daß er sich gehütet hat, unseren ungewöhnlichen Besuch bei seinem Chef auch nur zu erwähnen, geschweige denn unsere ungehörige Forderung wiederzugeben. Wir verließen das Hochhaus mit all diesen Hakenkreuzfahnen, Uniformen und zum Gruß erhobenen Händen mit dem Gefühl, in der Höhle des Löwen die Bestie am Schwanz gezogen zu haben. Wir wußten genau, daß wir ein großes, sinnloses Wagnis eingegangen waren.

Zumal das Nazi-Regime gerade eine gefürchtete Geheimpolizei, die Gestapo, aufgebaut hatte, die zu jeder Uhrzeit in die Wohnungen eindringen und Menschen mit oder ohne Grund einsperren konnte. Mein Onkel Nathan, ein harmloser, pazifistischer, aufrichtiger und gütiger Mann, der sich nie um Politik gekümmert hatte, wurde eines Tages grundlos von der Gestapo verhaftet. Einige Wochen später erhielt seine Frau eine Urne, die seine Asche enthielt, sowie einen Zettel, der sie vom Ableben ihres Mannes in Kenntnis setzte. Als die Schergen einige Tage später wiederkamen, um auch sie zum Verhör abzuholen, zog diese mutige Frau es vor, sich das Leben zu nehmen.

In dieser Atmosphäre hatte ich die wichtigsten Genossen in Deutschland zu einem Treffen unserer Organisation nach Beuthen, eine Kleinstadt in Schlesien, eingeladen. Obwohl illegal, fand die Zusammenkunft im Rahmen eines Urlaubslagers zwischen Zelten, Spiel- und Sportgeräten statt. Am zweiten Tag, als wir zu etwa fünfzig Leuten in einer Scheune eine Versammlung abhielten, wurde plötzlich heftig an der Tür geklopft. Krachend gab die Tür nach, und etwa zwanzig Gestapo-Männer standen um uns herum. Sie bedrohten uns mit ihren automatischen Waffen, den Finger am Abzug. Sie erkundigten sich, wer der Anführer sei. Ich trat sofort vor und fragte sie mit vorgetäuschter Überraschung, ob sie nicht wüßten, daß das Ministerium unser Treffen offiziell genehmigt hätte. Sie waren zwar baß erstaunt, ließen uns jedoch in zwei offene Militärlastwagen einsteigen, um uns zur Gestapo zu bringen. So durchquerten wir die Stadt, gut bewacht von den Männern der gefürchteten Geheimpolizei, während unsere Fahne bis zum Gestapo- Gefängnis triumphierend im Wind wehte.

Innerhalb der schauerlichen Festung angekommen, wurde ich sofort dem Leiter vorgeführt, einem dicken, ziemlich brutalen Beamten, der mich wütend und wie ein Besessener brüllend empfing. Ich war ziemlich verzweifelt, begann jedoch noch lauter zu schreien als er. Hatte er etwa die Genehmigung nicht gelesen, die ihm das Ministerium zugesandt hatte? Ich drohte ihm lautstark, seine Vorgesetzten über die Art, wie wir behandelt wurden, in Kenntnis zu setzen. Ich verlangte, sofort mit Berlin in Verbindung gesetzt zu werden. Verwirrt und mißtrauisch versuchte der Verantwortliche, den Minister ans Telefon zu bekommen, was ihm natürlich nicht gelang. Und so beschloß er schließlich, uns gehen zu lassen.

Wir waren noch einmal davongekommen; unser Schicksal hätte tragisch besiegelt sein können, denn bis auf eine Ausnahme waren wir alle Juden. Unser nichtjüdischer Genosse, der Rautenberg alias „Raute“ hieß, war Mitglied der aufgelösten Kommunistischen Partei und trug ein Heftchen voller Notizen bei sich, dessen Entdeckung fatal gewesen wäre. Nach dieser erschreckenden Erfahrung beschlossen wir, alle unsere Aktivitäten einzustellen und nur noch unter Einhaltung äußerster Vorsichtsmaßnahmen untereinander zu kommunizieren.

Die antisemitische Verfolgung, die nun losging, traf bei der Mehrheit des deutschen Volkes nicht auf das von den Nazis gewünschte Echo. Die Übergriffe waren meistens von der nationalsozialistischen Partei inspiriert und organisiert. Die Bevölkerung beteiligte sich kaum, zahlreiche Bürger distanzierten sich, und einige wagten sogar, offen ihre Mißbilligung kundzutun. Sämtliche Beamte, an erster Stelle die Polizisten, waren auf die neue Ordnung vereidigt worden, auch wenn sie mit deren Ideen nicht übereinstimmten. Selbst einige derer, die aus freien Stücken die Nazi-Uniform trugen, teilten den antisemitischen Haß nicht. Innerhalb der Sturmtruppen gab es diverse eingeschleuste Kommunisten, in der Volkssprache „Nazisteaks“ genannt – außen braun, innen rot.

Eine der ersten diskriminierenden Maßnahmen gegen die Juden war der auf nationaler Ebene organisierte Handelsboykott. Kein Deutscher durfte in einem Geschäft einkaufen, das einem Juden gehörte. Zu diesem Ziel hatte die SA überdimensionale, beleidigende und demütigende Parolen auf die Schaufensterscheiben geschmiert. Weil die Menschen sie nicht besonders beachteten und weiter ihre Besorgungen in den ihnen vertrauten Läden machten, wurden zur Abschreckung der Kaufwilligen SA-Abordnungen vor den Eingängen postiert. Sie gingen so weit, diejenigen, die sich trotzdem hineinwagten, zu fotografieren, sie als „Schweinehunde“ und „Verräter“ zu beschimpfen und ihnen ins Gesicht zu spucken.

Eines Morgens wurde ich Zeuge einer ungewohnten Szene. Vor dem größten Laden unserer Stadt hielt ein Lastwagen der Wehrmacht. Offiziere sprangen herab und gingen festen Schrittes an den vor der Tür postierten SA-Männern vorüber, die ohne Protest beiseite traten. Kurz darauf verließen die Männer wieder den Laden, ihre voluminösen Einkaufspakete für alle sichtbar unter dem Arm.

Ein untypischer SS-Mann

MEIN Vater war Besitzer eines schönen vierstöckigen Hauses, das in der besten Wohngegend von Breslau lag. In diesen Erwerb hatte er alle Ersparnisse eines langen Lebens von anständiger, selbstloser Arbeit gesteckt. Er vermietete die Wohnungen mit Ausnahme von der im ersten Stock, die wir selber bewohnten.

Eines Tages, ich war zu Hause, sahen wir, wie ein riesiger schwarzer Wagen mit den Emblemen der SS vor unserer Tür hielt. Ein hochgewachsener Offizier stieg aus dem Automobil und betrat das Haus. Die SSler waren noch gefürchteter als die SA oder die Gestapo. Sie stammten beinah ausnahmslos aus den oberen Schichten, trugen schwarze, sehr elegante Uniformen und einen Totenkopf auf der Mütze, der einen an den furchtbaren Satz des faschistischen spanischen Generals Queipo de Llano, „Viva la muerte!“, denken läßt. Allen voran die SS war es, die später in den besetzten Gebieten und in den Vernichtungslagern die grausamen Verbrechen begingen.

Als wir es an unserer Wohnung läuten hörten, war mein Vater überzeugt, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Wir öffneten, und vor uns stand ein etwa vierzigjähriger Mann, der untadelig mit der Uniform des Todes bekleidet war und höflich darum bat, ob er hereinkommen dürfe. Er sagte uns, er habe erfahren, daß in unserem Haus eine Wohnung frei sei, und er wolle gerne mit seiner Familie hier einziehen. Konsterniert fragte ihn mein Vater, ob er denn wisse, daß er, der Besitzer, Jude sei. „Ja“, antwortete der Mann und führte aus, daß er gerade aus diesem Grunde bei uns einziehen wolle. Er bat um die Erlaubnis, sich zu setzen, und vertraute uns an, daß er das Regime verabscheue, seine hohe Stellung in der öffentlichen Verwaltung ihn jedoch dazu genötigt habe, der Nazi-Partei beizutreten und sich der SS anzuschließen. Der Oberst zog in unser Haus ein und schützte meine Eltern bis zu ihrer Abreise ins Exil.

Weniger als einen Häuserblock von unserem Haus entfernt, am Hindenburgplatz, lag das Generalquartier der Sturmtruppen. Dieser Platz wechselte mehrmals seinen Namen im Auf und Ab der Geschichte. Früher hieß er Kaiser-Wilhelm-Platz, und später wurde er in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.

Edmund Heines, der Führer der SA in Breslau, war eine pittoreske Figur. Er, der schon im Baltikum in den antikommunistischen Freikorps gegen die Sowjetunion gekämpft hatte, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde. Er hatte er sein Leben unter Waffen, in Gefängnissen und Kasernen zugebracht. Er war ein Säufer, sexuell pervers, ein Rauschgiftsüchtiger und Außenseiter, der das Bürgertum tief verachtete, jedoch, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Hälfte seines Lebens darauf verwendet hatte, es zu verteidigen. Von ihm wurde erzählt, er sei einmal anläßlich einer offiziellen Feier vollkommen betrunken auf die Bühne gestiegen. Statt seine Rede zu beginnen, habe er seinen Hosenlatz aufgeknöpft und auf die Köpfe der in der ersten Reihe sitzenden ehrwürdigen Vertreter der Gesellschaft uriniert. Diese erbärmliche Figur wurde von seinen Truppen verehrt und war außerdem soeben zum Polizeichef ernannt worden.

In der Nacht des 30. Juni 1934 war ich mit dem Fahrrad in Richtung des Hindenburgplatzes unterwegs, um nach Hause zu fahren. Kurz zuvor hatte mich eine lange Reihe von Armee-Lastwagen überholt; unter den schwarzen Planen sah man Soldaten, die bereits ihren Stahlhelm und ihre Waffen für den Einsatz trugen. Als ich auf dem Platz eintraf, sah ich, daß das Hauptquartier der SA von SS-Truppen umstellt war, die Schulter an Schulter standen und ihre automatischen Waffen auf den Eingang gerichtet hatten. Von drinnen mußten die entwaffneten SAler einzeln herauskommen und wurden teilweise mit Fußtritten in die bereitstehenden Lastwagen verfrachtet.

Das ganze Unternehmen verlief sehr schnell und lautlos, ohne daß die SA-Männer auch nur den geringsten Widerstand leisteten. Wenige Menschen bekamen in der nächtlichen Dunkelheit mit, was geschah. Die Lastwagen fuhren sofort in Richtung der Vororte los, wo die SA- Angehörigen kurzerhand liquidiert wurden.

Am nächsten Morgen veröffentlichten die Zeitungen auf den Titelseiten die Namen der wichtigsten SA-Chefs, die auf Befehl Hitlers, der sie realer oder mutmaßlicher Verbrechen beschuldigte, exekutiert worden waren – unter ihnen Röhm, Strasser, Heines und weitere alte Weggefährten des Führers. Wie viele von ihnen in jener Nacht der langen Messer exekutiert wurden, hat man nie erfahren.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Gunter Holzmann