12.05.1995

In Afrika ist Gott nicht mehr Franzose

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In Afrika ist Gott nicht mehr Franzose

ANGEFANGEN hatte es mit dem frischen Wind des Nord-Süd-Gipfels von Cancún: die verstärkte Solidarität mit der Dritten Welt als natürlicher Bestandteil der in die Sozialisten gesetzten Hoffnung angesichts der Gleichgültigkeit der „Herrschenden dieser Welt“. Doch die vierzehnjährige Präsidentschaft François Mitterrands endete im Bezug auf die Afrikapolitik mit zwei Tragödien: einmal der Genozid in Ruanda, einem kleinen Partnerland der Entwicklungszusammenarbeit, wo die Massaker andauern, und zum anderen der Rückgriff auf eine „historisch“ zu nennende Abwertung des CFA-Franc, die vom frankophonen Afrika als „Verrat“ angesehen wurde. Um so dringlicher erscheint nun die Notwendigkeit einer Kursänderung der Pariser Politik.1

Von PHILIPPE LEYMARIE *

Im Mai 1981 hatten zahlreiche fortschrittliche Afrikaner den Sieg der französischen Linken als den ihren angesehen.2 Gleich am ersten Tag legte Mitterrand im Panthéon eine Rose auf das Grab des französischen Journalisten und Politikers Victor Schoelcher, der sich im letzten Jahrhundert mit großem Engagement für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hatte. Außerdem berief er zwei Befürworter einer Erneuerung der Solidarität mit dem Süden in die Regierung – Claude Cheysson als Außenminister und Jean-Pierre Cot als Minister für Entwicklung und Zusammenarbeit.3 Man hoffte, die Geschäftemacher „Frankafrikas“ würden einen schweren Schlag erleiden: Das Beziehungsgeflecht eines Jacques Foccart4 ebenso wie die zentralafrikanischen Diamanten des früheren Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing schienen nunmehr zum alten Eisen zu gehören. Lediglich einige der am stärksten von der „Metropole“ abhängigen tropischen Diktaturen äußerten Besorgnis. Sie fürchteten, Paris werde nicht länger „der westliche Gendarm“ in Afrika sein, sondern seine Stützpunkte schließen, die Militärberater und Fremdenlegionäre abziehen – kurz und gut: 20 Jahre nach der sehr traditionswahrenden Entkolonisierung schien ein neues Kapitel angebrochen.

In einem solchen Klima nahm niemand Anstoß daran, daß die direkt dem Präsidenten zugeordnete „Afrikazelle“ im Élyséepalast weiterarbeitete – ein Erbe des Jacques Foccart unterstellten Generalsekretariats der Communauté, der Französisch-Afrikanischen Gemeinschaft, welche die Politik der vorherigen Präsidenten geprägt hatte. Beunruhigung trat erst ein, nachdem hinter dem leuchtenden Paravent einer anderen, kurz aufblitzenden Politik – Unterstützung der „neuen Demokraten“, Öffnung in Richtung des südlichen Afrikas, der portugiesischsprachigen Länder und des Horns von Afrika – die angestammte Realpolitik nach und nach wieder die Oberhand gewann: Staatsstreich General Kolingbas in Zentralafrika auf der Grundlage eines Geheimabkommens mit Frankreich5; wieder aufflammender Krieg zwischen Regionalfürsten im Tschad; Besuche einiger nicht gerade vorzeigbarer Diktatoren in der französischen Hauptstadt...

Schon bekam das frankoafrikanische Establishment Oberwasser. Durch die Ernennung des Mitterrandsohns Jean- Christophe zum stellvertretenden Leiter hatte die Zelle im Élysée an Einfluß gewonnen. Der gerade eingesetzte Minister Jean-Pierre Cot war zum Rücktritt gezwungen worden, weil er die Präsidenten Zaires, Zentralafrikas und des Tschads verärgert hatte, und sicherlich auch, weil er einigen mächtigen französischen Privatinteressen in die Quere kam. Der Söldner Bob Dénard blieb der heimliche König auf den Komoren, während Colonel Jean-Claude Mantion vom französischen Äquivalent des CIA, der Direction générale de la sécurité extérieure (DGSE), im Schatten Präsident Kolingbas direkt über die innere Sicherheit der Zentralafrikanischen Republik wachte.6 Dann, plötzlich, tauchte auch noch der Afrika wie Frankreich zur Schande gereichende ehemalige Kaiser Jean-Bedel Bokassa in Paris auf...

Zu guter Letzt lieferte die Kohabitationsregierung unter Chirac 1986 gefälligerweise den noch fehlenden Hauch von Skandal: hatte doch der vorige – sozialistische – Entwicklungsminister mit Geldern, die eine seinem Ministerium nahestehende Vereinigung, Carrefour du développement, eingestrichen hatte, unter der Hand einerseits die Logistik des frankoafrikanischen Gipfels in Bujumbura und andererseits ... seinen eigenen Wahlkampf finanziert.

Die Afrikalobby in ihren angestammten Gefilden

MIT Jacques Chirac, der in der gaullistischen Tradition stand, wurden die alten Gefilde der französischen Afrikalobby erneut etabliert: das Ministerium für Zusammenarbeit trug wieder die alleinige Verantwortung (und unterstand nicht mehr, wie seit 1981 üblich, dem Außenministerium); außerdem kehrte Foccart wieder an seinen Platz zurück. Zu jener Zeit bereiste der südafrikanische Präsident Pieter Botha Frankreich, ebenso der Verantwortliche der angolanischen Unita, Jonas Savimbi. Ein ungestümer Kultusminister, François Léotard, beschuldigte Radio France Internationale, in Übersee den Aufruhr zu befördern. Ein Innenminister namens Charles Pasqua organisierte den Charterflug zur Abschiebung der „101 Malier“. Bei einem Zwischenstopp in Ouagadougou griff der dortige Staatschef, Thomas Sankara, Präsident Mitterrand an: „Ihre Politik hat eine eindeutig neokolonialistische Einfärbung.“

Als Mitterrand im November 1994 in Biarritz seinen letzten frankoafrikanischen Gipfel leitete, äußerte er gleichwohl, er gehe „nicht mit dem Gefühl, in Afrika gescheitert zu sein ... Alleine für das frankophone Afrika kann man bilanzieren, daß alle 22 in La Baule vertretenen Staaten sich mittlerweile für einen Mehrparteienstaat entschieden haben und 17 von ihnen neue Verfassungen verabschiedet haben; in vier Jahren haben um die fünfzig allgemeine Wahlen stattgefunden.“

Sicher, die Berliner Mauer war gefallen, und somit hatten jene Ost-West- Querelen abrupt geendet, die – insbesondere im südlichen Afrika bzw. im Horn von Afrika, aber abgeschwächt auch in den anderen Gebieten – ganze Regionen eingefroren bzw., im Gegenteil, in Feuerbränden verzehrt hatten; und das auf einem Kontinent, der zu Beginn des Jahrhunderts im Zuge der kolonialen Aufteilung grob zerschnitten worden war. Auch die Afrikaner, insbesondere der von dem Strukturwandel der letzten zehn Jahre ausgepreßte Mittelstand – Rückgang der Beamtenzahl, der Staatsbetriebe und der Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens – verlangten eine „politische Anpassung“ und forderten Rechenschaft von den traditionellen Führungsmannschaften, die sich mit dem erstarrten System arrangiert hatten: Einheitspartei, Konzentration der Macht und der wirtschaftlichen Pfründe auf die unmittelbare Umgebung des Präsidenten, dazu eine gegen den „inneren Feind“ gerichtete Armee usw.

Einer der Verdienste Mitterrands war es gewesen, diesen Ostwind zu wittern und den wutentbrannten Menschenmassen, die in einigen frankophonen Hauptstädten bereits mehrere Monate demonstriert hatten, ein ermutigendes Signal ausgesandt zu haben: „Wir müssen den Ländern, die den politischen Pluralismus wagen, finanzielle Unterstützung gewähren“7, hatte er während des frankoafrikanischen Gipfels in La Baule im Juni 1990 einigen bestürzten Staatsoberhäuptern entgegengeschleudert. Wenn man von Benin absieht, dem Fetischland der von Frankreich ermutigten Demokratisierung, das dank einer denkwürdigen „Nationalkonferenz“ von einer vormals marxistischen „seichten“ Militärdiktatur zu einem von einem ehemaligen Weltbankbeamten geführten Regime überging, war das Glas in Wirklichkeit noch ziemlich weit von den Lippen entfernt.

In Mali, Madagaskar, Togo und Kongo hatten die Volksbewegungen Paris längst überholt und beschuldigten es der „unterlassenen Hilfeleistung für Demokratien in Not“, worauf Frankreich überstürzt die Bündnispartner wechselte. Im Tschad, in Dschibuti, Guinea, Mauretanien, Kamerun und Äquatorialguinea unterstützte Frankreich Regime, die mit allen Mitteln eine Weiterentwicklung abbremsten. In Gabun, Côte d'Ivoire und Burkina Faso begnügte es sich mit den spärlichen, von den lokalen Machthabern beherrschten Entwicklungsprozessen. In Zaire schreckte Paris nicht einmal davor zurück, auf dem Hintergrund der ruandischen Tragödie zur Wiederauferstehung des verschrieenen, aber offensichtlich unversenkbaren Mobutu-Regimes beizutragen. Auf den Komoren entschloß sich Paris erst im November 1989, nach der Ermordung Präsident Abdallahs, dazu, den die Leibgarde des Präsidenten befehligenden Söldner Bob Dénard, vor dessen Augen und von dessen Hand womöglich der Mord stattgefunden hatte, von dort zu „exfiltrieren“8.

Schlimmer noch: Im Jahr von La Baule engagierte sich Frankreich außerdem militärisch in Ruanda, um den Vorstoß der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) aus Uganda aufzuhalten. Die angeblich als eine punktuelle geplante Operation ging jedoch über drei Jahre und brachte Frankreich die Beschuldigung ein, als Schutzschild für Präsident Habyarimana zu dienen, einen der umstrittensten „Dinosaurier“ der zentralafrikanischen Region.

Die „Coalition pour amener à la raison démocratique la politique africaine de la France“, ein Zusammenschluß, der sich für eine Rückkehr der französischen Afrikapolitik zur demokratischen Vernunft einsetzt und seit mehreren Monaten – im Namen verschiedener Dritte- Welt-Gruppen – in verschiedenen vorgelegten Analysen und Materialien schwerwiegende Anklagen erhebt9, stellt fest: „Seit dem 7. April 1994 steht Frankreich auf der Seite des Genozids“; Frankreich habe, so führt diese Gruppe aus, auch Monate nach Beginn der Massaker den Regierungstruppen noch Waffen geliefert und Ausbildung und logistische Unterstützung gewährt10; es habe eine Zeitlang versucht, der These vom „doppelten Genozid“ Glaubwürdigkeit zu verschaffen, diverse Hauptverantwortliche des Gemetzels aufgenommen und geschützt, sich für die Eingliederung von Verantwortlichen und Komplizen des Genozids in die neue ruandische Regierung stark gemacht und bis Ende 1994 aus der Ferne die Blockierung jedweder bedeutender internationaler Hilfe für die Regierung in Kigali gesteuert.11

Im Rahmen der ruandischen Tragödie wurde die gesamte politische, militärische und wirtschaftliche Struktur der alten „frankoafrikanischen Lobby“ ein weiteres Mal in Frage gestellt:

– eine persönlich ausgerichtete Geheimdiplomatie, die mitunter familiäre Züge trägt und sich in der Durchführung von Gipfeltreffen ebenso wie in den Tätigkeiten der „Zelle“ niederschlägt, die in ihrem „afrikanischen Sandkasten“ spielt12;

– verstreute staatliche Entscheidungszentren (Präsidentenstab, Außenministerium, Ministerium für Zusammenarbeit, Finanzministerium, Verteidigungsministerium usw.) mit der jeweils eigenen Kultur und Politik, die hier und da Interessengruppen das Feld überlassen;

– die Rolle der sich einmischenden, oft miteinander konkurrierenden, manchmal sogar privaten „Dienste“, die diverse Dossiers oder Verhandlungen in Eigenregie führen;

– der Hang zu „Geschäften“ und Zwischenträgern, mit dem dazugehörigen Geheimgewebe der Parallelnetze (Freimaurerfreundeskreise oder Geheimdienstberater des Innenministeriums);

– das dichte Geflecht aus Militärstützpunkten, Verteidigungsabkommen und militärischer Zusammenarbeit, das es Frankreich ermöglicht, heute, 35 Jahre nach der großen Unabhängigkeitswelle, abwechselnd die Rolle des „Gendarmen des Westens“ und des „khakitragenden Humanitärhelfers“ zu spielen;

– die – zumindest bis zur Abwertung im Januar 1994 – kuschelige Nische des fixen Franc der afrikanischen Finanzgemeinschaft (CFA) und das starke Gewicht der Unternehmerlobbies, die an die eingespielte Lage des Quasimonopols und der einander ergänzenden finanziellen Unterstützung durch öffentliche Mittel aus Afrika wie aus Frankreich gewohnt waren;

– eine vielfältige öffentliche Entwicklungshilfe für diesen Kontinent, durch die Frankreich zwar den ersten Platz auf der Weltrangliste einnimmt (mit 45 Milliarden Francs 1995 und 0,6 Prozent seines Bruttosozialprodukts, im Vergleich zu 0,36 Prozent 1981), die aber zum großen Teil durch die Schuldtilgungskosten und das Stopfen der Defizitlöcher verschlungen wird und immer weniger der Finanzierung von direkten Entwicklungsprojekten dient.

Das Bild ist schon düster genug und bedarf keiner zusätzlichen apokalyptischen Vision, die hinter all diesen Machenschaften krumme Touren, Korruption, verschiedenste Mafias, Drogen- und Devisenschieber, „weiße Elefanten“ und Verschwendungssüchte am Werke sieht. Solche Visionen schütten nur, ohne es zu wollen, Wasser auf die Mühlen des in den letzten Jahren in den Medien sehr beliebten, allgegenwärtigen Afropessimismus, der das falsche oder in jedem Fall unvollständige Bild eines „sterbenden Kontinents“ nur fortzuschreiben hilft, jenes Bild eines kaputten, ewig zurückbleibenden Kontinents, der außerhalb dieser Welt liegt und den man nur noch sich selbst zu überlassen braucht. Dadurch ebnet man einem neuen Cartierismus13 den Weg.

Aber nun ist das Spiel tatsächlich zu Ende, begleitet von Verrat und Verletzungen. Der Tod des ivoirischen Präsidenten Félix Houphouät-Boigny, einer der Säulen „Frankafrikas“, im Jahr 1993, dann am 12. Januar die historische Abwertung des CFA-Franc und einige Monate später die ruandische Katastrophe stellen eine symbolische Wende dar. Für die neue Generation in der afrikanischen Politik, die – trotz einiger Mißgeschicke – das demokratische Abenteuer wagt, ist Gott nicht mehr weiß und schon gar nicht mehr Franzose.

Die USA mit ihrem maßgeschneiderten „Demokratiekitt“ scheinen immer verlockender. Sie zwingen den Staaten über die Bedingungskorsetts des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ihre Philosophie auf. Gleichzeitig baut sich auch Japan als Vorhut der asiatischen „Drachen“ auf dem Kontinent ein Handelsnetz.

So hat die Internationalisierung der Wirtschaft verspätet dem alten Kolonialpakt den Garaus gemacht, jenem Pakt, der dank privilegierter Beziehungssysteme, Zollschranken und einer geschützten Währungszone den eigenen Tod überleben konnte. Gleichzeitig haben jene Konstellationen, die das geopolitische Interesse für Afrika rechtfertigten, an Bedeutung verloren: der Stimmenblock, über den Frankreich früher bei seiner afrikanischen Kundschaft in der UNO verfügen konnte und der der Erhaltung des französischen Sitzes im Sicherheitsrat diente; das geschützte Vorzugsgebiet der französischen Industrie; die Rohstoffe; die Fremdarbeiter...

Schon der Premierminister der zweiten Kohabitationsregierung, Édouard Balladur, war der Meinung, nach dreißig Jahren frankoafrikanischer Zusammenarbeit sei eine neue Politik vonnöten. Er hatte bereits 1993 ein „neues Abkommen mit Afrika“ vorgeschlagen: Frankreich, so meinte er, könne angesichts der Zahlungsunfähigkeit Afrikas nicht mehr alles ganz alleine richten. „Wir sind nicht mehr Afrikas Feuerwehr“, hatte sein Minister für Zusammenarbeit, Michel Roussin, übersetzt, für den es um nichts Geringeres ging als darum, „der Entwicklung Afrikas neuen Raum zu eröffnen, indem man den Kontinent in den Kreislauf des internationalen Austauschs zurückführt“. Solche Äußerungen gefielen den Experten der Bretton- Woods-Institutionen. Sie liefen auf eine 50prozentige Abwertung des CFA- Franc hinaus, die der IWF schon seit langem herbeiwünschte, ja sogar zur Vorbedingung für jedwede Wiederaufnahme normaler Beziehungen zu den frankophonen afrikanischen Ländern gemacht hatte.

Auch wenn die Reaktion in diesen Ländern weniger panikartig war als erwartet – es kam zu keinen Aufständen, und in der Hälfte der Länder beschränkte sich die Inflation auf 30 Prozent und ließ einen Handlungsspielraum für die Rekonstituierung der Budgetreserven und für einen anregenden Peitschenhieb an die Adresse der Arbeiterorganisationen und einiger Exportbereiche –, so waren die Schäden doch immerhin beträchtlich. Im Alltagsleben bedeutete dies: die sozialen Bereiche (Gesundheit, Bildung...) bleiben mehr als je sich selbst überlassen; und im politischen Bereich: die frankophonen Führungsschichten hatten das Gefühl, plötzlich in eine „erbarmungslose Welt“ hinausgestoßen zu werden, wie es der Präsident des Kongo, Pascal Lissouba, ausdrückte. The Economist sprach von der „zunehmenden Macht einer Gruppe französischer Technokraten (im Umkreis des Premierministers Balladur), von denen einige früher bei der Weltbank gearbeitet haben“, und schloß, daß, im Gefolge der Abwertung, diese Mannschaft „ganz langsam dabei war, die alten Netzwerke zwischen den Präsidentenpalästen aufzulösen“14.

Diese unter internationalem Druck erfolgende Auflösung der ausschließlichen Beziehung zwischen Frankreich und seinen früheren Kolonien hat in Afrika nicht nur Bedauern ausgelöst; immer stärker vernimmt man an verschiedenen Orten von seiten der Eliten die Aufforderung, mehr „auf die eigenen Kräfte zu vertrauen“. Hier treffen sich die neuen Eliten mit einer intellektuellen Strömung, die seit mehreren Jahren die Bedingungen der wiedererlangten Unabhängigkeit debattiert. Eine Positionsänderung, die – mit einem gewissen Abstand betrachtet – vielleicht eines Tages als „schweigende Revolution“ in die Geschichte eingehen wird. Auch wenn die ehemals von Mitterrand verteidigte „Demokratieprämie“ mehr und mehr durch eine „Gutes-Management-Prämie“ ersetzt wird und wenn ein Teil der „Bürde des weißen Mannes“ wohl – in buchhalterischen Begriffen – auf die Schultern der Europäischen Union15 oder der internationalen Finanzgemeinschaft übertragen worden ist, wird Paris dennoch die institutionellen Lehren aus dem neuen Kräfteverhältnis ziehen müssen.

Partner wie alle anderen

ES fehlt nicht an Stimmen, die angesichts des Verschwindens des traditionellen Sonderstatus die Auflösung der „Afrikazelle“ im Élyséepalast und die Anbindung des Ministeriums für Zusammenarbeit an das Außenministerium fordern: die afrikanischen Staaten würden somit zu Partnern „wie alle anderen“.

Andere sind von der Unangepaßtheit der „Makrokooperation“ und vom Mißbrauch der jährlich rund vierzig Milliarden Entwicklungshilfe überzeugt. Sie stellen fest, daß sich die Zahl der technischen Entwicklungshelfer reduziert hat – zwischen 1982 und 1994 ist sie von elftausend auf dreitausendsechshundert gesunken16 –, und setzen auf das Potential der dezentralisierten Zusammenarbeit, die eher auf der Ebene der Bedürfnisse der afrikanischen Staaten liegt, beziehungsweise auf das Potential der regierungsunabhängigen Organisationen: eine auf Nähe aufgebaute Zusammenarbeit, die bisher erst 2 Prozent des Gesamtbudgets der öffentlichen Hilfe ausmacht...

Der Ausschuß zur ständigen Beobachtung der französischen Entwicklungszusammenarbeit, das Observatoire permanent de la coopération française, das von rund dreißig Akademikern und Entwicklungsexperten gegründet wurde, analysiert das „verpaßte Stelldichein mit den Investitionen“, das seiner Meinung nach charakteristisch ist für die Phase nach der Abwertung des CFA-Franc.17 Jean-François Bayart sah seinerseits voraus, daß „wie in Rußland die massiven Geldspritzen von außen sich in staatlichen Kreisläufen verlören, die so löchrig sind wie ein Schweizer Käse. Diejenigen, die den CFA-Franc durch eine Überdosis an Profit ins Jenseits befördert haben, werden aus der Abwertung als erstes eine Dreifachdosis an Profit beziehen...“18; weiter geht er davon aus, daß mehrere Staaten der CFA-Zone, die trotz der Abwertung ihren Verpflichtungen nach wie vor nicht nachkommen können, befürchten müssen, daß „nach der (französischen) Präsidentschaftswahl die Bretton-Woods-Institutionen sich weniger nachgiebig zeigen werden, als sie es derzeit auf Verlangen von Paris aus noch sind“19.

Das Observatoire kritisiert ferner scharf die Undurchsichtigkeit des französischen Systems der Entwicklungszusammenarbeit. Es tritt ein für eine erweiterte parlamentarische Kontrolle, ferner für eine Überprüfung der Verwaltung der betroffenen Institutionen sowie der angemessenen Verwendung der Kredite durch den Rechnungshof. Schlußendlich wird der neue Präsident nicht umhin können, den Inhalt der Verteidigungsabkommen mit gewissen afrikanischen Ländern unter die Lupe zu nehmen und sich Fragen zur Aufgabe der in den Militärstützpunkten bereits stationierten französischen Soldaten zu stellen. Er wird festlegen müssen, welche Rolle Frankreich in einem möglichen Krisenfrühwarnsystem einnehmen möchte, ebenso in einem Konfliktlösungsmechanismus und bei der Aufstellung einer afrikanischen Friedenstruppe, die den heutigen militärischen Schutzschirm, der von so vielen Seiten in Frage gestellt wird, zum größten Teil überflüssig machen würde.

1 Siehe hierzu: Claude Julien, „Une autre politique“, Le Monde diplomatique, September 1994; Michel Beaud, „Le basculement du monde“ (Oktober 1994), Bernard Cassen, „Impérative transition vers une société du temps libéré“ (November 1994); Roger Sue, „Faire de la vie une permanente éducation“ (Dezember 1994); Christian de Brie, „Corriger par l'impôt l'inique répartition des richesses“ (Januar 1995); Jean Massé, „Feu sur la protection sociale“ und Jean-Claude Lamoureux, „La santé malade de l'argent“ (Februar 1995); Bernard Cassen, „Contre le désert et la jachère, un monde rural solidaire“ (März 1995); Christian de Brie, „En finir avec le gouvernement de l'Élysée“, und Alain Bihr, „Les nouvelles frontières de la souveraineté“ (April 1995).

2 Siehe Basile Guissou, „Quand les progressistes désespèrent“, Le Monde diplomatique, Oktober 1992. Der ehemalige Außenminister Burkina Fasos kommt in einer neueren Buchveröffentlichung darauf zurück.

3 Jean-Pierre Cot, der Sohn eines ehemaligen Ministers der KPF-nahen Volksfront, hatte darum gebeten, das Wort Entwicklung zum Begriff der Zusammenarbeit hinzuzufügen, um die neue Orientierung zu symbolisieren, die er dem Ministerium geben wollte. Hervorgehoben von Claude Wauthier in „Les Quatre Présidents et l'Afrique“, Le Seuil, Paris, 1995, 718 Seiten, 190 F.

4 Der ehemalige Berater zu Afrikafragen der Präsidenten de Gaulle und Pompidou, der auch von Chirac oft zu Rat gezogen wird, hat gerade seine Memoiren veröffentlicht: „Foccart parle. Entretiens avec Philippe Gaillard“ (siehe Le Monde diplomatique, April 1995).

5 Es stimmt, daß es ganz einfach darum ging, in gegenseitigem Einvernehmen den Präsidenten David Dacko zu ersetzen, der selbst bei der Operation „Barracuda“ am 21. September 1979 mit Hilfe der französischen Militärs an die Macht gekommen war: Präsident Valéry Giscard d'Estaing, dessen Zuneigung zu seinem „Verwandten“ abgeflaut war, hatte sich entschlossen, den Kaiser absetzen zu lassen, während die Agenten der DGSE damit beschäftigt waren, aus dem Palast von Berengo gewisse kompromittierende Archive des ehemaligen zentralafrikanischen Herrschers verschwinden zu lassen.

6 Er wird bis 1993 in Bangui auf diesem Posten bleiben.

7 Siehe Le Monde vom 22. Juni 1990.

8 Bob Dénard, der wieder in Frankreich lebt, soll im Rahmen dieser Mordgeschichte auf den Komoren noch vor Gericht gestellt werden. 1993 wurde er jedoch von der Justiz reingewaschen bezüglich seines Putschversuchs gegen das „revolutionäre“ Regime von Capitaine Mathieu Kérékou in Benin im Januar 1977.

9 Siehe die Reihe Dossiers Noirs (Agir Ici, 14, passage Dubail, 75010 Paris; und Survie, 57, avenue du Maine, 75014 Paris).

10 Der ehemalige Supergendarm des Élysée, Paul Barril, der dem früheren ruandischen Regime nahesteht, versichert in einem Interview mit dem Magazin Playboy vom März 1995, daß „die Heldenhaftigkeit der (französischen) Geheimdienste in Ruanda gegen Uganda und die RPF ein ganzes Buch füllen könnte“.

11 Siehe das Dossier zu Ruanda in Le Monde diplomatique von März 1995.

12 Siehe Antoine Glaser und Stephen Smith, „L'Afrique sans Africains“, Stock, Paris, 1994.

13 Nach dem Paris Match-Redakteur Raymond Cartier benannt, der in den sechziger Jahren Frankreich aufforderte, sich mehr um die inneren Angelegenheiten zu kümmern, anstatt sein Augenmerk auf die Dritte Welt zu richten. Diese Strömung ist unter der Parole „La Corrèze avant la Sombèze“ in die Geschichte eingegangen, was in etwa heißt „Erst der Taunus, dann die Zulus“. S. auch Pascal Bruckner, „Das Schluchzen des weißen Mannes“, Berlin 1984.

14 Siehe „Contrats, cadeaux, champagne et diplomatie musclée. Balladur ou Chirac? La question intéresse de près l'Afrique noire“, zitiert in: Courrier International, 18. August 1994.

15 Siehe Anne-Marie Mouradian, „Offensives contre la Convention de Lomé“, Le Monde diplomatique, April 1995.

16 Siehe „La Lettre de la rue Monsieur“, ministère de la coopération, November 1994.

17 Rapport 1995, Desclée de Brouwer, 1995, Paris.

18 Siehe Le Nouvel Observateur, 20. Januar 1994.

19 Siehe Jean-François Bayart, „Charles Pasqua en Afrique“, La Croix, 4. März 1995.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Philippe Leymarie