12.05.1995

Argentinien fürchtet mexikanische Zustände

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Argentinien fürchtet mexikanische Zustände

ZUR gleichen Zeit, da in Argentinien immer neue unter der Militärdiktatur begangene Verbrechen ans Tageslicht kommen, steigt im Lande auch die Besorgnis angesichts der äußerst prekären Wirtschaftslage. Die Furcht vor einem Finanzdebakel wie jüngst in Mexiko geht um. Diese Stimmung belastet auch die Debatten um die Präsidentschaftswahlen am 14. Mai. Staatspräsident Carlos Menem wird beschuldigt, eine „Kultur der Korruption“ befördert zu haben. José Octavio Bordón, Kandidat der oppositionellen „Front für ein solidarisches Land“ (Frepaso), hat diese Enthüllungskampagne in Gang gebracht.

Von unserem Sonderkorrespondenten CARLOS GABETTA *

Während die Kriegsmarine am vergangenen 24. Februar mit Getöse ihre alljährlichen Feierlichkeiten beging, erschien „El Vuelo“ (Der Flug), das neueste Werk – und der neueste Sprengsatz – des Journalisten Horacio Verbitsky, eine Art Émile Zola von heute, der zur Galionsfigur des nationalen Gewissens avanciert ist1.

In diesem Buch schildert der ehemalige Korvettenkapitän Adolfo Scilingo erstmals minutiös, wie während der Militärdiktatur (1976–1983) an die 2.000 politische Gefangene lebend aus Marineflugzeugen ins Meer geworfen wurden. Scilingo berichtet, daß er selbst an diesen Aktionen beteiligt war und daß die katholische Kirche in sie verwickelt war. Trotz der Welle der Entrüstung im Lande war Präsident Menem (selbst politischer Gefangener während der Diktatur) nicht bereit, die Akte mit den „Verschwundenen“ erneut zu öffnen; er beschränkte sich auf die Bemerkung, Kapitän Scilingo sei „ein Krimineller und ein Autodieb“2.

Eine Woche später stellte sich Wirtschaftsminister Domingo Cavallo den Fernsehkameras und gab eine Erklärung ab, um die Bürger zu beruhigen. Denn zur gleichen Zeit, da die Enthüllungen über die von der Diktatur begangenen Greuel bekannt wurden, stieg in der Bevölkerung auch die - schon seit dem mexikanischen Finanzdebakel schwelende - Beunruhigung über die wirtschaftliche Lage dses Landes. Die Börse von Buenos Aires erlebte einen Rückgang von 40 Prozent; 3 bis 5 Milliarden US-Dollar wurden ins Ausland gebracht, und mehrere Banken meldeten Konkurs an.3

Cavallo verwies auf seine gesamtwirtschaftlichen Erfolge: radikaler Rückgang der Inflation, Währungsstabilität (1 Peso = 1 US-Dollar), ein ausgeglichener Staatshaushalt, ein stabiles Wirtschaftswachstum. Ein „Wunder“. Aber stellt dies nach dem 19. Dezember 1994, dem Beginn der mexikanischen Wirtschaftskrise, noch eine Garantie für die Zukunft dar? Die besten einheimischen und internationalen Experten, die Cavallo ehedem mit Lob überhäuften, geben sich mittlerweile sehr bedeckt; ihre blinde Bewunderung für das ultraliberale Modell ist inzwischen abgekühlt.4

Cavallos Formel ist bekannt: Parität des Pesos mit dem Dollar, drastische Budgetkürzungen, strikte Steuerdisziplin, Aufstockung der Devisenreserven (3,5 Milliarden Dollar 1989 gegenüber 15 Mrd. Dollar 1995)5 mittels massiven Verkaufs von Staatsunternehmen und von anderem Staatsbesitz, darüber hinaus hohe Zinssätze, um ausländisches Kapital anzulocken. Die Währungsstabilität und der enorme Kapitalzufluß aus dem Ausland (37,6 Mrd. Dollar zwischen 1991 und 1994) kurbelten den Konsum an und bewirkten ein starkes Wirtschaftswachstum (8 Prozent im Jahresdurchschnitt).

Dieses schöne Gebäude zeigt nun Risse. Einerseits hat der Staat praktisch nichts mehr zu verkaufen; andererseits ist das internationale Kapital in bezug auf die „Schwellenländer“ nach der mexikanischen Krise argwöhnisch und zurückhaltend geworden; zudem hat die Liquiditätskrise die Kredite verteuert und eine verringerte Wirtschaftsaktivität bewirkt, was zu Steuereinbußen führte. Kurz, der Mechanismus ist festgefahren, und das ruft Mißtrauen hervor; vor allem aber die Angst vor einer Abwertung oder vor einem Zusammenbruch des Bankensystems. Die Bankkunden haben zwischen Dezember 1994 und März 1995 beinahe 4 Milliarden Dollar von ihren Terminkonten abgezogen, obwohl die Banken ihnen einen Zinssatz von 15 Prozent p.a. bieten. Etwa 40 Banken stehen vor dem Konkurs6, und die massiven Abhebungen der kleinen Sparer stellen eine Bedrohung für das gesamte Bankensystem dar.

Anfang April verschaffte sich Cavallo eine kleine Verschnaufpause; er stimmte einem vom Internationalen Währungsfonds auferlegten drakonischen Restrukturierungsplan zu und erhielt im Gegenzug einen Kredit in Höhe von 6,7 Milliarden Dollar. Der Wirtschaftsminister hat sich bemüht, mittels neuerlicher Privatisierungen zusätzliche 2,4 Mrd. Dollar und mittels eines Haushaltsüberschusses weitere 5,5 Mrd. Dollar zu erwirtschaften. Dies dürfte allerdings schwierig sein, da bereits im ersten Quartal 1995 die Steuereinnahmen um 720 Millionen US-Dollar gesunken sind.

Die Lage bleibt unsicher, denn Argentinien verfügt im Gegensatz zu Mexiko weder über bedeutende Erdölreserven noch über ein Handelsabkommen mit den USA (vergleichbar mit der Nafta), das diese verpflichtet, ihren Partner in schwierigen Zeiten nicht im Stich zu lassen.

Mit den Worten des Ökonomen Nestor Laverne: „Die Alternative sieht nicht gut aus: entweder Abwertung und ein noch schlimmeres Chaos als in Mexiko oder eine tiefe Rezession, die zu einer sozialen Explosion führen könnte.“

1994 erreichte das Außenhandelsdefizit 5,8 Milliarden Dollar; die Auslandsverschuldung stieg ebenfalls, sie beträgt heute 75 Mrd. Dollar, und die Zinsen dafür werden sich 1995 auf 5 Mrd. Dollar belaufen7. Die kleinste Fehlentscheidung, und das argentinische „Wunder“ wird zum Alptraum.

Als Präsident Raúl Alfonsin von der Radikalen Bürgerunion 1989 aus dem Amt schied, litt das Land an einer Hyperinflation. Carlos Menem, der peronistische Wahlsieger, versprach zur Beruhigung der alarmierten Bürger, als allererstes diesen Mißstand zu beseitigen. Cavallos Schocktherapie hatte daher trotz ihres Roßkurcharakters balsamische Wirkung. Insbesondere für die vermögenden Schichten, die bald wieder über ihre alte Kaufkraft verfügten.

Die sozialen Kosten dieser Maßnahmen allerdings sind enorm: die Arbeitslosigkeit beträgt 12,2 Prozent und in Buenos Aires sogar 13,1 Prozent.8 Die Reallöhne in Industrie und Baugewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Prozent gefallen.9

Ganze Bereiche des Wohlfahrtsstaats wurden abgebaut: Tausende von Rentnern, die weniger als umgerechnet 150 Mark im Monat erhalten (die Lebenshaltungskosten in Argentinien sind mit den europäischen vergleichbar), demonstrieren allwöchentlich vor dem Präsidentensitz. Das Gesundheitswesen ist zusammengebrochen.

Für die benachteiligten Bevölkerungsschichten ist die Schulbildung nach den Privatisierungen und den Budgetkürzungen wieder zum unerschwinglichen Luxus geworden. Ein Lehrer verdient nach zwanzig Dienstjahren umgerechnet knapp 600 Mark im Monat...10

Dieses wirtschaftliche und soziale Chaos spielt sich in einem politischen Klima ab, das von Korruption und Skandalen geprägt ist und die Bezeichnung „Bananenrepublik“ gerechtfertigt erscheinen läßt. US-Botschafter Terence Todman kritisierte schließlich 1992 explizit gegenüber der Presse das Verhalten argentinischer Beamter, die von investitionsfreudigen amerikanischen Unternehmern exorbitante Provisionen forderten. Im Dezember 1994 veröffentlichte die Tageszeitung Pagina 12 auf der Titelseite eine „unvollständige“ Liste von „70 Ministern, Vizeministern, Gouverneuren, Abgeordneten, Bürgermeistern, hohen Beamten, Geschäftsmännern und Freunden des Präsidenten, gegen die ein Gerichtsverfahren“11 wegen Korruption anhängig war. Darunter befinden sich: Amira Yoma, die Schwägerin und Privatsekretärin von Präsident Menem, die „sich wegen Waschens von Drogengeld in Untersuchungshaft befindet“ und deren Auslieferung von einem spanischen Richter beantragt wurde; ihr syrischer Ex-Gatte, der, obwohl er kein Wort Spanisch spricht, auf Anweisung des Präsidenten zum Chef des Zollwesens ernannt wurde; Carlos Grosso, ehemaliger Bürgermeister von Buenos Aires, „der in zwölf Hauptanklagepunkten, darunter illegale Bereicherung im Zusammenhang mit Privatisierungen, gerichtlich belangt wird“; und Miguel Vicco, „Ex-Privatsekretär von Menem, der beschuldigt wird, dem Staat verseuchte Milch für die Armenhilfsprogramme verkauft zu haben“...

Möglichkeiten der Veränderung?

Wie können sich die Bürger gegen eine Korruption solchen Ausmaßes wehren? Auf die Justiz können sie sich nicht verlassen. Die Zeitung Pagina 12 erklärt warum: „Menems Regierung hat die Zahl der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs erhöht, damit sie dort über eine Mehrheit verfügt; sie hat einen neuen Kassationshof gegründet und alle dreizehn Mitglieder selbst ernannt.“ Auf allen Ebenen der Rechtsprechung verfügt die Regierung über eine Mehrheit von treuen Verbündeten.

Die Kontrolle hat machiavellistischen Charakter: Wenn sich ein Richter den Weisungen der Regierung widersetzt, wenn er auf einer „unerwünschten“ Untersuchung beharrt, wird er einfach „befördert“ und durch einen verläßlichen Richter ersetzt. Niemand kann dagegen Widerspruch einlegen. Höchstens zurücktreten, wie dies Justizminister Carlos Arslanian getan hat. Auf diese Weise kam es, daß Amira Yoma, die Schwägerin des Präsidenten, einfach freigesprochen wurde. Der Verfall der Justiz geht inzwischen so weit, daß manche Richter wissentlich „unerwünschte“ Untersuchungen einleiten, um so eine Beförderung zu erhalten.

Um die „vierte Macht“ ebenfalls unter Kontrolle zu bringen, bemüht sich der Präsident um die Verabschiedung eines Pressegesetzes, das eine sechsjährige Freiheitsstrafe für Journalisten vorsieht, die Untersuchungen über die Korruption veröffentlichen; außerdem sieht es Sanktionen vor im Falle der Verunglimpfung „der Ehre einer kollektiven Person“ (der Regierung) und stellt dieses Vergehen auf eine Stufe mit Entführung, Vergewaltigung von Minderjährigen und Totschlag.

Dies hat zu Protesten, auch auf internationaler Ebene, geführt; die New York Times hat Menem in einem Leitartikel empfohlen, „sein Demokratiebewußtsein unter Beweis zu stellen und dieses gefährliche und aggressive Vorhaben zurückzunehmen“12.

Menems Hauptwunsch ist es, am 14. Mai wiedergewählt zu werden. Die Verfassung sah eine solche Wiederwahl nicht vor, doch Präsident Menem ist es inzwischen gelungen, eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit zu finden und in diesem Punkt eine Verfassungsänderung zu bewirken.

Zur Erlangung dieser Zweidrittelmehrheit schloß er einen Pakt mit Raúl Alfonsin, dem Chef der Radikalen Bürgerunion, die bislang die zweite politische Kraft im Lande war. Dies dürfte sich nun geändert haben, denn seit diesem Pakt scheint die Partei ihre politische Kraft eingebüßt zu haben.

Inzwischen ist eine neue Kraft angetreten, die Front für ein solidarisches Land (Frepaso), deren Führer, die beiden peronistischen Menem-Abtrünnigen José Octavio Bordón und Carlos „Chacho“ Alvarez, nun Sozialisten, Christdemokraten, Ex-Kommunisten, Ex-Guerilleros, Menschenrechtsverfechter etc. um sich scharen. Im April 1994 hat diese Partei zur allgemeinen Überraschung bei den Parlaments- und Provinzwahlen die Radikale Bürgerunion vom zweiten Platz verdrängt.

Der Kandidat der Frepaso, José Octavio Bordón, der auf parteiinternen Vorwahlen zum Kandidaten bestimmt wurde, gehört dem progressiven Flügel der katholischen Kirche an. Er ist als Gouverneur der Provinz Mendoza positiv hervorgetreten und wird vom Mittelstand unterstützt.

Anfang April hielt Menem nach Meinungsumfragen mit 32,4 Prozent der Wählerstimmen die Spitze der Wählergunst, die zweite Stelle belegte Bordón mit 20,3 Prozent und der Kandidat der Radikalen Bürgerunion die dritte Stelle mit 12,9 Prozent. 26,9 Prozent der Stimmberechtigten waren noch unentschlossen.13 Die neue Verfassung sieht keinen zweiten Durchgang vor, wenn einer der Kandidaten über 45 Prozent der Stimmen erhält bzw. auf einen Stimmenanteil von 40 bis 45 Prozent kommt und den Zweitplazierten um mehr als 10 Prozent übertrifft. Nach den letzten Umfragen ist jedoch mit einem zweiten Durchgang zu rechnen. Hierbei stünden die Chancen der Frepaso für einen Sieg nicht schlecht, denn eine Mehrheit der Stimmen der Radikalen Bürgerunion wäre ihnen sicher.

Viele Mitglieder der neuen Partei fragen sich jedoch, ob ein Sieg unter den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen Argentiniens überhaupt erstrebenswert ist. „Wenn Bordón gewinnt, riskiert er, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Zedillo in Mexiko“, mutmaßt der Ökonom Nestor Laverne. „Die finanzielle und soziale Bombe, die Menem hinterläßt, wird in seinen Händen explodieren, bevor er dazu kommt, sie zu entschärfen. Wäre es nicht besser, sie erwischt den, der sie gebaut hat?“

1 Horacio Verbitsky: „El Vuelo“, Planeta-Argentina, Buenos Aires, 1995

2 Clarin, Buenos Aires, 25. Februar 1995

3 Ebd., 8. März 1995

4 Vgl. François Chesnais: „Défense et illustration de la dictature des marchés“, Le Monde diplomatique, März 1995; Ignacy Sachs: „Quelques leçons de la débÛcle mexicaine“, Le Monde diplomatique, April 1995

5 El Pais, Madrid, 8. März 1995

6 Pagina 12, Buenos Aires, 8. März 1995

7 „Informe económico sobre América latina“, Cepal, Santiago de Chile, 1993

8 „Anuario estadistico de la Republica argentina“, Bd. 10, Buenos Aires, 1994

9 Revista del Trabajo, Buenos Aires, Juni, Oktober und Dezember 1994

10 Juan Carlos Hidalgo u.a.: „La universidad actual“, Ediciones de la Cortada, Universidad nacional del Litoral, Santa Fé, 1992

11 Pagina 12, 18. Dezember 1994

12 The New York Times, 22. Februar 1995

13 Clarin, Buenos Aires, 2. April 1995

* Ehemaliger Herausgeber der Wochenzeitschrift El Periodista (Buenos Aires) und der Monatsschrift Cuatro Semanas (Barcelona)

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Carlos Gabetta