Die kosmopolitische, die braune Stadt
OKTOBER 1994: Es war wie ein Donnerschlag – die extreme Rechte bekam bei den Kommunalwahlen in Antwerpen 28 Prozent der Stimmen. Sie rechnet fest damit, bei den Parlaments- und Regionalwahlen am 21. Mai dieses Jahres noch besser abzuschneiden – in der großen Hafenstadt und in ganz Belgien. Während Politiker am Zusammenhalt des Landes zweifeln, predigen rechte Agitatoren autoritäre Lösungen. Ihre Parolen nutzen die Sicherheitsbedürfnisse einer Bevölkerung aus, die sich davor fürchtet, in einem Europa mit unscharfen Konturen verlorenzugehen.
Ein trauriger Abweg, auf den nicht bloß Belgien geraten ist. Traurig, daß es gerade Antwerpen treffen muß, eines der stärksten Symbole des Kosmopolitismus, eine Stadt, in der einem der kulturelle Reichtum Europas in seiner ganzen Pracht entgegentritt.
Von unserer Sonderkorrespondentin INGRID CARLANDER
„Leeuw van Vlaanderen“ (Löwe von Flandern) heißt eine Kneipe in der Nähe des wuchtigen Renaissance-Rathauses, das den großen Markt Antwerpens beherrscht. Alte Gildehäuser mit Treppengiebeln und goldenen Dachfirsten säumen den Platz und künden vom Glanz einer Stadt, die es verstand, mit Burgundern, Spaniern, Franzosen und Österreichern auszukommen. Der fremde Besucher stößt die Tür zu einem düsteren und verräucherten Schankraum auf, dessen Wände über und über mit Plakaten und Aufklebern bedeckt sind. Am Tresen führt ein alter Mann mit eckig geschnittenem weißen Bart das Regiment.
Verblüfft schauen die Pfeifenraucher von ihren Biergläsern auf. Man ist kaum dazu gekommen, einen Blick auf die Botschaften zu werfen, die die Wände dieses geweihten Orts zieren, und etwas zu bestellen, da wird einem auch schon dringend empfohlen, sein Bier woanders zu trinken...
Ein Wallone, ein einheimischer Jude oder ein Einwanderer wären nie auf die Idee gekommen, diese Schwelle zu überschreiten. Ein paar der gemütlichen zweitausendfünfhundert Cafés, Bars und Restaurants, in denen auch Brüsseler und Niederländer gern ihr rituelles Wochenendbesäufnis begehen und die in der sinnenfrohen Heimat eines Jordaens und seiner fröhlichen Biergelage die ganze Nacht lang geöffnet haben, sollte man lieber meiden. Antwerpen, das einst so weltoffen war, schrumpft zusammen auf seine Geschichte und deren Reichtümer. Der „Löwe von Flandern“ ist ein Hauptquartier der fanatischen Anhänger des Vlaams Blok (Flämischer Block), einer rechtsextremen Partei, die bei den Kommunalwahlen im letzten Oktober beeindruckende 28 Prozent der Stimmen erhielt.
Sollte eine Metropole, deren Reichtum sich von Anfang an einem weltumspannenden Handel verdankte, von der braunen Pest bedroht sein? Antwerpen, eine braune Stadt? Und doch gibt es auch das katholische Antwerpen, das überquillt von barocken Kirchen und Kunstwerken – Rubens im Dienst der Gegenreformation –, das Antwerpen, das 1993 „Kulturhauptstadt Europas“ war und bei dieser Gelegenheit sein unglaublich reiches Erbe ins rechte Licht zu setzen verstand, das funkelnde Antwerpen, die Welthauptstadt der Diamanten (weit vor Amsterdam), das hochmütige Antwerpen, das stolz darauf ist, die zweitgrößte Hafenstadt Europas zu sein, und die einzige Metropole Belgiens (denn in Brüssel wohnen die Leute oft lieber außerhalb der Stadt).
„Eigen Volk eerst!“ ruft der Vlaams Blok. Den Fremden bedroht das flämische Volk mit zwei symbolträchtigen Waffen: mit dem Boxhandschuh (übernommen von einer radikalen Partei der Vorkriegszeit), begleitet von dem Slogan „Selbstverteidigung“, und mit dem Besen, der einst der von Léon Degrelle gegründeten Organisation Rex teuer war: „Grote Kuis! Zur Tür hinaus!“ „Der Blok lehnt den Nationenbegriff ab und zieht ihm den des Volks vor, das durch die Rasse gebildet wird“, in diesem Fall durch die flämische. Es handelt sich um eine populistische Bewegung, „die alles auf einen Sündenbock schiebt, den Einwanderer, und der es gelungen ist, einen Teil der sozialistischen Wählerschaft für sich zu gewinnen, sogar unter den Hafenarbeitern“, erläutert Professor Hans De Witte vom Institut supérieur du travail an der Katholischen Universität Leuven. Eine gefährliche Bewegung? Einige Großunternehmen – die vielleicht unter Druck gesetzt wurden – sollen immerhin schon gedroht haben, die Stadt mit Sack und Pack zu verlassen. „Die Angst quält Antwerpen“, titelte eine große frankophone Tageszeitung. „Die Partei breitet sich wie ein Ölfleck über Flandern aus, und das Ganze nimmt allmählich ein fast schon nationales Ausmaß an“, fügt De Witte hinzu.
„Das eigene Volk zuerst!“
FILIP Dewinter, der Kronprinz Karel Dillens, des betagten Präsidenten der Partei (der ins Europäische Parlament gewählt wurde und dort mit der französischen Front National zusammenarbeitet), ist Mitglied des Gemeinderats und Abgeordneter von Antwerpen. Mit dreiunddreißig Jahren kann er bereits stolz darauf hinweisen, was er alles geleistet hat. Er ist athletisch gebaut, Schlägereien ging er früher nie aus dem Weg. Jetzt kultiviert er, wie die anderen Parteiführer, einen „tugendhaften“ Stil mit guten Manieren. Er kommt direkt auf den Punkt: „Belgien ist ein künstlicher Staat. Die einzig denkbare Lösung: die flämische Unabhängigkeit“, verkündet er in gutem Französisch. Wie im ehemaligen Jugoslawien? „Nein, aber die ehemalige Tschechoslowakei ist ein sehr interessantes Modell.“ Und ein föderalistischer Zusammenschluß wie bei den deutschen „Ländern“? „Niemals. Das würde ja eine Zwangssolidarität zwischen Reichen und Armen bedeuten! Schon jetzt stehlen uns die Wallonen auf dem Weg über die Sozialversicherung mehr als eine Milliarde Francs pro Jahr. Früher haben sie uns als Gastarbeiter benutzt, weil die ganze Schwerindustrie bei ihnen angesiedelt war. Doch jetzt hat sich die Situation gewandelt. Hören Sie, was wir brauchen, ist eine breite Allianz nationalistischer Parteien auf europäischer Ebene: Wir unterhalten gute Beziehungen zur französischen Front National und zu den deutschen Republikanern...“ Auf der letzten Seite der Wahlkampfbroschüre findet man die definitive Schlußfolgerung: „Europa muß sich klarmachen, daß es Belgien nicht mehr lange geben wird“, eine höflichere Version des Zwischenrufs „Belgiä barst“ („Belgien zerbreche“), mit dem ein Abgeordneter des Blok eine Debatte im Bundesparlament unterbrach. Ein wesentlicher Punkt des Programms ist die „begleitete Zurückführung“ aller kriminellen und drogensüchtigen Ausländer sowie der meisten nichteuropäischen Einwanderer... Schon vor den derzeitigen Bruderkriegen fragten zwei aufmerksame Beobachter, ob „dieses Land nicht ein Laboratorium Europas“ ist1. Die Frage nach der jüdischen Gemeinde von Antwerpen ruft bei Dewinter nur ein Schulterzucken hervor. „Die Diamantenindustrie ist nicht so groß!“ Und doch macht sie 7 bis 8 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.
Auf einem Büchertisch findet man Werke über Irma Laplasse, die Tochter eines berüchtigten Kollaborateurs, der vorgeworfen wird, daß sie Widerstandskämpfer an die Deutschen verraten hat – dank des Eingreifens des Vlaams Blok geht das Verfahren gerade in die Revision –, und solche des berühmten Pater Cyriel Verschaeve, der 1946 zum Tode verurteilt wurde – er wollte, wie er selbst sagte, der „Papst des Dritten Reichs“ werden. Der Blok führt eine straff organisierte Kampagne, um eine Amnestie für die alten Kollaborateure durchzusetzen, die er „Opfer der Unterdrückung“ nennt, weist es gleichzeitig aber weit von sich, revisionistisch oder antisemitisch zu sein. „Le Pen ist ein Antisemit, in Flandern aber gibt es keine antijüdische Tradition. Die Säuberung? Die Opfer waren doch wir, die Flamen!“ empört sich Gerolf Annemans, ein junger und brillanter Rechtsanwalt aus Antwerpen, der sehr urban wirkt und Chef der Abgeordneten des Vlaams Blok im Bundesparlament ist. „Nein, wir sind absolut keine Revisionisten“, sagt er sofort, als ihm die verfängliche Frage gestellt wird: „Aber Ihr Präsident, Karel Dillen, hat doch das Buch von Maurice Bardèche über den Nürnberger Prozeß übersetzt?“2 Und irritiert fährt er fort: „Bardèche hat die Existenz der Lager nie geleugnet! Dieser Hugo Gijsels mit seinen Büchern über den Vlaams Blok ist mittlerweile so in Verruf gekommen, daß er von seinen Journalistenkollegen geschmäht und von der ganzen Zunft gemieden wird. Im übrigen hält er sich versteckt!“3
Annemans überreicht uns zum Abschied ein vierzehnseitiges Dokument mit dem Titel „Anatomie einer Mythomanie“, in dem die „Irrtümer“ Hugo Gijsels' widerlegt werden. Bei Bardèche aber, wenn er denn überhaupt einmal auf die Lager anspielt, finden sich Sätze wie: „Franzosen wurden nie deportiert, deportiert wurden immer nur Juden...“ Oder, widerwärtiger noch: „Wie fürs Kino hat man regelrechte Folterkulissen geschaffen... So schreibt man Geschichte, so läßt sie sich sogar fabrizieren.“ Und über die Nürnberger Prozesse schrieb er: „Das ist die Rechtsprechung von Negerstämmen.“ Dieser Revisionismus interessiert die jüdische Gemeinde von Antwerpen naturgemäß sehr stark.
Eine Fläche von zehn Hektar, vier Straßen, das ist das reichste Edelsteinviertel der Welt: Pelikanstraat, Hoveniersstraat, Schupstraat. Eine legendäre Enklave, die die vier Börsen und die Büros der Diamantenhändler beherbergt. Mit mehr als 7 Prozent an den Ausfuhren des Landes beteiligt, stellt der Diamantenhandel einen wichtigen Pfeiler der belgischen Wirtschaft dar. Schläfenlocken, Bärte, schwarze Hüte, Kipas der Chassidim und der Orthodoxen. Dazu die Köfferchen dieser Geschäftsleute, mitunter mit einer Kette am Gürtel befestigt, zweifellos gefüllt mit kostbaren Stücken reinen Kohlenstoffs. Mitten in der Fußgängerzone halten Händler aus Indien und Pakistan ihre Besprechungen ab. Alles wird lückenlos überwacht: Unmöglich, daß der Aufmerksamkeit der Polizeikräfte etwas entgeht. Dutzende von Videokameras wurden installiert. Wegen des – palästinensischen? – Attentats von 1981 und wegen des unglaublichen bewaffneten Raubüberfalls auf das Antwerpsche Diamanthuis im letzten Dezember.4
In der gut besuchten koscheren Bar wird schon beim Frühstück emsig verhandelt; selbst noch in der Küche werden einträgliche Geschäfte abgeschlossen, und zwar auf Ehrenwort; einer Unterschrift bedarf es nicht. Mit Hingabe, Verve und höchster Konzentration wird hier gleichzeitig englisch, italienisch, französisch, jiddisch und flämisch gesprochen. Eine warmherzige Atmosphäre, aber das Viertel selbst ist abgesperrt, Autos brauchen eine Sondergenehmigung. Der Zugang zu den Diamantenbörsen wird streng kontrolliert: Unter den Augen bewaffneter Sicherheitsbeamter werden die Ausweispapiere mit der Lupe überprüft.
Monsieur Mémoire
NATHAN Ramet, ein Diamantenhändler und ehemaliger KZ-Häftling, empfängt den Besucher in seinen Büroräumen; hier wird er von allen respektvoll Monsieur Mémoire – Herr Gedächtnis – genannt. Siebenundfünfzig Mitglieder seiner Familie wurden deportiert, nur zwei kehrten zurück. Sein Projekt: ein Museum der Deportation und des Widerstands in Mecheln, dessen Pläne er uns zeigt. „Wir wollen keine frontale Auseinandersetzung mit den Extremisten. Im Moment besteht kein Anlaß zur Panik. Im übrigen unterstützt uns die ganze flämische Gemeinschaft. Der Blok versichert, ,daß die Juden ein Teil der flämischen Heimat sind‘. Doch wer soll darüber entscheiden, wer ein flämischer Jude ist und wer nicht?“ fügt er mit Humor hinzu. Mitten im Gespräch öffnet er mechanisch die berühmten kleinen weißen Papierkügelchen, die die Edelsteine enthalten. In Reichweite der Hand steht die unverzichtbare Waage unter Glas, die auf ein tausendstel Karat genau ist und nur darauf wartet, die Steine zu wiegen.
Ein anderer Händler äußert sich ähnlich: „Wissen Sie, bloß weil 30 Prozent der Bevölkerung Antwerpens für den Vlaams Blok gestimmt haben, ist Flandern noch lange nicht faschistisch oder rassistisch geworden!“ Bricht Belgien auseinander? „Die Gefahr sehe ich kaum.“ Der Grund für dieses extremistische Votum? „Zum Teil die gewaltige Politikverdrossenheit. Es gab zu viele Skandale, und seit Jahrzehnten schon wird die Stadt schlecht verwaltet.“
In der geschlossenen Welt der Diamantenhändler
ANTWERPEN besteht aus nichtkommunizierenden Gefäßen; man vermischt sich nicht. Die Welt der Diamantenhändler – ganz so wie die des alteingesessenen Großbürgertums – ist eine Welt für sich. Ein geschlossenes, fest zusammengeschweißtes Universum mit seinen Schulen, Banken, Sportvereinen und Jugendbewegungen. „Eine moderne Gemeinde“, wie uns eines ihrer Mitglieder vor einem bolleke (Glas Bier) sagt, in einem der Muskicafés, die den Charme der Altstadt ausmachen. „Einige leben völlig materialistisch, breiten gern ihren Reichtum aus und konsumieren gern. Doch die Diamantenhändler sind Leute, die über alles auf dem laufenden sind, große polyglotte Reisende, die es verstehen, die internationale Lage haargenau einzuschätzen. Unsere Orthodoxen? Wieder eine Welt für sich. Was die Chassidim betrifft, so leben sie von den milden Gaben ihrer Familie, studieren den Talmud und zeugen viele Kinder.“ Und die traditionelle flämische Gesellschaft? „Ein Mosaik von Stämmen; jeder hat seinen eigenen Fürsten, so wie wir früher unsere ,Barone‘ hatten. Sie geben sich gern gastfreundlich und paternalistisch, behalten aber immer ihren Kaufmannsgeist – oder den von Großbauern, je nachdem. Wir haben unsere Chilperichs und Merovechs.“
Dieser frankophile Patrizier aus altem Antwerpener Geschlecht übt mit Lust Selbstkritik. „Die Flaminganten ziehen über die Wallonen her. Aber sehen Sie, zwischen Antwerpen und Brügge gibt es ebensoviel Haß wie zwischen Brügge und Namur!“ Und doch: Welch ein Unterschied herrscht zwischen diesen warmherzigen, überschwenglichen und lebenslustigen Menschen und der Kälte in Frankreich! Ihr Kosmopolitismus? Viele europäische Eliten könnten sie darum beneiden.
Ein anderes „Ghetto“ bilden die indischen Diamantenhändler, Hindus aus Gujarat. Dank ihrer riesigen Familien verfügen sie über weitgespannte Netze, die von New York über London bis Bombay reichen. Einige haben sich prachtvolle Paläste bauen lassen. Ein befreundeter Dekorateur erzählt mir, er habe dort riesige Warenstapel gesehen und Keller, die von unten bis oben mit Vorräten vollgepfropft waren. Um einer Belagerung standzuhalten? Fürchten sie vielleicht etwas? So hartnäckig, wie im Diamantenmilieu geschwiegen wird, so allgegenwärtig ist die Unruhe.
1994 haben die tausendzweihundert Diamantengesellschaften 237 Millionen Karat umgesetzt und damit ein Rekordergebnis von 620 Milliarden belgischen Francs erzielt. 80 Prozent der Rohdiamanten kommen nach Antwerpen, 80 Prozent davon verlassen es in diesem Zustand wieder, unbesteuert und zollfrei5. Der internationale Handel mit geschliffenen Steinen spielt sich zu 54 Prozent in der Stadt an der Schelde ab, die schönsten Stücke werden im benachbarten Kempenland von den besten Kunsthandwerkern der Welt bearbeitet, die dem Stein den „schönen belgischen Schliff“ geben; die zweite Wahl wird nach Bombay geschickt, um dort bearbeitet zu werden. Oder nach China, Israel, Thailand, um von den niedrigen Lohnkosten zu profitieren. Zu Tausenden wechseln die wertvollen kleinen Pakete ihre Besitzer. Doch selbst hier spürt man die Rezession. De Beers, der Hauptlieferant, versucht die hohen Preise zu halten. Sein Monopol scheint aber erschüttert zu werden durch den Schmuggel mit Diamanten russischer Herkunft, die zum Großteil aus den Minen Jakutiens stammen6. Rußland soll zu Dumpingpreisen Steine zweiter Wahl in großen Mengen auf den Markt werfen: die „berühmte strategische Reserve, die während des Kalten Krieges angelegt wurde“7. Gibt es vielleicht eine georgische Mafia? Unter den Bahnhofsarkaden wird in kümmerlichen Buden aus der Mode gekommener vulgärer Schmuck angeboten; der Verkäufer verspricht, einem im Fall des Kaufs ein „Echtheitszertifikat“ auszuhändigen.
Eine lange ausländerfeindliche Vergangenheit
WIE kann eine so kosmopolitische Stadt, die 1993 Kulturhauptstadt Europas war, eine rassistische Partei wählen?“ fragt sich Regards, die Wochenzeitschrift des jüdischen laizistischen Gemeindezentrums von Brüssel.8 „Sind die Juden vor dem Rassismus geschützt?“ Nathan Ramet merkt dazu an, daß „die jüngsten Richtlinien des Vlaams Blok sehr deutlich sind: Nur Marokkaner und Türken sollen offen angegriffen werden, während alle antisemitischen Äußerungen in der Propaganda zu vermeiden sind. Doch wir dürfen uns nicht an der Nase herumführen lassen.“
In seinem Büro in Brüssel, wo er im Bundesparlament sitzt, geht Fred Erdman, Antwerpener sozialistischer Senator, zum Angriff über: „Der Vlaams Blok leidet vor allem an der Bürde seiner Vergangenheit; er versucht deshalb, eine nationalistische Jungfräulichkeit zurückzugewinnen: Doch selbst der Deutsche Schönhuber hat sich von ihnen distanziert, weil er sie für zu faschistisch hielt. Ihr System? Immer wenn einer auf frischer Tat ertappt wird, heißt es: Aber er wurde doch aus der Partei ausgeschlossen!“
„Vor dem Krieg überboten sich Antwerpener Organisationen wie Verdinaso und Rex gegenseitig in ihren antijüdischen Invektiven“, schreibt Hugo Gijsels in seinem Buch über den Vlaams Blok. So schürte man Fremdenhaß und Antisemitismus. Während der Besatzungszeit taten die Deutschen dann alles, um die Spaltung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Sie spielten die pangermanistische Karte aus und ließen die flämischen Gefangenen frei, während die Wallonen hinter Stacheldraht vegetieren mußten. Was einige Flamen nicht sonderlich betrübte, die wild entschlossen waren, nie zu vergessen, daß eine frankophone Elite und ein frankophoner belgischer Staat sie zuvor wirtschaftlich und kulturell unterdrückt hatten.
Was sind für die Extremisten die großen Daten der Geschichte? Die Schlacht von Poitiers und die „Schlacht der Goldenen Sporen“, in der die adligen französischen Ritter Philipps des Schönen bei Courtrai vom flämischen Fußvolk geschlagen wurden. In „Der Kummer von Flandern“9, einem mit Spott und Hohn gespickten burlesken Bestseller von Hugo Claus, sagt jemand zur Hauptfigur des Romans: „Wir hier sind germanisch. Gott hat die Dinge nun einmal so verteilt. Es gibt verschiedene Rassen, und einige stehen Seinem Herzen näher...“ Und dann: „Auch sie sind Germanen. Wir haben dieselbe Rasse.“ Erwähnt wird unfehlbar auch die Schlacht an der Yser während des Ersten Weltkriegs, in der arme flämische Soldaten niedergemetzelt wurden, weil französische Offiziere ihnen Befehle gegeben hatten, von denen sie kein Wort verstanden.
Drei der vier Razzien gegen die Juden im Jahre 1942 fanden in Antwerpen statt, wo ein günstiges Klima für kleine Parteien herrschte, die zur Kollaboration neigten und dem irren – manchmal gewalttätigen – Traum vom Pangermanismus huldigten, der ihnen jede Ideologie ersetzte. So war es denn auch kein Zufall, daß sich nach der Befreiung sehr viele flämische Ex-Kollaborateure an den Ufern der Schelde einfanden.
Karel Dillen, Präsident „auf Lebenszeit“ und Abgeordneter der Partei im Europaparlament, zeigt sich in Straßburg gern an der Seite von Jean- Marie Le Pen. Sein politischer Lebensweg verlief geradlinig, seine Gedanken haben sich kaum gewandelt. Er, der sich stets weigerte, den Nazismus zu verurteilen, nahm teil an den Aktivitäten des VMO (Vlaamse Militante Orde), einer Nachfolgeorganisation des Dinaso (Dinaso Militante Orde). Der VMO wurde später in die VU (Volksunie) integriert, bis diese sich von ihm trennte, da sie ihn für eindeutig faschistisch hielt. Daraufhin gründete Karel Dillen 1978 den Vlaams Blok. Dieser hat eine starke rechtsextremistische und neonazistische Komponente, da nicht nur der VMO zu ihm gehört, sondern auch Gruppierungen wie Voorpost, Were Di, NSV usw. Was von Dewinter, dem Kronprinzen der Partei, in seinem Buch „Allein gegen alle“ auch nicht geleugnet wird. Manuel Abramowicz stieß auf einer Wahlliste des Vlaams Blok auf die Spur von Van Hecke, der seinerzeit in der SS war, und entdeckte Verbindungen des hochberüchtigten Bert Eriksson zum Blok. „Auf den Wahllisten dieser ethnozentrischen Partei findet man Leugner des Holocausts, auch wenn sie offiziell nicht antisemitisch ist.“10
Auf wallonischer Seite wird das Einwanderungsthema von der Rechten natürlich auch aufgegriffen, aber Parteien wie der Front national belge oder Agir, die mit den Flamen kaum zusammenarbeiten, haben sehr viel weniger Anhänger.
„Eigen Volk eerst“: eine Partei der Ewiggestrigen? Sicher, aber in Antwerpen fand sie ungewöhnlich günstige Voraussetzungen vor – eine schlechte Stadtverwaltung, Schmiergeldaffären, schwierige und ungeliebte politische Bündnisse. Eine Situation, die fast fünfundsiebzig Jahre so anhielt, bis zu den Kommunalwahlen im vergangenen Oktober. Bei den Parlaments- und Ratswahlen am 21. Mai besteht also durchaus die Gefahr, daß diese im Sinne eines Programms ausgehen, das von einem sauberen und gesunden Europa schwärmt, „nicht überschwemmt von Afrikanern und Asiaten“, wie Karel Dillen es formuliert, und von einer sauberen flämischen Metropole, die vom fremden Schmutz gereinigt ist.
In Antwerpen haben sich zwei Parteien die Macht, das Rathaus und den Hafen geteilt: die Flämischen Sozialisten (SP), seit einiger Zeit in den Agusta-Skandal verwickelt, und die flämische Christliche Volkspartei (CVP). Eine abgenutzte Koalition, die das Spiel der Kompromisse – eine belgische Spezialität – bis zur völligen gegenseitigen Lähmung praktiziert hat. Da man sich hauptsächlich um den Hafen kümmerte, wurde die Stadt führungslos sich selbst überlassen. „Ein wahrhaft surreales Spektakel!“, wie man sagen hört. Trotz seiner legendären Dynamik ist es dem vorigen Bürgermeister, Bob Cools, nicht gelungen, die beiden Parteien zur konstruktiven Zusammenarbeit zu bewegen. „Immer wieder neue Skandale, ein ständiger Mangel an klaren Mehrheiten, um eine klare Politik zu machen; und das Ende des Tunnels ist immer noch nicht in Sicht“, so eine hochgestellte Persönlichkeit, die nicht genannt werden möchte.
Der Vlaams Blok nutzt die Führungslosigkeit der Stadt populistisch aus. Alles kommt ihm dabei zustatten: die Sicherheitsbedürfnisse, die Anwesenheit der offiziellen oder inoffiziellen Einwanderer (geschätzt auf etwa zwanzigtausend, bei einer Bevölkerung von einer halben Million nicht besonders viel), die Ungleichheit beim Nord-Süd- Transfer11, die zu geringe Personalstärke der Polizei, der Wertezerfall und die Auflösung der Familie, die Frauen, die nicht mehr genug Kinder kriegen, um den Fortbestand der „flämischen“ Rasse zu garantieren, die Arbeitslosigkeit der Jungen, die Ängste der Alten – und nicht zu vergessen die Prostitution, deren Geißelung viele Stimmen einbringt! Der Partei gelang es so, auch bei Hafenarbeitern und Gewerkschaften Anklang zu finden. Marokkaner und Türken leben vor allem in Borgerhout, einem Viertel, das weniger heruntergekommen wirkt als manche französische Vorstädte (in Belgien gibt es keine Banlieue), und wo zur Zeit eine große Moschee errichtet wird, die wir in Begleitung eines Vertreters der türkischen Gemeinde besuchen. „Wie, Sie waren in Borgerokko (eine Kontraktion aus Borgerhout und Marokko, die in Antwerpen oft benutzt wird)?“ ruft die stets gut gelaunte Hotelwirtin aus. „Na, dann verstehen Sie jetzt, warum alle hier in der Straße den Vlaams Blok wählen! Diese Moslems können doch nicht arbeiten, und wie schmutzig es dort ist!“ Mit Bedauern fügt sie allerdings hinzu: „Diesen Filip Dewinter mag natürlich keiner so recht...“
Wie sehen dessen Wähler aus? Welche Verbindung besteht zwischen dem Stimmenanteil der Partei und der Anwesenheit von Einwanderern? „Solche Verbindungen gibt es natürlich“, sagt Marc Swyngedouw, Professor für politische Soziologie in Brüssel, „doch viele Stimmen hat der Blok gerade in Gemeinden gesammelt, in denen es keine Einwanderer gibt. Das Profil seiner Wähler? Sie kommen aus allen Bevölkerungsgruppen; allerdings kann man feststellen, daß der Blok bei den Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen auf 32,5 Prozent der Stimmen kam – hier wurde er vor allem von den sogenannten einfachen Leuten gewählt, von Männern und Frauen gleichermaßen –, während er bei den Älteren ab fünfundsechzig 18 bis 20 Prozent erzielte.“ Die Partei ist nicht reich. Hauptsächlich finanziert sie sich von Geldern, die der Staat den politischen Organisationen zufließen läßt. Daneben werden ihre aktiven Vertreter allerdings auch von alten Kollaborateuren unterstützt, von wohlhabenden Spießbürgern und von der eigenen Familie. „Sind die Antwerpener Anarchisten? Sie wählen jedenfalls launenhafter, sonderbarer und unberechenbarer als das übrige Belgien“, sagt Professor Swyngedouw. Angesichts der akuten Gefahr haben die Parteien jetzt mobil gemacht. Alle Gemeinden haben einen förmlichen Vertrag unterzeichnet, den berühmten „Cordon sanitaire“ („Sperrgürtel“), in dem sie sich verpflichten, nirgends mit den Extremisten zusammenzuarbeiten, weder auf lokaler noch auf regionaler, noch auf Bundesebene.12
Wie soll dieses Bündnis realisiert werden? „Wegen der festgefahrenen Verhandlungen über das Programm und die Vergabe der Ämter blieb die Metropole wochenlang ruderlos!“ klagt Léona Detiège, die frühere Arbeitsministerin (SP) und neue Bürgermeisterin, in ihrem Büro, das auf den Großen Markt blickt, vor dem Hintergrund herrlichen Täfelwerks und verzierter Medaillons. Zu den beiden traditionellen Parteien sind die Liberalen des VLD hinzugekommen, Agalev (die Ökologiepartei) und sogar eine kleine Unabhängige Liste, der WOW („In Ruhe alt werden“), eine jener extravaganten Bewegungen, für die man hier ein Faible hat. Man hofft, daß der Karren der Stadt nicht steckenbleibt oder umkippt. Der Schlüsselposten des stellvertretenden Bürgermeisters und obersten Hafenmeisters geht an einen Liberalen, den Baron Delwaide.
Um einer Stadt zu helfen, die sich seit Jahren verlassen fühlt und von der „braunen Pest“ bedroht ist, wird die neue Bürgermeisterin einen harten Kampf führen müssen. Was ist besonders dringlich? „Wir müssen den Kontakt zur Bevölkerung wiederherstellen.“ Was hat Vorrang? „Die wirtschaftliche Führung des riesigen Hafens, aber natürlich auch die Bevölkerung von Antwerpen.“
„Man muß die Stadt wieder attraktiv machen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen, den Antwerpenern ihren verlorenen Stolz zurückgeben.“ Das riesige High-Tech-Büro des Barons Delwaide blickt auf den zweitgrößten Hafen Europas – nach Rotterdam – und „den größten Hafen Frankreichs!“, wie er schelmisch hinzufügt.
Die Hafenarbeiter hier zählen zu den schnellsten und besten der Welt. Das riesige Industriegebiet an der Schelde – zweitgrößtes petrochemisches Zentrum der Welt nach Houston – beschäftigt mehr als fünfundsechzigtausend Personen. Und seit 1992 können die Schiffe von Antwerpen bis ins Schwarze Meer fahren! Der oberste Hafenmeister ist zufrieden: Soeben hat er seine Unterschrift unter eine Vereinbarung mit den Niederlanden gesetzt, in der eine Austiefung der Schelde beschlossen wurde (deren Mündungsgebiet in Holland liegt). „Die Verhandlungen zogen sich über zwanzig Jahre hin... Meine Ziele? Ich will die Verbindungen zur Wallonie, zu Brüssel und den frankophonen Ländern pflegen – und natürlich die eminent wichtigen Beziehungen zu den Ländern des Ostens ausbauen. Das Verhalten des Vlaams Blok ist fahrlässig, vor allem wenn er die Ausländer vor die Tür setzen will und sogar Einwanderer, die schon die belgische Staatsangehörigkeit haben.“
Denn abgesehen vom ethischen Aspekt, behindern die Umtriebe der Partei auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, da bei solch unsicheren Verhältnissen kaum fremdes Kapital zufließt. „Doch die extreme Rechte“, meint unser Gesprächspartner sorgenvoll, „wird sich so leicht nicht vertreiben lassen.“ In der Tat: Zwar praktiziert die jüdische Gemeinde weiterhin ihre sprichwörtliche Zurückhaltung, doch privat haben uns einige anvertraut: „Das nächste Ziel sind wir.“
Die grenzüberschreitende Rechte
DER Agusta-Skandal zwang dazu, den Wahltermin vorzuverlegen. Hauptnutznießer davon droht der Vlaams Blok zu werden, vor allem, da er sich bemüht, möglichst respektabel aufzutreten. Filip Dewinter, der führende Kopf der Partei, steht nicht an zu behaupten: „Der VB? Das ist die einzige demokratische Partei Belgiens.“ Doch unter der hölzernen Sprache gären alle Ingredienzien der Gewalt.
„Wir gehen auf schwierige Zeiten zu, die extreme Rechte wird den Gipfel ihrer Macht erreichen. Bei uns, in Flandern, aber auch bei unserem batavischen Nachbarn, wo Dewinter den holländischen Faschisten Strategieunterricht erteilt. Der Blok ist äußerst straff organisiert, hat strenge Richtlinien, und reißt alles an sich, was ihm zupaß kommt, bis hin zu den Symbolen und der Rhetorik waschechter Sozialisten“, betont Lukas De Vos, Journalist und Sprecher des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Zusammenarbeit und Entwicklung. Bedroht diese Strömung die Einheit Belgiens? „Verlieren wir die globalen Verhältnisse nicht aus den Augen“, meint De Vos. „In gewisser Weise existiert Belgien nicht mehr! Seit der Föderalisierungsprozeß in Gang gekommen ist, gibt es keinen jakobinisch belgischen Staat mehr; und ab dem nächsten 21. Mai werden das wallonische und flämische Parlament in Direktwahl gewählt, was einer totalen rechtlichen Autonomie gleichkommt13.
Warum noch von Separatismus reden? Die Europäisierung wird ihn ersetzen. Gibt es in einem Land, das letztlich ziemlich anarchistisch und antiautoritär ist, überhaupt ein belgisches Nationalgefühl?“ Paradoxerweise erklärt sich der Erfolg des Vlaams Blok weitgehend durch diese antiautoritäre Strömung – während die Partei durch und durch autoritär ist...
1 Colette Braeckman und Charles Bricman, „L'avenir fugitif de l'identité belge“, Le Monde diplomatique, Januar 1989.
2 Maurice Bardèche, „Nuremberg ou la Terre promise“, Paris: Les Sept Couleurs, 1948.
3 Hugo Gijsels, „Le Vlaams Blok“, fr. Übers. von Nadine Laurent, Brüssel: Luc Pire, 1993. „Ouvrez les yeux“, fr. Übers. von Didier Delafontaine, Brüssel: Luc Pire, 1994.
4 Le Monde, 7. Februar 1995
5 Le soir, 20 Januar 1995
6 Erlends Calabuig, „Yakutie, naissance d'une nation“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.
7 Le Soir, 20. Februar 1995
8 Regards, revue juive de Belgique, 1. Dezember 1994
9 Hugo Claus, „Der Kummer von Flandern“, Stuttgart: Klett- Cotta.
10 Manuel Abramowicz, „Extrême droite et antisémitisme en Belgique“, Brüssel: Vie ouvrière, 1993.
11 Jean de la Guérivière, „Belgique: la revanche des langues“, Paris: Le Seuil, 1994.
12 Vgl. Hugo Gijsels, op. cit.
13 Im Konfliktfall wird ein Schiedsgericht entscheiden.