12.05.1995

„Denver“ in Ägypten

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„Denver“ in Ägypten

EIN Spiegel, in dem die Bürger die Widersprüche und Bruchstücke politischer Sozialisation und ihre Manipulation durch die Machthaber lesen lernen: so stellen sich die ägyptischen Fernsehserien dar, die zu den Hauptsendezeiten ausgestrahlt werden und einer relativ toleranten Zensur unterworfen sind. Die kommerzielle Logik, die sich nach und nach in diesem einst staatlichen Sektor durchsetzt, hat die Spielregeln nur wenig verändert. Auch in diesem Jahr haben die Ägypter auf der Mattscheibe Serien sehen können, die die Botschaft der Machthaber zum antiislamistischen Kampf aufnahmen und verarbeiteten. Rund hundert Produktionsfirmen, die sich auf Serien und Unterhaltungsfilme „made in Egypt“ spezialisiert haben, sind neu gegründet worden.

Von DINA EL-KHAWAGA * und ALAIN ROUSSILLON *

Am Ende des Ramadan, einem Monat des Fastens und der nächtlichen Freuden, haben die ägyptischen Fernsehzuschauer enttäuscht Bilanz gezogen. Die Fernsehserien, die sie jeden Abend scharenweise vor ihre Fernseher treiben, waren dieses Jahr nicht auf der Höhe ihrer Erwartungen. An der Quantität lag es allerdings nicht: Immerhin acht Serien buhlten um ihre Gunst, „als bringe eine solche Vielfalt uns Gott näher und als mache sie unser Fasten in Seinen Augen verdienstvoller1“. Die Zahlen sprechen für sich: Bei einer Gesamtsumme von 125 Sendestunden am Tag – aufgeteilt auf die beiden nationalen Kanäle, die lokalen Sender und den brandneuen ägyptischen Satellitensender – lag die durchschnittliche Sendezeit von Fernsehserien im Ramadan bei täglich acht Stunden. Dennoch macht sich Frustration breit, sie rührt aus dem Mangel an neuen Ideen und der Eintönigkeit des Kode, der alle diese Serien beherrscht, und sie steigt, je länger das Warten dauert. Während der sechs Monate vor der Fernsehfeierzeit, zu der der Fastenmonat geworden ist, war nicht eine einzige bedeutende ägyptische Serie ausgestrahlt worden. Schlimmer noch, die beiden Fernsehserien, die die Ägypter 1994 in ihren Bann gezogen hatten, eine amerikanische und eine japanische („The Bold and the Beautiful“ sowie „Oshine“ siehe Kasten), wurden schlicht und einfach unterbrochen. Der „Entzug“ konnte auch nicht dadurch kompensiert werden, daß die zunehmende Zahl von Satelliten es einigen Privilegierten ermöglicht haben, die in Dubai, Abu Dhabi oder Kuwait ausgestrahlten ägyptischen und amerikanischen Serien zu verfolgen – noch bevor sie in die nationalen Kanäle kamen.

Diese neuen Konsumformen, die durch die Internationalisierung der Medien entstehen, bleiben für die große Mehrheit der Ägypter unerreichbar – eine Parabolantenne kostet etwa 1.500 Dollar, fast das Dreifache des durchschnittlichen Jahreseinkommens (610 Dollar). Sie können daher weder den Debatten in der Presse noch Polemiken unter Freunden, Kollegen oder Nachbarn Stoff bieten. Der Ramadan ist ein besonderer Monat der „geistigen Verbundenheit“ der Zuschauer mit ihrem Fernseher.

Hier mobilisiert die Serienindustrie ihre materiellen Ressourcen zugunsten der soziopolitischen oder wirtschaftlichen „nationalen Herausforderungen“, so wie sie periodisch von der Elite des Landes neu definiert werden. Dies macht die Serien in Ägypten zu einem wesentlichen Instrument der politischen Sozialisation. Informationsminister Safwat al- Sharif drückte das so aus: „Unser Ziel ist es, durch die Ausstrahlung vieler solcher Serien das kollektive Gedächtnis der Nation zu reaktivieren, ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen und unsere gemeinsamen Werte zu festigen.“2 Nichts anderes meinen die Autoren der Serien, wenn sie sich in der Presse über ihre eigene Motivation verbreiten und über den Geist, der ihre Produktionen für den heiligen Ramadanmonat beseelt: Für den Schriftsteller Gamal al-Ghitani stellt die Verfilmung seines Romans „Seini Barakat“3 „die philosophische Frage nach der Macht“ und die nach der „Instrumentalisierung der Religion“ im Dienst der Unterdrückung4.

Nationale Besinnung

IN diesem Jahr verfestigte sich die kommerzielle Logik: ein Satellitensender startete, die Zahl der Parabolantennen in den Städten vervielfachte sich, haufenweise produzierten Privatfirmen Serien für die Golfstaaten. All dies bedeutet das Ende einer Struktur, in der die Produktion vom Staat beherrscht wurde. Das explosionsartige Wachstum des Angebots zeigt den Triumph der Privatisierung: 1994 wurden 40 Serien produziert, verglichen mit 26 im Vorjahr; 35 Fernsehfilme statt 12, zum ersten Mal wurden auch zwei Spielfilme gedreht.

Die Zahl der arabischen Kabelsender nimmt zu: Es sind die fünf Kanäle von Art (einer privaten saudischen Gesellschaft, die von Italien und Zypern aus sendet), Orbit (ein der BBC verbundener arabischsprachiger Sender) und MBC (ein mit saudischen Interessen verbundener aus London sendender Kanal), dazu die über Satelliten ausgestrahlten Sender zahlreicher arabischer Staaten. Die steigende Nachfrage nach Serien bedeutet eine zugleich wirtschaftliche und professionelle Herausforderung für Ägypten, das bislang ein Quasimonopol auf die Produktion arabischsprachiger Serien besaß.

Jetzt geht es für Ägypten darum, die „künstlerische Qualität“ einer Produktion aufrechtzuerhalten, die dem Land eine zentrale kulturelle Rolle in der arabischen Welt ermöglicht hat – und den amerikanischen Serien etwas entgegenzusetzen. Und wie kann man zugleich den spezifischen Anforderungen der ausländischen Abnehmer dieser Produktionen gerecht werden, im Maghreb und auf der arabischen Halbinsel, vor allem wegen der Zensur und der „islamischen“ Moral?5 Die Antwort auf dieses Dilemma war die Gründung einer Vielzahl von rund hundert Produktionsfirmen, die sich auf Serien und Unterhaltungssendungen „made in Egypt“ spezialisiert haben.

Oft wurden sie von Staatsbediensteten gegründet, die Firmen verschaffen ihnen zusätzliche Beschäftigung und einen Anteil an den neuen Märkten. Diese Neugliederung hat nicht nur die Rolle des „nationalen audiovisuellen Sektors“ ausgehöhlt, der bis jetzt die Vermarktung in der arabischen Welt monopolisierte; sie haben auch die Privatisierung der Produktion dieser Fernsehserien institutionalisiert, wobei der staatliche Sender gleichzeitig die Rolle des Dienstleistungsbetriebs (Studios, Techniker, usw.) und die des ersten potentiellen Kunden übernimmt.

Heißt das auch, daß die eigentlich politische Dimension dieser Produktionen jetzt angesichts der Logik von Angebot und Nachfrage fallengelassen wird? Wird der Ramadan nicht länger ein besonderer Monat der nationalen Sozialisation und Besinnung bleiben, eine Parenthese, welche die Hegemonie der Vermarktungslogik jedes Jahr dreißig Tage lang unterbricht? Man kann daran zweifeln – angesichts der Art, in der sich der ägyptische Machtapparat weiterhin auf die Fernsehserien stützt, um Botschaften unter das Volk zu bringen: zur inneren Situation Ägyptens, zu seinen diplomatischen oder geopolitischen Optionen oder auch, besonders nachdrücklich, zu seiner Konfrontation mit der islamistischen Opposition.

„Die Nächte von Hilmiya“, eine Serie, die seit fünf Jahren im Ramadan in der Form aufeinanderfolgender Zeitläufe gesendet wird, illustriert, was die mediale Zentralstellung Ägyptens ausmacht und gleichzeitig die Zuschauer beglückt. Die Serie des Stardrehbuchautors Oussama Anwar Oukacha kehrt zu den Schlüsselereignissen der ägyptischen Geschichte seit den dreißiger Jahren zurück, dabei dient das alte Viertel Hilmiya als symbolischer Ort. In diesem Mikrokosmos der Nation behandelt der Autor mit Hilfe dreier Generationen die Wünsche, Konflikte, Debatten, die den „Faden“ der modernen Geschichte ausmachen – von heute aktuellen Themen aus gesponnen: Verwestlichung gegen Wahrung der Traditionen, Generationskonflikte, Beziehungen zwischen den Geschlechtern, andauernde Gültigkeit der religiösen Bestimmungen bilden Brücken, die es ermöglichen, von einer Reihe von Episoden zur nächsten überzugehen, vom Liberal Age zur revolutionären Periode nach Nassers Putsch 1952, von der von Anwar El-Sadat durchgeführten Infitah (der wirtschaftlichen Öffnung) bis zur heutigen Konfrontation mit den Islamisten.

In diesem „Leseschema“ sind es die heikelsten Themen, die die – scheinbar – kühnsten Interpretationen erlauben, da sie von der öffentlichen Meinung als „Probleme der Gesellschaft“ anerkannt werden. Deklassierung der Akademiker, Emigration in die Golfstaaten, Bigamie (aber nicht Ehebruch), Terrorismus, Korruption oder Machtmißbrauch sind einige der am häufigsten auftauchenden Themen. Der unbestreitbare Publikumserfolg dieses überpolitisierten ägyptischen Dallas und die dicken Profite, die seine Kommerzialisierung auf dem regionalen Markt abwirft – die Serie wurde an sieben arabische Sender verkauft –, haben Nachahmer angelockt. Die im letzten Ramadan ausgestrahlten Serien übernehmen alle auf die eine oder andere Weise das Strickmuster der „Nächte von Hilmiya. Das Geld und die Söhne“, wo es um das Thema des Nasserschen Despotismus und das Defizit an moralischen Werten im heutigen Ägypten geht.

„Das Tor von al-Halawani“, eine Serie, die in der Epoche des Khediven Ismail (1863 bis 1879) spielt und das Thema des ottomanischen Komplotts gegen die Modernisierung Ägyptens aufnimmt; „Seini Barakat“, wo es zur Zeit der Mamelucken (bis 1811) darum geht, den Despotismus der Herrscher anzuprangern... Der Erfolg von „Die Nächte von Hilmiya“ und „Seini Barakat“ wurde erst möglich durch vorsichtiges Übertreten der Regeln der herrschenden Zensur, die seitdem den Serien – und nur ihnen – einen offen kritischen Ton gegenüber der politischen Macht erlauben.

Tatsächlich scheint das Kalkül des Zensors bei aller Systematik auch recht geschickt: indem er solche Kritik durchgehen läßt, verschafft er dem Reden der Machthaber über Demokratie Glaubwürdigkeit und läßt gleichzeitig durchblicken, daß alle Formen von Korruption im Machtapparat verurteilt werden. Aus der Sicht des Zuschauers – so möchte man zumindest glauben – stellt sich diese „Transparenz“ als sichtbarer Beweis für Demokratie in Ägypten dar, dafür, daß es wirklich Meinungsfreiheit gibt. Auf diese Weise werden die Serien zu einem Ort nicht so sehr der politischen Debatten, sondern der Definition des sozialen und nationalen „Ich“, in dem sich jeder Ägypter wiedererkennen kann: mögliche Identifikationsfiguren genauso wie solche, die der Abschreckung dienen sollen. Über sie kann der Bezug zwischen der identifikatorischen Vergangenheit und der bitteren Wirklichkeit des Heute hergestellt werden. Die Serien werden zu einem Ort der Produktion von Sinn, mit dem weder die Presse (wegen des Analphabetismus) noch die Politiker (wegen durchgängigen Desinteresses) wirklich konkurrieren können. 1995 wurde das große Thema der Medien – Anprangern des Terrorismus – leicht variiert: Die Figur des Terroristen, der im Namen des Islam seine Nächsten mißhandelt und seine Mitbürger angreift, wurde durch die des Reumütigen ersetzt, der entdeckt, daß die Ausbildung, die er in den afghanischen, jemenitischen oder sudanesischen Trainingslagern erhalten hat, als einziges Ziel die Zerstörung der islamischen Gesellschaften verfolgt.

Den Übergang zwischen diesen beiden islamistischen Figuren schafft das Entlarven der Korruption. In „Die Nächte von Hilmiya“ erstreckt sich die Kritik des Islamisten – als Stereotyp des Antihelden – selbst auf die Praktiken der politischen Kreise, aus denen er hervorgegangen ist. Als er nach seiner Ausbildung zum Terroristen wieder in der Heimat ist, versucht er, vor seinen früheren Komplizen Zuflucht bei den ihm Nahestehenden zu finden, die er in den vorherigen Folgen noch zur Hölle schicken wollte. Jetzt will er nichts weiter, als „nach dem Islam seines Vaters und seiner Großväter in Toleranz und Frieden leben“, versichert der Reuige. Die Scharia wird hier nicht mehr mit Gewalt, sondern durch „Beratung und fromme Aufforderung“ angewandt. Man kann sich dennoch fragen, in welchem Maß dieses sanfte Profil des Islamisten in den Medien eine Versöhnung mit den Machthabern voraussagt: Der Antiheld der „Nächte von Hilmiya“ denunziert nicht nur wie die wirklichen Reuigen systematisch die „Extremisten“, die Islamische Gruppe oder den Dschihad. Er wird, ohne es zu wissen, von der Polizei beschützt und von der Muslimbrüderschaft bei den terroristischen Gruppen angeschwärzt. Die gleichen Muslimbrüder hatten ihn bereits in das Ausbildungslager geschickt. In den diesjährigen Serien werden die Muslimbrüder also in die Galerie derjenigen aufgenommen, die die Gesellschaft und ihre Jugend verderben. Diese Verschiebung ist durchaus bedeutsam, denn in der Wirklichkeit hat die Regierung gerade eine heftige Auseinandersetzung mit den Berufsverbänden begonnen, die von den Muslimbrüdern kontrolliert werden, und bei den Parlamentswahlen vom nächsten November wird es in erster Linie um die Beteiligung eben jener Muslimbrüder gehen.

1 Al Ahram, 3. 3. 95

2 Al Ahram, 26. 2. 95

3 Gamal al-Ghitani: „Seini Barakat, Diener des Sultans, Freund des Volkes“, Lenos Verlag, Basel 1988. Dieser Roman ist auf französisch bei Le Seuil erschienen und in Le Monde diplomatique vom Januar 1985 besprochen worden.

4 Al Musawwar, 3. 3. 95

5 Verbot jeder Szene mit „sexuellen“ Anspielungen (Kuß, Umarmung usw.) oder Körperkontakten, sogar zwischen Eltern, solange die Schauspieler nur auf dem Bildschirm verheiratet sind; Verbot jeder Begegnung ohne Zeugen zwischen einem Mann und einer Frau in einem geschlossenen Ort (auch einem Auto); Verbot jeder Szene, in der man einen Schauspieler Alkohol trinken, Drogen nehmen sieht.

* Forscher am Centre d'études et de documentation économique, juridique et sociale (Cedej), Kairo

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von El-Khawaga und Roussillon