12.05.1995

Ein selbstmörderisches Entwicklungsmodell

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Ein selbstmörderisches Entwicklungsmodell

WIE viele europäische Staaten sind derzeit bereit einzuräumen, daß die siegreiche Philosophie der Wettbewerbsfähigkeit sie in ihren Möglichkeiten und ihrem Handlungsspielraum drastisch eingeschränkt hat und ihnen gleichwohl die steigenden sozialen Kosten dieser Veränderungen aufbürdet? Kein einziger. Dennoch stößt dieses Modell zunehmend auf innere und äußere Grenzen, wie der Bericht der Lissabon-Gruppe1 zeigt, die aus zwei Dutzend Persönlichkeiten besteht (darunter Claude Julien) und von Riccardo Petrella mit Unterstützung der Stiftung Gulbenkian aufgebaut wurde.

Bis in die siebziger Jahre hinein waren die Unternehmen in ihrem Ursprungsland fest verankert, auch wenn sie nach außen expandierten. Der Staat übernahm die Rolle des Umverteilers und in einem gewissen Maß auch die des Vermittlers in den Konflikten zwischen Kapital und Arbeit. So konnte das System des Wohlfahrtsstaates die Arbeiter schützen und zugleich verhindern, daß die Finanzierung der grundlegenden sozialen Bedürfnisse das unmittelbare Einkommensniveau beeinträchtigte. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Die Fortschritte der Technologie machen es möglich, daß die Produktion sprunghaft ansteigt. Sie schaffen dabei nicht nur keine entsprechenden neuen Arbeitsplätze, sondern vernichten auch viele der bestehenden. Dank der freien Zirkulation von Waren und Kapital suchen sich die Unternehmen die billigsten Arbeitskräfte, wo immer sie sie finden; zudem erlaubt ihnen die Datenverarbeitung nicht nur eine Kontrolle in Echtzeit, sondern auch die jederzeitige Verlagerung ihrer Produktion ins Ausland.

Das Kapital breitet sich aus, wo immer es hinkommt, und wenn es sich zurückzieht, ist es ihm gleichgültig, was es hinterläßt. Während in der Vergangenheit die globale Bilanz des Systems als positiv erscheinen konnte, erleben wir jetzt eine immer tiefer werdende Kluft zwischen Wachstum einerseits und Entwicklung andererseits. Die einschneidendste Grenze für die Wettbewerbsfähigkeit ist in Europa die Arbeitslosigkeit. Zwar senkt sie die Kosten der Unternehmen, doch erhöht sie die der Gesellschaft und zerstört den sozialen Zusammenhalt.

Bisher beruhten die modernen Demokratien auf der Vorstellung vom Arbeiter- Bürger, der zwar ausgebeutet wurde, jedoch zugleich Träger staatsbürgerlicher Rechte war und für sich eine Zukunft sah.

Doch welche politische Gemeinschaft kann sich ihres Überlebens sicher sein angesichts einer zunehmenden und unausweichlichen sozialen Ausgrenzung? Um diese Tendenz umzukehren, empfiehlt die Lissabon-Gruppe Investitions- und Umverteilungsmaßnahmen unter Ausnutzung der neuen Technologien. Die Träger dieses Prozesses könnten jene Elemente einer sich herausbildenden Zivilgesellschaft sein, deren Sinn geschärft ist für die Zerstörungen, die durch die Entwicklung auf Kosten der Menschen stattfindet. In den regierungsunabhängigen Organisationen, in zahlreichen Vereinen und Verbänden sowie in allen aktiven Formen freiwilliger Zusammenarbeit ist diese Zivilgesellschaft bereits gegenwärtig.

Das Kapital bewegt sich längst in Echtzeit über die Grenzen hinweg, die Frauen und Männer hingegen sind in ihren jeweiligen Ländern verwurzelt. Das Unternehmen durchdringt sie gewissermaßen, dann verläßt es sie wieder, und ihre gewerkschaftlichen und politischen Strukturen lösen sich auf. Es ist schwer vorstellbar, wie man den Sackgassen und den Erschütterungen der Wettbewerbsfähigkeit ein Ende bereiten kann, wenn nicht die Massen, die Objekte des Wandels, zu seinem Subjekt werden.

ROSSANA ROSSANDA

1 Groupe de Lisbonne, „Limites de la Compétitivité. Pour un nouveau contrat mondial“, La Découverte, Reihe „Essais“, Paris 1995, 225 S.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Rossana Rossanda