12.05.1995

Der Dollar als Waffe im Handelskrieg

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Der Dollar als Waffe im Handelskrieg

SIE wurden im April von Helmut Kohl und anschließend vom Internationalen Währungsfonds dazu aufgefordert, die Ordnung im internationalen Finanzsystem wiederherzustellen. Man warnte sie, der gegenwärtige Kurs gefährde die Hoffnung auf Wiederbelebung der japanischen Wirtschaft. Doch die Verantwortlichen in den USA scheinen zur Untätigkeit entschlossen. Hat das Weiße Haus den Handelskrieg zum wichtigen, ja einzigen Mittel der Außenpolitik erkoren? Wenn ja, dann steht die Weltwirtschaft vor schweren Erschütterungen.

Von FRANÇOIS CHESNAIS *

Vor nur wenigen Monaten glaubten die Experten der Weltbank und anderer internationaler Finanzorganisationen, die Rückkehr eines anhaltenden und sogar weltweiten Wachstums verkünden zu können. Und die Kommentatoren folgten ihnen, bis hin zur Ankündigung einer neuen langen Welle des Wachstums. Doch führte die in Mexiko am 20. Dezember 1994 ausgelöste Krise Anfang 1995 zu einer erstaunlich schnellen Verschlechterung der Lage der Weltwirtschaft. Sie erklärt sich durch die enge Verbindung der Instabilität des Weltwährungssystems, der Tyrannei der Finanzmärkte1 und der Situation von Produktion, Welthandel und Arbeitsmarkt. Die herrschende Wirtschaftstheorie, im wesentlichen neoklassisch, an der sich viele Voraussagen mehr oder weniger orientieren, beruht auf einer künstlichen Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Monetären.2 Die Ereignisse der letzten Monate unterstreichen dagegen die enge Verflechtung der wirtschaftlichen, monetären und finanziellen Mechanismen. Sie legen die engen Grenzen der Autonomie der Finanzsphäre offen und die Unmöglichkeit, sich längerfristig von der realen Wirtschaft abzukoppeln.

Das monetäre Chaos und die finanziellen Erschütterungen sind nicht allein verantwortlich für die Zögerlichkeit von Investitions- und industrieller Tätigkeit in den neunziger Jahren. Im Verhältnis von Produktion und Verteilung liegt begründet, was man gemeinhin Wachstumshemmnisse nennt. Die Hypertrophie der Finanzsphäre wird ohne die Widersprüche und Sackgassen der Weltwirtschaft nicht verständlich. Die weltweite Ausbreitung des Kapitals, vom Zug zur Deregulierung und finanziellen Liberalisierung entfesselt, hat diese Widersprüche noch verschärft.3 Dreißig Jahre lang wurde das Wachstum der Finanzmärkte teilweise mit den Gewinnen genährt, die von den großen Industrieunternehmen nicht in die Produktion reinvestiert wurden. Heute wird das Funktionieren dieser Märkte durch den Umstand geprägt, daß die Ersparnisse weltweit nur kurzfristig oder äußerst kurzfristig plaziert und nicht in produktive Tätigkeit investiert werden (was in den angelsächsischen und japanischen Pensionsfonds besonders massiv auftritt).

In einem Interview erklärte Roland Leuschel, Direktor bei der Brüsseler Bank Lambert, kürzlich: „Wir sitzen in einer Falle. Wenn wir das System bereinigen und die Defizite verringern wollen, werden wir eine neue Rezession nicht vermeiden können.“4 Die Falle, in der sich die Weltwirtschaft befindet, ist äußerst bedrohlich. Einerseits nehmen die Unternehmen im Namen der Wettbewerbsfähigkeit tiefe Einschnitte bei der Beschäftigung vor, sie geben der Steigerung der Produktivität und der Senkung der Kosten den Vorrang. Andererseits suchen sie verzweifelt nach neuen Absatzmärkten für ihre Produkte, ohne zu erkennen, daß die Summe ihrer individuellen Entscheidungen (alle rational auf der Ebene, auf der sie getroffen werden) ein unüberwindbares Hindernis für die Expansion der Märkte, die sie brauchen, bildet.

Wie könnten auch die Annahmen der Unternehmen optimistisch sein, Investitionen und Produktion nachhaltig? Leidet doch die Nachfrage, sowohl weltweit als auch in den einzelnen Staaten, unter der Drosselung der Kaufkraft und der Marginalisierung ganzer Länder, ja im Fall Afrikas eines ganzen Kontinents, vom internationalen Warenverkehr. Die Weltgesellschaft wird von den Triebkräften des Wirtschaftssystems in die Zange genommen. Der ruckartige Verlauf der Konjunktur, die finanziellen Erschütterungen und monetären Krisen spiegeln das wider und verschlimmern noch die Auswirkungen.

Die Abfolge der Ereignisse, die in nur drei Monaten zur Revision nach unten aller makroökonomischen Vorhersagen führte, hat als Ausgangspunkt die mexikanische Finanzkrise. Aber das Epizentrum des Bebens, das die Rezession und möglicherweise einen Börsenkrach ankündigt, liegt in den Vereinigten Staaten. Besorgt um die Sicherung der Einkünfte aus Finanzanlagen5, haben die Washingtoner Behörden im Namen des Kampfes gegen die Inflation – oberste Sorge aller Rentiers – ab Frühjahr 1994 eine weiche Landung eingeleitet. Das bedeutete die Verlangsamung eines nur wenige Monate alten Wachstums. Anfang 1995 wies die US-Wirtschaft also viele Anzeichen der Abschwächung auf. Dann brach die Krise in Mexiko aus, und nun gibt es Anzeichen dafür, daß gerade die Vereinigten Staaten von Mexiko und dem restlichen Lateinamerika „angesteckt“ werden. Die Symptome sind hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen nicht die verheerendsten, aber sicherlich am geeignetsten, sich weltweit auszubreiten, insbesondere nach Europa und Asien.

Finanzkrise, ein drakonisches Sparprogramm und Konkurse in der Industrie (von denen man erwartet, daß sie sich wegen der hohen Verschuldung der Firmen und der Banken in Dollar schneeballartig fortsetzen) haben den Markt schrumpfen lassen. Dies hat bereits zu einem Rückgang der Importe geführt, der in den nächsten Monaten drastisch weitergehen dürfte. Mexiko nimmt 10 Prozent der US-Exporte auf. Aber das sind nicht alle Konsequenzen. Um den pessimistischen Prognosen der Märkte, und damit einem möglichen massiven Abzug von Spekulationsgeldern, zu begegnen, mußten Argentinien und Brasilien Notstandsmaßnahmen einleiten, wollten sie die großen Investoren beruhigen.6 Weil überhöhte und direkt an den Dollar gebundene Wechselkurse (wie es der argentinische Peso war) die unverzichtbare Voraussetzung dafür sind, um ausländische Spekulationsgelder und inländisches Kapital im Land zu halten, haben beide Länder die Binnennachfrage gebremst. Dies war das einzige Mittel, um die Märkte davon zu überzeugen, daß ihre Außenhandelsbilanz sie nicht zu einer Praxis ähnlich der Mexikos nötigen würde.

Die nächste, gegenwärtig ablaufende Etappe des Plans für die abwärts führende Spirale ist der Fall des Dollars. Dadurch, daß sein Wert rasch und heftig fiel, wurde ein Teil des aus Lateinamerika kommenden Rezessionsdrucks in nur zwei oder drei Wochen nach Japan und Europa weitergeleitet. Das Einbrechen der amerikanischen Währung, das Ende Februar, Anfang März begann, dann eine kurze Ruhepause einlegte, um drei Wochen später um so heftiger wieder einzusetzen, muß in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Einerseits drückt es das Mißtrauen eines großen Teils der internationalen Händler angesichts des Schuldenbergs der Vereinigten Staaten aus, ihres Handelsbilanzdefizits und überdies der zur Vermeidung des offenen Bankrotts von Mexiko eingegangenen Verpflichtungen. In diesem Sinn steht der schwache Dollar für eine weitere Etappe im Niedergang der amerikanischen Währung im Verhältnis zu D-Mark und Yen. Aber andererseits ist der Dollarkurs auch Ergebnis der Entscheidung der US-Währungsinstitutionen, ein weiteres Mal aus der privilegierten Position Kapital zu schlagen, die Washington durch die Rolle des Dollars in der Weltwirtschaft zufällt: Wechselkursänderungen können als Waffe im Handelskrieg gegen die wichtigsten Konkurrenten eingesetzt werden.

„Man kann nichts tun“

DIE ersten Ergebnisse liegen vor. Das Wachstum in Japan wird 1995 bei Null liegen, während die Voraussagen 2,5 Prozent nannten, in Deutschland wird es um ein bis zwei Prozent niedriger ausfallen als prognostiziert. Diese Zahlen erklären die wiederholten Interventionen der Währungsbehörden beider Länder, um den Fall des Dollars auf eigene Kosten einzudämmen. Dabei wurden die Folgen widerwillig an die jeweilige Binnenkonjunktur weitergegeben. Am 30. März entschloß sich die Bundesbank zu einer Maßnahme, die sie gegenüber den europäische Partnern drei Monate lang abgelehnt hatte. Um die Weigerung der amerikanischen Federal Reserve, die Zinssätze zu erhöhen, zu konterkarieren, senkte sie ihrerseits zwei Leitzinssätze. Am 5. April schloß sie sich angesichts des Scheiterns dieser Maßnahme den Interventionen der Amerikaner und der Bank von Japan auf den Währungsmärkten an. Ohne damit bessere Ergebnisse zu erzielen, was den deutschen Finanzminister Theo Waigel zu der Aussage veranlaßte: „Absprachen können nicht die Versäumnisse der Innenpolitik ausgleichen.“7

„Man kann nichts tun, und man braucht nichts zu tun“, konnte Rüdiger Dornbusch versichern, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und einer der einflußreichsten Experten für Währungsfragen in den Vereinigten Staaten. In einer Chronik für die Wochenzeitschrift Business Week, die der Dollarfrage gewidmet war8, rechtfertigte er die Position der US-Währungsbehörden so: der Verfall des Dollars gegenüber Mark und Yen halte seit fünfundzwanzig Jahren an, ohne daß die USA wirklich darunter gelitten hätten; der Dollar sei „weder die Lira noch der Peso“ und werde nicht auf einen Schlag zusammenbrechen; schließlich müsse der Wertverlust relativiert werden, angesichts der Struktur des amerikanischen Außenhandels.

Dornbusch zufolge ist der Dollar gegenüber einem Korb der für den US-Außenhandel bedeutendsten Währungen seit Dezember 1994 um maximal 3,5 Prozent gesunken. Wichtiger noch, er wurde gegenüber den kanadischen und mexikanischen Währungen aufgewertet. Beide Länder sind die bei weitem wichtigsten Handelspartner der Vereinigten Staaten. Also werden Deutschland und Japan die Hauptlast der Abwertung des Dollars tragen müssen – aus dem einfachen Grund, weil keiner von beiden den USA die Rolle des Emittenten der internationalen Reservewährung streitig macht.

Dieses offensichtlich entscheidende Argument ist auch Leitfaden der Zusammenfassung der Chronik. Dornbusch versucht, all denjenigen, die im amerikanischen Umfeld „in Frieden“ leben wollen, Mut zu machen: „Sorgen Sie sich nicht zu sehr wegen der Gefahr des Statusverlusts des Dollars. Er wird bald wieder steigen, und die Leute werden froh sein, nicht von Bord gegangen zu sein. (...) Wir sind sehr weit entfernt von dem Augenblick, in dem die ganze Welt ihre Guthaben dem japanischen Finanzminister oder selbst der Bundesbank anvertrauen würde.“ Zur Stützung seiner Ansichten kann der MIT-Professor die Erklärungen des Gouverneurs der Bank von Frankreich anführen: „Im geeigneten Moment wird der Dollar zeigen, daß er ein großes Aufwertungspotential hat“.9 Die von den Amerikanern gehegte Überzeugung, kein Staat, und auf jeden Fall nicht Japan, sei in der Lage, ihnen die Rolle des Emittenten der internationalen Reservewährung zu entreißen, und sie könnten folglich den Wechselkurs als wirtschaftliche und politische Waffen benutzen, findet hier ihren zynischen Ausdruck. Am 9. April erinnerte der Sonderbeauftragte des US-Präsidenten für Handelsfragen, Mickey Kantor, anläßlich der Wiederaufnahme der bilateralen Verhandlungen mit Japan daran, daß diese „als von globaler Reichweite verstanden werden müßten“10. Um es auf den Punkt zu bringen, hat das Unternehmen Salomon Brothers, das der amerikanischen Delegation mit Rat zu Diensten ist, präzisiert, eine der „Vorbedingungen“ für die Stabilisierung des Wechselkurses zwischen Dollar und Yen liege „in glaubhaften Initiativen zu Deregulierung der japanischen Wirtschaft“.

Die Zwangslage des Yen, der die Rolle des Dollars als internationale Reservewährung anerkennen und erdulden muß, bedeutet, daß Japan weiter das Defizit seines Konkurrenten finanzieren muß. Dieser untergeordnete Status entspricht in keiner Weise der jeweiligen Wettbewerbsfähigkeit der beiden Volkswirtschaften.

Er spiegelt vielmehr die politischen Machtverhältnisse wider, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind. „Die Stärke des schwachen Dollars ist real.“11 Das Problem ist, ob die Vereinigten Staaten diesen Vorteil so weit ausnutzen werden, daß dadurch eine weltweite Krise größten Ausmaßes ausgelöst wird. Die Frage hat nicht nur wirtschaftliche Bedeutung. Sie ist auch politisch und muß im Zusammenhang mit dem spannungsreichen Umfeld und der um sich greifenden Lähmung an der Spitze der USA gesehen werden, die seit dem republikanischen Sieg vom November 1994 herrscht.

Das politische Gewicht Washingtons in der Welt hat es vorläufig ermöglicht, den Rückzug der großen japanischen Adressen aus dem Markt zu kompensieren und die Staatsanleihen des Finanzministeriums bei Banken und ausländischen Investoren abzusetzen. Die Geldaufnahme amerikanischer Banken im Ausland ist von 40 Milliarden Dollar 1992 auf mehr als 200 Milliarden Ende 1994 gestiegen.

Ein einziger Umstand verhindert, daß die Vereinigten Staaten eine Krise nach mexikanischem Vorbild erleben, was zu einem weltweiten Börsenkrach führen würde. Das ist, wieder und immer noch, der besondere Status des Dollars. Die großen Händler suchen offensichtlich einen Ersatz für den Dollar, sie steigern ihre Goldkäufe, benutzen die D-Mark und den Schweizer Franken als Fluchtwerte. Das einzige Hindernis für eine ungebremste Flucht aus dem Dollar, inklusive folgender Liquiditätskrise des amerikanischen Finanzsystems, ist das Fehlen einer neuen Reservewährung. Ungefähr 60 Prozent der liquiden Mittel der Zentralbanken sind immer noch Dollar. Aber es könnte eine bisher unbekannte Preisgrenze geben (1,35 DM? 1,30? 1,25?), bei der die Dämme, die möglicherweise instabiler sind, als man denkt, schließlich brechen könnten und eine allgemeine Flucht aus dem Dollar das amerikanische Bankensystem hinwegfegen würde.

Das schwache internationale Wachstum kündigt also Zusammenbrüche und andere schwere Erschütterungen des Finanzsystems an. Es wird oft von Reformen des internationalen Systems geredet, aber die wurden nie zu einem anderen Zeitpunkt als bei äußerst gravierenden Währungskrisen durchgeführt. Und kein hellsichtiger Beobachter erwartet vom Gipfel der sieben wichtigsten Industriestaaten (G 7), der von 16. bis 18. Juni in Halifax stattfinden wird, etwas anderes als Rhetorik.

1 Siehe Henri Bourguinat: „La Tyrannie des marchés. Essai sur l'économie virtuelle“, Economica, Paris 1995.

2 Zu diesem Punkt lese man die tiefschürfende Analyse von Suzanne de Brunhoff in L'Heure du marché. Critique du libéralisme“, PUF, Paris 1986.

3 Was die finanziellen Aspekte angeht, lese man Michel Aglietta: Macroéconomie financière, La Découverte, Coll. „Repères“, Paris 1995, insbesondere Kapitel IV. Die Verflechtung zwischen den Widersprüchen der Produktion und des Warenverkehrs, bei vorherrschender Internationalisierung der Industriegruppen, und denen des Finanzbereichs, wird abgehandelt in François Chesnais: „La mondialisation du capital, Syros, Coll. „Alternatives économiques“, Paris 1994.

4 Le Monde, 5. April 1995.

5 Das Maß dieser Einkünfte hängt vom positiven, d.h. über der Preissteigerungsrate liegenden Zinssatz ab.

6 Zur Situation in Brasilien siehe Ignacy Sachs: „Quelques leçons de la débÛcle mexicaine“, Le Monde diplomatique, April 1995. Zu Argentinien siehe den Artikel von Carlos Gabetta in dieser Ausgabe. Die Financial Times vom 17. März erwähnt die vom argentinischen Finanzminister Domingo Cavallo verursachte Rezession, mit der die Parität des Peso erhalten und die Flucht kurzfristiger Gelder verhindert werden sollte. Cavallo unterstreicht selbst die wirtschaftlichen und sozialen Kosten einer solchen Politik.

7 International Herald Tribune, 6. April 1995

8 Business Week, 10. April 1995

9 Le Monde, 11. April 1995

10 International Herald Tribune, 10. April 1995

11 Siehe Erik Israelewicz, Le Monde, 10./11. April 1995.

*Professor an der Universität Paris XIII-Villetaneuse. Sein neuestes Buch heißt „La Mondialisation du capital“ (Syros, Paris 1994)

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Francois Chesnais