12.05.1995

Krieg in Tschetschenien Von Karel Bartak *

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Krieg in Tschetschenien Von Karel Bartak *

Boris Jelzin beteuert, Tschetschenien werde bald „befriedet“ sein. Und die Großmächte verschließen weiterhin die Augen und setzen auf den Präsidenten als Garanten einer gewissen Stabilität im gewaltigen Rußland. Unterdessen geht in der kleinen Kaukasusrepublik die Unterdrückung weiter. Der russische Generalstab würde diesen Krieg gern ohne Augenzeugen führen, ohne die Präsenz von Fernsehkameras und Journalisten. In dieser schwer geprüften Region, wo auf der anderen Seite der Grenze drei weitere, schlecht löste Konflikte gären (in Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach), kann die Unversöhnlichkeit des Kremls leicht und auf lange Zeit politische Instabilität, Spannungen und Gewalttätigkeiten hervorrufen.

MIT ohrenbetäubendem Lärm rollen die Panzer in jene schwarzen Krater hinein, die sich überall auf den Straßen finden, wo einmal Grosny, die tschetschenische Hauptstadt, stand. Sie wirbeln Wolken von Staub auf; die Ruinen der Stadt sind in gelblichen Dunst getaucht, und dieser Filter verleiht ihnen ein unwirkliches Aussehen. Nahezu überall irren Menschen durch die Straßen, mit Karren oder Kinderwagen, darauf gerettetes oder gestohlenes Gut. Gleichgültig oder verzweifelt, mit geröteten Augen, sind sie unterwegs, ohne genau zu wissen, wohin. Ein Ort, der mehr Sicherheit bietet, eine Bleibe am anderen Ende der Stadt. Aus dem dritten Stock, wo ein Wohnzimmer klafft und der Wind die Seiten einiger Bücher bewegt, wirft ein alter Mann ein paar schmutzige Kleidungsstücke, ein wenig Hausrat; sorgfältig bindet seine Frau alles auf ein Wägelchen.

„Nur die Faschisten hätten es dem gleichtun können.“ Kerim Salmachanow, Vizepremierminister der von Moskau eingesetzten Regierung der „nationalen Errettung“, meint es ernst mit seinem unvorsichtigen Kommentar. Hart geht er mit den Offizieren der russischen Armee ins Gericht, die nur widerstrebend Fahrzeuge zur Verfügung stellen oder sich weigern, ihre nach Treibstoff stinkenden Tankwagen zum Transport von Trinkwasser abzustellen. „Sie führen sich als Sieger auf. Aber wir sind kein fremdes Land, das man erobern mußte.“ Die tschetschenischen „Kollaborateure“, Menschen verschiedenster Herkunft und unterschiedlichsten Schicksals, haben in ihrer überwiegenden Mehrzahl zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt Dschochar Dudajew unterstützt, ehe sie ihm die Gefolgschaft aufkündigten.1 Seit Mitte März versuchen sie, der ins Herz getroffenen Hauptstadt neues Leben zu verleihen. Die Soldaten pflügen den Boden um und suchen nach Minen und Leichen.

Moskau verspricht Material und Geld, doch der Wiederaufbau wird langwierig sein. Es ist nicht einfach, eine Stadt mit 400.000 Einwohnern wiederaufzubauen; unmöglich, Grosny je wieder jene Eleganz und architektonische Harmonie zurückzugeben, der es seinen Ruf als „Perle des Nordkaukasus“ verdankt. Schwierig auch wird es sein, die Menschen nach dem Gemetzel, der sinnlosen Zerstörung, den Schrecken der ethnischen Zusammenstöße miteinander zu versöhnen. Mit Einbruch der Nacht nimmt die Zahl der Schüsse zu: Der Guerillakrieg ist bereits im Gange.

Vor dem Gebäude eines Chemischen Instituts, das wie durch ein Wunder stehen geblieben und jetzt Sitz der provisorischen Regierung ist, diskutiert die Menge. Die Menschen tauschen Nachrichten über Familienangehörige, Freunde, verschollene Nachbarn aus. Man erzählt seine Geschichte, teilt einander seine Eindrücke mit, ein Mosaik überraschender, verblüffender Ereignisse. „Am 31. Dezember haben wir zu Mitternacht eine Flasche Sekt geöffnet, um auf das Neue Jahr anzustoßen. Genau im selben Moment fielen in nächster Nähe die ersten Bomben. Wir haben darüber gewitzelt, auf welch ungewöhnliche Weise Jelzin uns seine Neujahrsgeschenke zukommen läßt.“ Tanja, eine blonde, etwa vierzigjährige Russin, kann noch immer nicht begreifen, was geschehen ist. „Als die Mudschaheddin (die Soldaten des General Dudajew) auftauchten, hatten wir furchtbare Angst, aber sie haben uns nichts getan. Im Gegenteil, sie brachten uns etwas zu trinken in den Keller und schützten unser Haus.“

Die Bomben und Granaten schlugen in so regelmäßigen Abständen ein, daß man Wasser holen oder auf einen Sprung in die Wohnung gehen konnte, um eine Dose Konserven oder eine Decke zu holen. Das Artillerie- und Raketenfeuer aber, das nach dem Zusammenbruch der ersten Panzerdivision zehn Tage in den Straßen tobte, sperrte die Menschen in ihre Keller ein. „Ich habe gebetet, daß unsere Jungs kommen“, erzählt Tanja, die Russin, weiter, „damit unser Leid ein Ende hätte. Aber der Schrecken fing erst an, als sie kamen.“ Massenerschießungen von als verdächtig erachteten Tschetschenen; Diebstahl von Geld, persönlichen Gegenständen, Schmuck; willkürliche Verhaftungen; und vor allen Dingen das systematische Plündern von Büros, Werkstätten und Wohnungen. Wessen Wohnung nicht niedergebrannt oder von Granaten zerstört worden war, der mußte jetzt erleben, wie seine Eingangstür von Kugeln durchsiebt, Mobiliar zertrümmert, Kleidung mutwillig zerfetzt und in den Schmutz getreten wurde. Stück für Stück zählt man die verlorengegangenen Gegenstände auf. „Sie waren alle betrunken“, erzählt Marina schluchzend, auch sie ist Russin. „Sie grölten, als sie meinen Farbfernseher wegtrugen, dann haben sie mir befohlen, still zu sein, als ich sie anflehte, Raschid nichts zu tun, dem alten tschetschenischen Nachbarn, der uns während der ganzen Belagerung geholfen hat. Sie haben ihn in den Keller geschleppt und umgebracht. Sie haben behauptet, er hätte ein Gewehr bei sich versteckt.“

Einig ist man sich in Grosny, daß die Übergriffe im großen und ganzen nicht von jungen Wehrpflichtigen verübt wurden, die ihre toten Kameraden rächen wollten, sondern von den paramilitärischen Einheiten des Innenministeriums, den Omon- und Speznat-Leuten, die nach den Gefechten kamen, um die Stadt zu „säubern“. Einige von ihnen patroullieren noch zwischen den Trümmern, bedrohliche Gestalten mit schwarzen Tüchern um den Kopf, eine östliche Rambo-Version vor einem Hinter grund der Verwüstung. Noch Ende März konnte man im benachbarten Nordossetien Lastwagen voller Möbel, Fernsehgeräte und sonstigem Beutegut aus Grosny sehen.

Ein Viertel der 400.000 Einwohner, die vor Beginn des Krieges hier lebten, ist geblieben, in der Mehrzahl Russen: Frauen, Kinder, Greise. Von den anderen – Russen, Tschetschenen, Armenier – kehren die ersten zurück, um nachzusehen, was von ihren Häusern übrig ist, und einen Weg des Überlebens zu finden. „Es ist leichter, hier zu leben, sogar ohne Wasser und Strom, als Tausende von Kilometern weit weg in einem Lager auf was weiß ich zu warten“, erklärt Ramsan, Mechaniker von Beruf, dem das übliche Geschick eines tschetschenischen Flüchtlings widerfahren ist: eine Gratiszugfahrkarte zu einem fernen Ort in Rußland, 4 Dollar Taschengeld, drei Monate Anspruch auf ein Feldbett. Denn inzwischen erteilen die Behörden keine Bleibegenehmigung mehr an Tschetschenen; somit finden sie keine Unterkunft und keine Arbeit, es sei denn, sie verfügen über genügend Geld, um sich bei einem der korrupten russischen Beamten den wertvollen Stempel zu erkaufen. In Mineralnyje Wody, der nächstgelegenen russischen Großstadt, hat dieser Stempel mittlerweile einen Schwarzmarktpreis von 6 Millionen Rubel, rund 1.700 Mark.

In Hut und Papacha (eine Art Schapka aus Schafspelz, die überall im Nordkaukasus getragen wird) tagen die Mitglieder der Regierung der „nationalen Errettung“ in einem eisigen, fensterlosen Raum; sie geben sich konstruktiv. Keine politischen Reden, keine Kommentare zu Vergangenheit oder Gegenwart. Auf der Tagesordnung stehen: Wiederherstellung der Gas- und Wasserversorgung, Suche nach Leichen und ihre Bestattung, Tötung der streunenden Hunde, Rattenbekämpfung, Abfuhr der Tonnen von Müll, die sich überall zwischen den Ruinen angesammelt haben, Impfen der Bevölkerung, da Epidemien drohen. „Wir riskieren, noch einmal so viele Menschenleben zu verlieren wie während der Kämpfe“, warnt Gesundheitsminister Sachar Sadajew; er hat nur mehr eine der zehn Kliniken zur Verfügung, die es vor dem Kriege gab.

„Wir haben weder Geld, um diejenigen zu bezahlen, die ihre Arbeit freiwillig wiederaufgenommen haben, noch Fahrzeuge für sie. Man macht uns viele Versprechungen, aber wir wissen, daß wir nur auf unsere eigene Kraft bauen können“, erklärt Premierminister Salambek Chadschijew, ein echter Tschetschene und unter Michail Gorbatschow Minister für die petrochemische Industrie der UdSSR. Wie die Mehrzahl der tschetschenischen Politiker war auch er ein Getreuer Dudajews, bevor er ins Lager der Opposition wechselte. Sein illusionsloser Pragmatismus entspricht dem, was gefragt ist, denn auch wenn Moskau eine gefügige Lokalregierung braucht, bleibt die Armeeführung vor Ort doch äußerst mißtrauisch.

„Das Kabinett besteht nur aus Tschetschenen, wir bleiben wachsam. Diese Nation ist eine, die sich nicht umerziehen läßt“, gibt Igor zu bedenken, ein junger russischer Offizier, dem ich auf seinem Posten vor Argun begegne; die Stadt, rund zwanzig Kilometer von Grosny gelegen, wurde Ende März zerstört. Schon hat die russische Spionageabwehr offiziell dementiert, Anhänger von General Dudajew infiltrierten die neuen Regierungsorgane. „Trotz des Mangels an Arbeitskräften raten wir den jungen tschetschenischen Flüchtlingen nicht, nach Hause zurückzukehren“, gibt Chadschijew zu. „Die Gemüter bleiben erhitzt, auf beiden Seiten.“ Unter solchen Umständen läßt sich nur schwer glauben, daß die Absicht des Premierministers, die fähigsten Mitarbeiter des aufständischen Generals in seinen Stab aufzunehmen, realisiert werden könnte. Die Stunde der versöhnenden Gesten ist noch nicht gekommen, und die Bemühungen der provisorischen Regierung, repräsentativer zu werden, könnten im Sande verlaufen. Jedenfalls betont Chadschijew den Interimscharakter seiner Mission. „Sobald es Wahlen zu einem neuen tschetschenischen Parlament gibt, tritt meine Regierung zurück. Bis dahin betrachte ich sie als mindestens so repräsentativ wie die von Dudajew.“

Dennoch, der einzige mögliche Gesprächspartner des Kremls bleibt der diktatorische Präsident, denn er ist es und kein anderer, der die Tausende von Kämpfern kontrolliert, die in der ganzen Region den Glorienschein tragen, mehrere Monate lang eine der mächtigsten Armeen der Welt in Schach gehalten zu haben. Auch wenn ihre wichtigsten Stützpunkte im südlichen Tschetschenien, die Städte Argun, Gudermes und Schali, eingenommen sind – der Wille, den Kampf fortzusetzen, ist unter seinen Kämpfern ungeschmälert, es sei denn, die Gegenseite bewiese einen wirklichen Willen zu einem Frieden, der all denen, die gekämpft haben, ein ehrenhaftes Niederlegen der Waffen ermöglichen würde.

Wenige Tage vor der Eroberung durch die russische Armee war die Moral der Truppe in Schali und Umgebung sehr gut. Obwohl wieder Geschütz mit großer Reichweite verwendet wird – seit der demütigenden Niederlage im Kampf um Grosny besteht die Taktik der russischen Armee darin, vor der Einnahme alles zu zerstören und so allzu große Verluste zu vermeiden –, erklären die Soldaten Dudajews, sie seien bereit, in die Berge zu gehen, wo bereits ihre Frauen und Kinder leben. „Nie werden wir die russische Okkupation unseres Landes hinnehmen“, verkündet Aslanbek Abdulchadschijew, einer der Befehlshaber in der Region, und erklärt, daß seine Männer in den Hochtälern des Kaukasus – auf tschetschenischer, aber auch auf dagestanischer Seite – über ausreichend Waffen-, Munitions- und Lebensmittellager verfügten, um einen langen Guerillakampf zu führen. Die russischen Siege, die sich der zahlenmäßigen Überlegenheit und der wachsenden Erfahrung der entsendeten Truppen verdanken, haben weder den Widerstandswillen der tschetschenischen Kämpfer gebrochen, die nunmehr geschlossen hinter General Dudajew stehen, noch sind Teile der lokalen Bevölkerung wankelmütig geworden.

Beigetragen zu diesem Gefühl hat in hohem Maße die russische Armee: Die Partisanen des General Dudajew wissen, welches Los ihren gefangengenommenen Kameraden zuteil wird. Die Armee- Einheiten haben Befehl, nach der Einnahme jedes Dorfes die Namen der männlichen Bewohner mit den Listen der gesuchten „Terroristen“ zu vergleichen; sie suchen bei Verdächtigen nach Spuren von Munitionspulver an den Händen, nach dem Abdruck eines MP- Gurts auf der Schulter – Indizien, die Verhaftung und Folter bedeuten. Sergej Kowaljow, früherer sowjetischer Dissident und, bis zu seiner Absetzung am 10. März dieses Jahres, Menschenrechtsbeauftragter der russischen Regierung, erklärt, daß alle Männer, die von russischen Truppen gefangengenommen werden, „geschlagen, gefoltert, beraubt“ werden. In Atschchoj-Martan, einem kleinen, in einer Frontlücke gelegenen Städtchen, das die Russen seit Mitte März eingeschlossen hatten, weigerten sich die Bewohner, ihre Häuser zu verlassen, obwohl die von Granaten aufgerissen wurden. „Alles, was wir besitzen, befindet sich hier. Wenn die Russen kommen, werden sie alles plündern und mitnehmen. Deshalb bleibe ich, selbst dann, wenn Dudajews Partisanen abziehen“, erklärt Sultan Chasojew, ein fünfzig Jahre alter Bauer.

Ende März rief General Dudajew erneut zu einer Waffenruhe und zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen auf, doch sein Appell blieb wie die vorausgegangenen ohne Antwort. Die Operation zur „Säuberung“ der kleinen Republik ging weiter, und der russische Verteidigungsminister General Pawel Gratschow wiederholte einmal mehr, es komme nicht in Frage, mit „Banditen“ zu verhandeln, bevor sie ihre Waffen niederlegten. „Am Tisch von Tschernomyrdin [russischer Premierminister] wurden meine Vorschläge zu einer friedlichen Lösung beerdigt.“ Sergej Kowaljow, dem ich in Nasran, der Hauptstadt des benachbarten Inguschien, begegne, ist empört. „Man kehrt wieder zur Sprache des Ultimatums zurück, ein klares Zeichen dafür, daß der Kreml nicht verhandeln will. Im Gegenteil, er sucht den leisesten Vorwand, um jede Chance für einen Dialog zu zerstören. Er ist überzeugt, man könne und werde dieses Problem durch Gewalt lösen.“

Für Kowaljow zeugt dies von politischer Kurzsichtigkeit, vom Fortdauern der sowjetischen Politik; ein solches Kalkül beweise, daß der Kreml nichts vom Kaukasus versteht und über kein Konzept für eine Nationalitätenpolitik verfügt. „Wir haben nichts hinzugelernt“, fährt er fort. „Gewalt kann nie zu einem dauerhaften Ergebnis führen. Überdies sterben Tag für Tag Menschen, tagtäglich wird die Genfer Konvention verletzt; und dies vor den gleichgültigen Augen aller bedeutenden internationalen Medien.“

Dennoch, zum ersten Mal haben die russischen Bürger einen Krieg direkt miterlebt.2 Das war nicht mehr ein schamhaft von der sowjetischen Zensur verschleiertes Afghanistan; die blutüberströmten Leichen der jungen Wehrpflichtigen und Zivilisten gelangten durch das Fernsehen in jede Wohnung. Die russischen Strategen hatten geglaubt, auf eine antitschetschenische Stimmung bauen zu können, statt dessen fanden sie und die gesamte Regierung von Boris Jelzin sich auf der Anklagebank wieder. Dank der durch dieses Abenteuer ausgelösten Empörung gelang es, in allen Medien – mit Ausnahme der unmittelbar vom Staat kontrollierten –, die Pressefreiheit zu verteidigen. So fanden alle Operationen unter Anwesenheit der Medien statt, was die Militärs zähneknirschend hinnehmen mußten, wenngleich sie häufig alles taten, um die Arbeit der Journalisten zu erschweren.

Die Medien deckten verborgene Seiten dieses Krieges auf. Wirtschaftlich geht es zum Beispiel um die Pipelines, die Rußland mit Aserbaidschan, demnächst auch Kasachstan verbinden und die durch tschetschenisches Gebiet führen; das Schweigen bestimmter westlicher Regierungen und Wirtschaftskreise angesichts der Militärintervention ist nicht ohne Bezug zur Bedeutung dieser Pipelines. Die Medien haben auch die erschütternden menschlichen Dimensionen dieses Konflikts sichtbar gemacht. In Mosdok, einem im Schlamm versinkenden Städtchen in Nordossetien, das sich nolens volens zum Sitz des russischen Generalstabs gewandelt hat, warten in einem ehemaligen Kino zweihundert Mütter Tag für Tag auf den Offizier, der ihnen Neuigkeiten von der Front mitteilt. Seit Monaten harren sie aus, stumm, von Liebe und Angst an den Ort gefesselt, entschlossen, nicht eher wieder fortzugehen, ehe sie ihre Söhne mitnehmen können – tot oder lebend oder verwundet. Die Armee wagt es nicht, sie zu ignorieren oder zu verjagen. Hauptsache, sie überschreiten nicht die tschetschenische Grenze, um sich selber auf die Suche nach ihren Kindern zu machen. Auf der Fassade des angrenzenden Gebäudes verkündet ein sehr sowjetisches Mosaik: „Friede der Jugend der Welt.“

Achtzig Kilometer weiter, in Nasran, versucht eine andere Gruppe von Müttern, die Frontlinie zu überqueren, um von General Dudajew selbst die Freilassung der von den Separatisten gefangengenommenen Soldaten zu verlangen. Die Buskolonne wird in der Nähe des Dorfes Assimoskaja an der inguschisch- tschetschenischen Grenze gestoppt. Die Frauen harren stundenlang in strömendem Regen aus, vor sich Betonblöcke, die überragt werden von MG-Nestern. Für den Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, General Anatoli Kulikow, kommt es nicht in Frage, sie durchzulassen, um so mehr, als General Dudajew den Frauen zugesichert hat, sie zu empfangen: eine Freilassung von russischen Gefangenen in einem solchen Rahmen wäre für Dudajew ein schöner Medienerfolg.

Die Unterstützung, die die inguschischen Behörden diesem „Friedensmarsch“ gewährt haben, hat die Beziehung zwischen Nasran und Moskau weiter vergiftet. Wie Dagestan droht auch Inguschien die Ausdehnung des Konflikts, insbesondere, falls er sich zum Partisanenkrieg entwickeln sollte.3 Vizepräsident Boris Agapow, der sich im Dezember und Januar intensiv für Verhandlungen zwischen Grosny und Moskau eingesetzt hat, wirkt entmutigt: „Alle Möglichkeiten, den Konflikt politisch zu lösen, standen offen. Das vergossene Blut steht in keinem Verhältnis zu den Zielen, um die es geht; der Preis ist zu hoch. Wir haben alles getan, um zu vermitteln, aber wir sind getäuscht worden, wir haben zu spät begriffen, daß Moskau derzeit nur auf Waffengewalt setzt.“

Der Andrang von tschetschenischen Flüchtlingen in Inguschien und Dagestan hat nicht nur die prekäre Ökonomie der beiden Republiken unterminiert, sondern auch in der Bevölkerung eine ablehnende Haltung geschürt. In Grosny haben sich die privaten PKWs rar gemacht; viele BMWs, Mercedesse und andere Wagen zweifelhafter Herkunft, die noch im Herbst das dortige Straßenbild dominierten, kurven nun durch Nasran oder Machatschkala. Zahlreiche tschetschenische Flüchtlinge, die anonym bleiben wollen, bestätigen, daß jene schwerreichen Bandenchefs, die kürzlich noch das Gesetz in Grosny machten, sich jetzt in den beiden Republiken aufhalten und derzeit damit befaßt sind, über Mittelsmänner Häuser und Land zu erwerben und örtliche Beamte zu bestechen. „Diese Aktivitäten haben in bestimmten Gebieten Dagestans bereits zu extremen Spannungen geführt“, räumt der dagestanische Minister für Nationalitäten, Machomet-Salich Gussajew, ein. Er geht ins Gericht mit jenen Tschetschenen, die es zu Wohlstand gebracht haben: sie weigerten sich, ihren Landsleuten zu helfen. „Der Krieg spielt sich vor unserer Tür ab, und in gewisser Weise hat er schon die Schwelle zu unserem Haus überschritten.“4

Flügelkämpfe in Moskau

DER Tschetschenienkrieg schreibt sich hinein in die Flügelkämpfe, die sich in den Kulissen des Kremls abspielen. Sein Beginn Mitte Dezember fällt zusammen mit Jelzins Einlieferung ins Krankenhaus, und alles weist darauf hin, daß die Verantwortlichen mit General Dudajew abrechnen wollten, ehe der Staatschef seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen würde. Der katastrophale Verlauf der militärischen Operationen hat diese Pläne durchkreuzt.

Der tschetschenische Konflikt hat veranschaulicht, daß es in der Mannschaft des Präsidenten zwei „Lager“ gibt. Das eine, vorwiegend aus jungen liberalen Technokraten bestehend, die mit Kreisen aus der Finanzwelt und der nichtmilitärischen Industrie in Verbindung stehen, will die Wirtschaftsreformen voranbringen. Das andere besteht aus der Führungsspitze der „starken Ministerien“ – namentlich: Verteidigung und Inneres – und erhält Unterstützung von der Lobby der in der Krise steckenden Rüstungsindustrie; hier wußte man den Präsidenten zu überzeugen, sich in das tschetschenische Abenteuer zu stürzen.

„Jelzin verfolgt zwei widerstreitende Ziele. Einerseits setzt er den Reformkurs fort, andererseits führt er Krieg. Diese beiden Stränge sind auf lange Sicht unvereinbar, obgleich sie für eine gewisse Zeit – sagen wir, bis zu den nächsten Wahlen – koexistieren können“, meint Otto Lacis, Politologe und Leitartikler der Iswestija. Darüber frustriert, daß er nicht mehr jene herausragende Rolle innehatte, die ihm seit den siebziger Jahren zugekommen war, brauchte der „militärisch-industrielle Komplex“ nach Lacis' Auffassung einen „kleinen Krieg“, um seine Position in Politik und Gesellschaft zurückzugewinnen.

So ist es wahrscheinlich, daß der Staatspräsident, geschwächt und krank, ein offenes Ohr hatte für die Argumentation, die Politiker wie Pawel Gratschow, Verteidigungsminister, und Oleg Lobow, Chef des Sicherheitsrats, vorbrachten sowie Oleg Soskowez, Vizepremierminister, und General Korschakow, Chef der Leibgarde des Präsidenten. Er war sicherlich überzeugt, daß die militärische Operation sich für ihn günstig auswirken werde. Wenn sie auch gegenwärtig verheerende Folgen für sein Image hat, so erlaubt sie doch, den Militärhaushalt zu erhöhen und der Rüstungsindustrie Aufträge zu verschaffen; bestimmten Quellen zufolge liefert sie überdies die Möglichkeit, von militärischem Gerät, das in den letzten Jahren auf dem Schwarzmarkt verscherbelt wurde, zu behaupten, es sei in diesem Krieg zerstört worden.

Der Krieg „war nötig, um all diejenigen ernstlich zu warnen, die über die Absichten des Kremls im Zweifel gewesen sein sollten“, sagt der letzte Präsident des tschetschenischen Parlaments, Jussup Soslambekow. „Die Armeeführung hat sich gegen eine begrenzte Militäroperation und für einen ausgedehnten Krieg gegen die Zivilbevölkerung entschieden, um so jede Verantwortung für Waffenverkäufe und für die Ausfuhr von militärischem Know-how aus sowjetischer Zeit zurückweisen zu können. Jetzt hat die Regierung auf jede peinliche Frage eine klare Antwort: Tschetschenien.“5

In diesem Zusammenhang können auch Zweifel über die Rolle Dudajews aufkommen, der es während seiner Zeit als Präsident immer wieder verstanden hat, die Spannungen mit Moskau anzuheizen, sobald er innenpolitisch bedroht war. Lacis zufolge gab es „in Moskau immer jemanden, der ihm half“; die Rolle, die Dudajew im Zweikampf zwischen Jelzin und Chasbulatow spielte, jenem früheren Vorsitzenden des Obersten Sowjet und einflußreichen Tschetschenen, liegt noch im dunkeln. Wenn auch die Anschuldigungen Moskaus gegen den General (“ein mafioser Diktator“) teilweise der Realität entsprechen, so steht doch fest, daß es gerade die russische Intervention ist, die ihn vor der Absetzung durch seine eigene Mannschaft bewahrt hat und ihn in den Augen seines Volkes wie des ganzen Kaukasus zum Verteidiger von Freiheit und Unabhängigkeit, zum Nationalhelden werden ließ.

Das Hauptziel der russischen Führung besteht derzeit darin, schnellstmöglich die verheerenden Folgen zu beseitigen, die dieser Krieg auf die öffentliche Meinung ausübt. Die Friedensbemühungen mehren sich und könnten in einigen Monaten zum Erfolg führen – zumindest auf dem Papier. Gewisse Kreise erwägen eine Teilung Tschetscheniens, die Schaffung einer Grenzlinie, die längs der Strecke Baku-Rostow das Land von Ost nach West durchzöge. Dies deutet darauf hin, daß Moskau die Gefahr eines Partisanenkriegs für gegeben hält. Ein solches Kalkül zeigt klar und eindeutig, daß eine Kursänderung im kolonialistischen Denken der russischen Führungsspitze nicht stattfinden wird und daß sie nicht imstande ist, aus dem grauenvollen Konflikt eine politische Lehre zu ziehen.

1Vgl. Karel Bartak, „Sanglants paris de M. Boris Eltsine en Tchétchénie“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.

2 Vgl. Kristian Feigelson, „Sur la nouvelle frontière des réseaux télévisés“, Le Monde diplomatique, Februar 1995.

3 Vgl. Nina Baschkatow, „Grozny, tombeau de la Fédération de Russie?“, Le Monde diplomatique, März 1995.

4 Serwerny Kawkas, Naltschik, 18. März 1995.

5 Serwerny Kawkas, 25. März 1995.

lebt als Journalist in Prag

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Karel Bartak