15.09.1995

Die Skandinavierinnen lassen nicht locker

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Die Skandinavierinnen lassen nicht locker

NACH dem Bericht über die Entwicklung der Menschheit, der 1995 von den Vereinten Nationen herausgegeben wurde, sind Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark die vier Länder der Erde, in denen die Gleichstellung von Männern und Frauen am weitesten verwirklicht ist. Am auffälligsten sind die skandinavischen Erfolge im Bereich der Politik, wo die Frauen durch eine selbstbewußte und effiziente Mobilisierung viele Funktionen in den Parlamenten und Regierungen übernehmen konnten. Auf beruflicher Ebene dagegen ist die Bilanz widersprüchlicher, und die Wirtschaftskrise droht – wie in vielen anderen Ländern auch – manches, das endgültig gesichert schien, wieder in Frage zu stellen.

Von unserer Sonderkorrespondentin INGRID CARLANDER

Sie sind erstaunlich. In Finnland stellen sie 38 Prozent der Parlamentarier, in Island 25 Prozent und sogar 40 Prozent der Abgeordneten in Schweden und Norwegen. Vigdis Finnbogadottir beendet gerade ihre vierte Amtsperiode als Präsidentin der Republik Island, und der Bürgermeister von Reykjavik ist eine Frau. Sieben wichtige Portefeuilles, darunter das Ministerium für Wirtschaft und Zusammenarbeit der nordischen Länder und das für Handel und Industrie, werden von Däninnen verwaltet. Sieben Frauen sind an der Regierung Finnlands beteiligt, zwei davon an der Spitze des Außen- und des Verteidigungsministeriums. In Norwegen ist Gro Harlem Brundtland Premierministerin, die Opposition tritt unter dem Banner zweier Frauen an, und eine Sozialdemokratin führt den Vorsitz im Parlament. Den Rekord halten die Schwedinnen: sie haben eine exakt paritätische Verteilung der Ministerien erreicht – elf von zweiundzwanzig Portefeuilles – darunter das Justiz- und das Außenministerium. Mehr noch: Eine Frau, Mona Sahlin, die frühere Generalsekretärin der sozialdemokratischen Partei und Ministerin für die Gleichstellung von Mann und Frau, ist stellvertretende Ministerpräsidentin.

Die erste Bürgerin der westlichen Welt, die einen Platz im Ministerrat einnahm, war 1924 eine Dänin. Die ersten Europäerinnen, die das Wahlrecht erhielten, waren die Finninnen, im Jahre 1906. Und schon 1907 wurden neunzehn weibliche Abgeordnete gewählt. Die Norwegerinnen wählten zum erstenmal 1913, die Isländerinnen und die Däninnen 1915, die Schwedinnen 1920 und die Französinnen ... 1945.

Diese eindrucksvolle Präsenz an den Orten der Macht ist keineswegs Ergebnis einer plötzlichen Eroberung, sondern die Frucht einer sehr langfristigen Strategie. Schon im 19. Jahrhundert zeigten sich die skandinavischen Frauenorganisationen und -verbände ganz besonders aktiv. Mitte der fünfziger Jahre begann die erste wirkliche Diskussion über die Rollenverteilung von Mann und Frau.

Die sexuelle Befreiung in den sechziger Jahren erregt Neugier (oder auch Neid) in ganz Europa. In den siebziger Jahren entwickelt sich, ausgehend vom Feminismus, der aus den USA herübergeschwappt war, eine große Protestbewegung. Die Skandinavierinnen sind zu diesem Zeitpunkt noch an Heim und Herd verbannt. Doch dank ihrer Fähigkeit, sich zu organisieren und zu kooperieren, kommen sie schnell in Fahrt.

Die Norwegerinnen zum Beispiel starten 1967 eine Kampagne, damit ihre Mitbürgerinnen in die Kommunalräte gewählt würden. 1971 bedienen sie sich ohne Scheu der Medien und landen einen aufsehenerregenden Coup: Sie streichen kurzerhand alle Namen von Männern aus den Wahllisten. Große Aufregung in Politikerkreisen und Geschrei in der Presse, die sie an den Pranger stellt und ihnen antidemokratisches Verhalten vorwirft, dann aber titelt: „K.O.-Sieg der Frauen bei den Wahlen!“ Ein glänzender Erfolg, denn diese Wahlen führen allgemein zu einer stärkeren Vertretung der Frauen auf kommunaler Ebene, und in drei Städten, darunter Oslo, sind sie daraufhin sogar in der Mehrheit. Das Verhältniswahlrecht hat sich zu ihren Gunsten ausgewirkt – wie in Schweden. Sie schalten einen Gang höher und treten in die politischen Parteien ein, stellen ihre Bedingungen und fordern ein Quotensystem: 40 Prozent der Abgeordneten sollen ihnen zugestanden werden. Auf diese Weise bringt die Sozialdemokratische Partei die gegenwärtige Premierministerin, Gro Harlem Brundtland an ihre Spitze. Kirsti Groendahl, die Parlamentspräsidentin und zweite Frau in der Monarchie, erinnert daran: „Ich war eine der Nutznießerinnen dieses Coups! Ich ging in die Politik, weil ich berufstätig war und keine Krippe für meine Kinder fand. Da beschloß ich, aktiv zu werden, um Kindergartenplätze zu schaffen.“

Ein ganzes Jahr lang haben die Isländerinnen auf ihren „Coup“ hingearbeitet: den Streik im Jahr 1976. Einen Tag lang war keine einzige Frau am Arbeitsplatz anzutreffen, weder im Büro noch in der Fabrik, noch in der Küche – „ein wunderschöner, fröhlicher Tag, ohne die geringste Bissigkeit, denn der Streik richtete sich nicht gegen die Männer, sondern gegen das System“, erinnert sich Vigdis Finnbogadottir. Danach konnte man einfach gar nicht anders, als eine Präsidentin zu wählen.

Eine wichtige Basis der Demokratie in den nordischen Ländern ist seit jeher die Erwachsenenbildung, die es breiten Bevölkerungsschichten im „neuen Griechenland“ des Nordens1 erlaubt, sich weiterzuentwickeln. Diese Institution wird in hohem Maß von Frauen genutzt. Dort haben sie unter anderem einen sehr ausgeprägten Sinn für Unabhängigkeit entwickelt, die sie nun lautstark fordern. Bezeichnend ist dafür der Fall einer Kleinstadt in der Nähe Stockholms Ende der sechziger Jahre.2 Entschlossen, etwas gegen die Vorherrschaft der Männer in der Politik zu unternehmen, beginnen einige Bürgerinnen, dem Problem auf den Grund zu gehen. Fleißig büffeln sie in ihren Abendkursen Staatsbürgerkunde, organisieren Informationstreffen zur Lage der Frauen und bemühen sich, bei jeder politischen Versammlung präsent zu sein; gleichzeitig sind sie in der Sozialdemokratischen Partei aktiv. Ihre Hartnäckigkeit führt zum Erfolg: Sie erringen die Hälfte der Posten in der Stadtverwaltung. Ein beispielhafter Sieg! Die fünf nordischen Länder haben inzwischen ein Gesetz zur Durchsetzung der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern beschlossen. Aber Gesetzestexte und Realität klafften trotz beharrlicher Anstrengungen in Schweden so offenkundig auseinander, daß 1994 eine kleine Gruppe von Frauen kurz vor den allgemeinen Wahlen sozusagen mit einem Putsch drohte. „Den ganzen Lohn und die Hälfte der Macht“, forderten sie. Die Gruppe gab sich den witzigen Namen „Stützstrümpfe“ (Stödstrumporna). Bekannte Persönlichkeiten wie Agneta Stark, Ökonomin und jetzige Beraterin der stellvertretenden Premierministerin, und Maria Pia Boethius, Verteidigerin von Opfern sexueller Aggression, stießen bald dazu. Mit ihrem Slogan erzeugten sie großen Wirbel und kündigten an, daß sie drauf und dran sind, eine Frauenpartei zu gründen. Welch ein Skandal: Die Parteien sind in Schweden heilige Kühe! Daraufhin stellten die politischen Gruppierungen in aller Eile Listen auf, in denen jeder zweite Name der einer Frau war. Premierminister Ingvar Carlsson sah sich gezwungen, zur Tat zu schreiten, versprach Parität bei der Verteilung der Ministerportefeuilles – und hielt Wort.

In Finnland hätte im Februar 1994 mit Elisabeth Rehn, der Verteidigungsministerin und Kandidatin der Partei der schwedischsprachigen Minderheit für das Präsidentenamt um ein Haar eine Frau die Staatsführung übernommen. „Es war ein sehr entscheidender Urnengang“, betont Anja Ritta Ketokoski, Beauftragte für Gleichstellungsfragen im Außenministerium. „Zum ersten Mal in unserer Geschichte wurde der Präsident in allgemeiner Wahl gewählt. Er ist der einzige in Europa, der so weitreichende Machtbefugnisse hat wie der französische Präsident.“ Die Wahlkampagne hat das Land leidenschaftlich erregt, aber gesiegt hat schließlich doch Martti Ahtisaari, der männliche Kandidat. Ein letztes Aufzucken von Frauenfeindlichkeit bei den Wählern?

In demselben Büro, wo die frühere Verteidigungsministerin, Frau Rehn, uns seinerzeit empfangen hatte3, empfängt uns auch jetzt wieder eine Frau. Ihre Nachfolgerin, Anneli Taina, ist ebenfalls eine erfahrene Profipolitikerin: „Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr war ich ununterbrochen politisch aktiv: acht Jahre im Parlament, dann Ministerin für Bau- und Wohnungswesen und schließlich Verteidigungsministerin. Die Leute wundern sich immer: Wie kommt es zu einer so starken Präsenz der Finninnen in Machtpositionen? Das ist sicher eine Hinterlassenschaft des Krieges.“ Eine weitere starke Persönlichkeit, die Außenministerin Tarja Halonen, war zehn Jahre lang Abgeordnete, bevor sie ihre neuen Funktionen übernahm. „In Helsinki haben Politikerinnen einen ausgezeichneten Ruf. Sie haben bewiesen, daß sie fähig sind, gründliche Arbeit zu leisten.“

Ein anderes Beispiel für einen neuen Politikstil ist die schwedische Vizepremierministerin, Mona Sahlin, die im nächsten März Nachfolgerin von Ingvar Carlsson, dem zurücktretenden Premierminister, werden könnte. Auf dem großen Platz in Falun, der Hauptstadt der Provinz Dalarna, steht sie im eisigen Nordostwind in abgetragener Lederjacke, Jeans, mexikanischen Stiefeln, die Hände in den Taschen, und hält eine improvisierte Rede vor ihren Mitbürgern. „Hallo, Mona!“ rufen die Passanten ihr zu.

„Als ich in die Regierung eintrat“, erklärt sie, „habe ich beschlossen, alle Minister zu einer Sitzung einzuberufen, um sie zu sensibilisieren. Thema: Der unterschiedliche Politikansatz von Männern und Frauen. Der Premierminister sagte seine Teilnahme zu, und alle anderen sind seinem Beispiel gefolgt.“ Unter ihrer Regierung soll die Hälfte aller Ernennungen auf ihre Mitbürgerinnen entfallen. Schon unter der vorherigen liberalen Regierung unter Carl Bildt hatte das Gleichstellungsgesetz eine Stärkung erfahren; einmal durch den „Papa- Monat“ (einer der zwölf Monate Elternurlaub mit achtzigprozentiger Lohnfortzahlung ist danach obligatorisch dem Vater vorbehalten, was einen Sturm der Entrüstung auslöste), aber auch durch andere Maßnahmen: Das Budget der Gleichstellungsbeauftragten wurde erhöht, und allen Provinzbehörden wurden Sachverständige für die Gleichstellung der Geschlechter zugeteilt, um den Frauenstandpunkt zu regionalen Bauvorhaben und Raumordnungsfragen in Erfahrung und zum Tragen zu bringen. Frau Sahlins ganz besonderes Anliegen ist das gute Funktionieren eines Instituts zur Ausbildung weiblicher Führungskräfte.

Die skandinavischen Länder weisen unglaubliche Paradoxien auf: Die Frauen der nordischen Länder halten aufgrund eines großzügigen Sozialsystems den europäischen Rekord in punkto Geburtenrate (Durchschnitt: 1,9). Das verhindert jedoch nicht, daß sie auch die höchste Berufstätigkeitsrate der westlichen Welt aufweisen (im Durchschnitt 80 Prozent). Wie kommt es zu diesem zweiten Rekord? Zweifellos spielt die lutherische Arbeitsethik eine Rolle, eine verpflichtende, stark verinnerlichte Tradition – in Verbindung mit dem entsprechenden psychologischen Druck der Gesellschaft.4 Ein entscheidender Grund ist auch die finanzielle Unabhängigkeit: das Gesetz gibt ihnen das Recht auf getrennte Steuerveranlagung.

Doch trotz allem, was sie erreicht haben, sind die skandinavischen Frauen sehr schwerwiegenden beruflichen Diskriminierungen ausgesetzt. Dem politischen Erfolg auf der einen steht das Scheitern auf der anderen Seite gegenüber. Der Fall Finnland ist typisch dafür: die Finninnen haben kaum 3 Prozent der Posten auf der Führungsebene der Wirtschaft inne. Ihr Durchschnittslohn beträgt bei gleicher Befähigung nur 75 Prozent des Lohns der Männer. Und in jedem Beruf gibt es immer noch eine erstaunliche Geschlechtertrennung. Dieses Phänomen trifft man auch in den anderen nordischen Ländern an. Im norwegischen Stavanger erzählt Wenche Meldahl, Direktorin der großen Textilfabrik Oegland Pioner: „Die größte Bank Norwegens lud kürzlich ihre fünfzig wichtigsten Kunden ein, und unter den geladenen Gästen war ich die einzige Frau. Das ist untragbar!“

Verschiedene Forscherinnen5 bestätigen, daß die massive Präsenz von Frauen in untergeordneten und schlecht bezahlten Beschäftigungen die Schattenseite des Wohlfahrtsstaats darstellt und inzwischen zu einer „Falle“ für die nordischen Frauen geworden ist. In den dreißiger Jahren sah sich die schwedische Nation mitten in einer Phase industriellen Wachstums mit einem spektakulären Sinken der Geburtenrate konfrontiert. Von einer Mischung aus politischem Opportunismus und wackerer sozialistischer Ideologie inspiriert, machten sich die „Sozialingenieure“ der Sozialdemokratischen Partei ans Werk: Das Land brauchte Kinder und die Wirtschaft Arbeitskräfte.6 Ihre Lösung: Die Männer sorgen für die Güterproduktion, und die Frauen, die für die Reproduktion zuständig sind, widmen sich erneut den Freuden der „sozialen Mutterschaft“ und nehmen die untergeordneten Arbeitsplätze im öffentlichen Dienstleistungssektor ein (in Kindergärten, Polikliniken und Altersheimen). Damit das gut funktioniert, erfordert die Wohlfahrtsgesellschaft einen doppelten Lohn für jeden Haushalt.7

Diese Aufgabenteilung, dieser ungleiche Vertrag hat den Untersuchungen zufolge eine Art Ghetto für die Frauen geschaffen, aus dem sie in den gegenwärtigen Krisenzeiten herauszufallen drohen, weil öffentliche Mittel fehlen und gerade in diesen Bereichen massive Entlassungen vorgenommen werden. Nach einer neueren Untersuchung, über die die Tageszeitung Metro berichtet, „werden die Regionalregierungen innerhalb von zehn Jahren (1990–2000) 50 Prozent des Personalbestands abgebaut haben“. Die Provinzbehörden9 stellen in Schweden 8 Prozent der Lohnabhängigen ein (in den anderen skandinavischen Ländern ist es etwas weniger). „Der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter ist trotz des beachtlichen Erfolgs im Bereich der Politik noch längst nicht gewonnen“, meint die Schiedsfrau für Gleichstellungsfragen, Lena Svanaeus, in ihren geräumigen Stockholmer Büroräumen.

Auf diese alles in allem pessimistische Feststellung stößt man auch in den Berichten, die die nordischen Staaten für die Weltfrauenkonferenz in Peking erstellt haben. Sie wird uns von allen unseren Gesprächspartnerinnen, ob Ministerin, Parlamentspräsidentin, Fabrikdirektorin, Professorin oder Gewerkschafterin, oder auch von den Arbeiterinnen in Nordnorwegen bestätigt. Kari Tapiola, Leiter der internationalen Beziehungen der SAK10, gibt zu, daß „die Gewerkschaften immer noch konservativer sind als die übrige Gesellschaft“.

Gleiche Töne sind in Oslo zu hören. „Wir haben es mit einer ganz wackligen Gesellschaft zu tun! Einerseits Erfolge, um die uns die ganze Welt beneidet, und gleichzeitig gibt es unglaubliche Mängel“, empört sich Kerstin Hallert, Journalistin beim Svenska Dagbladet. Tromsö liegt 320 Kilometer nördlich des Polarkreises. Dort oben haben die Norwegerinnen massenhaft, zu 70 Prozent, gegen die Europäische Union gestimmt, hochzufrieden, damit eine Bresche in die Männermacht der Eurokraten zu schlagen, denn da unten „wird die ganze Politik vor Ort von Männern bestimmt!“ ruft eine Stadträtin. „Warum sollte man in Brüssel auf die Frauen der Kleinen hören?“ seufzen achselzuckend die Fischersfrauen. Die grünäugige Randi, Tochter aus einer Rentierzüchterfamilie auf der Insel Senja, studiert Rechtswissenschaften an der nahe gelegenen Universität Tromsö. Ihr Ziel ist es, die Rechte ihres Volkes zu verteidigen und die der Frauen, denn im Fall einer Scheidung ist es der Mann, der die Herde behält...

In Schweden nimmt die Chefredakteurin des Göteborgs Posten kein Blatt vor den Mund: „Die Schwedinnen? Sie sind erschöpft! Die Gesellschaft fordert von ihnen, daß sie in allen Bereichen perfekt sind.“ In der entlegenen Provinz Dalarna beschwert sich eine Krankenschwester über den fürchterlichen Streß in ihrem Beruf. Sie klagt die Gesellschaft an: „Wir sind alle gezwungen, wie Akrobaten zwischen Beruf und Familie herumzuturnen, um den Eindruck eines idealen Heims zu vermitteln.“ In der Privatwirtschaft allerdings beginnen die skandinavischen Frauen, Strategien zu entwickeln, um den Zugang zu verantwortungsvollen Positionen zu erzwingen. Überall entstehen Netze. Es ist eine Vernetzung auf skandinavische Art, in der sich eine Vorliebe für Intimität widerspiegelt und ein schwedischer Sinn für Kooperation, wie Elmira af Geijerstam sagt, eine in der Sache sehr engagierte Frau. Die Leiterin der Public-Relations- Abteilung für Europa beim Giganten Nokia ist eine Schwedin; bei ihr trifft man die Crème der Unternehmerinnen, Journalistinnen und leitenden weiblichen Angestellten aus Stockholm. „Diese offiziellen oder inoffiziellen Vernetzungen“, erklärt Nina Eldh, „schaffen ein unerläßliches Klima schwesterlicher Solidarität.“ In Brüssel ist die Bildung eines Netzes von skandinavischen Funktionärinnen und weiblichen Angestellten zu beobachten, die fest entschlossen sind, sich nicht auf die sozialen Bereiche verweisen zu lassen.

Im verschneiten finnischen Lappland treffen sich die Mitglieder der Sofia Society bei Marianne Huttunen, einer leitenden Angestellten bei Finnfacts.11 Ski, Sauna, Lachs und Seminar – jedes Jahr ist eine Woche vorgesehen, um Gedanken und berufliche Erfahrungen untereinander auszutauschen. Das politische „Sauna- Wodka“12 war beim früheren Präsidenten Urho Kekkonen sehr beliebt. „Jetzt treffen sich die Finninnen in ihren eigenen Saunen. Das ist zu einem neuen kulturellen Phänomen geworden!“ stellt die Leiterin des Forschungszentrums für Wirtschaft und Politik, Tuulikki Petajaniemi, fest. „Es ist sehr nützlich, denn ich werde jeden Tag nach Namen von Expertinnen gefragt, und das hilft mir, Rekrutierungslisten zusammenzustellen.“ Inzwischen ist es endlich so weit, daß Unternehmen kompetente Frauen suchen. Es geht also darum, jungen weiblichen Angestellten zu helfen, sich durch die unsichtbare „gläserne Mauer“ hindurchzuarbeiten, die ihr Vorwärtskommen behindert. Beispielhaft dafür ist eine ziemlich junge schwedische Einrichtung, das Ruterdam (Karo-As), das von einem Dutzend Managerinnen großer Unternehmen ins Leben gerufen wurde. Kristina Nedholm-Ewerstrand, risk manager bei Stena in Göteborg (dort verantwortlich für die Schiffstransporte), beschreibt einen sehr strengen Ausbildungsgang; in regelmäßigen Abständen müssen die Schülerinnen ihre „Mentorin“, Anleiterin und Beraterin treffen. Die neue, ungestüme Chefredakteurin vom Stockholmer Expressen, Christina Jutterström, ist ganz aus dem Häuschen vor Freude: „Von den zwölf jungen Frauen, die ich als Mentorin angeleitet habe, sind fünf auf sehr gute Stellen befördert worden. Ich glaube, daß die Zeitungen Redaktionsleiterinnen brauchen – die Information kann dadurch nur besser werden!“ Eine Ansicht, die von Tuva Korsström, der Verantwortlichen für die Kulturseiten der schwedischsprachigen Tageszeitung in Helsinki, geteilt wird: „Es bleibt immer noch eine weitere Etappe zu überwinden.“

Statoil in Norwegen, Volvo in Schweden und Nokia in Finnland haben ein Programm zur Rekrutierung kompetenter weiblicher Kader gestartet. Nokia setzt auf junge Frauen: Sari Baldauf ist Geschäftsführerin von Nokia Cellular Systems und Pii Kotilainen Personaldirektorin der riesigen Unternehmensgruppe.

Auch die Unternehmerinnen selbst sind dabei, ihre Arbeitsmethoden zu ändern. Ob in ganz kleinen Unternehmen wie in Tampere, der alten Hauptstadt des finnischen Textilgewerbes – „wir schlagen uns hier mit nichts und wieder nichts durch, kein Mann könnte mit einem so lächerlichen Budget arbeiten“ –, oder bei Sol mit seinen 2700 Beschäftigten. Dort hat die Präsidentin und Gründerin, Liisa Joronen, sich ein neues System ausgedacht, wahrscheinlich auf ihren Radfahrten durch die Straßen Helsinkis: individuelle Verantwortlichkeit der Angestellten, alle müssen sich auch an den undankbaren Aufgaben beteiligen, es gibt keine Sekretärinnen und keine Putzfrauen.

Die Büros sind in einem riesigen offenen Raum untergebracht, an den Wänden hängen schöne naive Bilder, es gibt einen Innengarten mit Vogelkäfigen, und es ist alles wohnlich möbliert, mit Ecken, um sich zurückzuziehen und sich zu konzentrieren.

Die Skandinavierinnen sind auch auf anderen Gebieten innovativ. In der renommierten Kathedrale von Helsingör wurde kürzlich eine Bischöfin geweiht. Frau Rebel ist eine verheiratete Dänin und Mutter von zwei Kindern und in ihrem geistlichen Amt sehr kommunikativ. „Meine Gemeindemitglieder sind erleichtert; sie können mir ihre familiären Probleme anvertrauen. Wir bräuchten wirklich mehr Pastorinnen.“

Ingelin Killengreen, die Osloer Polizeichefin, trägt Pumps und Ohrringe: „Ich habe keinerlei Problem mit den zweitausend Polizisten, die mir unterstellt sind. Befehlen heißt für mich erst einmal, den Konsens zu suchen. Ich will keine militaristische Tradition fortsetzen.“ Letztes Jahr im August bei den Leichtathletikmeisterschaften in Göteborg oblag die Aufrechterhaltung der Ordnung Ann-Charlotte Norraas, der Polizeichefin für die Provinz Bohuslan. Sirkka Hamalainen, eine Frau von eindrucksvoller gelassener Stärke, hat als Direktorin der Bank von Finnland, in der sie nahezu ihre gesamte Karriere absolviert hat, während der jüngsten Finanzturbulenzen das Ruder fest in der Hand gehalten.

Die politische Mitbestimmung ist verstärkt worden, einige Frauen wurden auf sehr hohe Posten befördert, sie sind in verantwortliche Positionen aufgestiegen, die im übrigen Europa noch immer ausschließlich Männern vorbehalten sind. Aber hat das die Sache der Frauen in den nordischen Ländern auch auf breiter Ebene vorangebracht? Kari Nordheim- Larsen, die norwegische Ministerin für Entwicklung, faßt die vorwiegende Ansicht zusammen: „Ja unbedingt. In unseren Ländern ist es nicht mehr möglich, die Frauenfrage nicht ernst zu nehmen und die Quoten nicht zu berücksichtigen. Diese Entwicklung ist unumkehrbar.“

Weil die Skandinavierinnen all ihre Arbeit und ihre Zuversicht gänzlich in einen Wohlfahrtsstaat gesetzt haben, der nun abgebaut wird, werden sie – vor allem die älteren Frauen und die alleinerziehenden Mütter – nun jedoch die ersten Opfer der Krise sein. „Die Arbeitsplätze von Frauen sind keine richtigen Arbeitsplätze“, bemerkt ironisch Agneta Stark. „Wie soll man etwa den Wert der Altenpflege berechnen?“ Ingrid Segerstedt, eine sehr engagierte Kämpferin gegen Rassismus und schwedische Symbolfigur, empört sich: „Warum sollen die Schwächsten die Schulden des Staates bezahlen? Die Kluft zwischen Reichen und Armen und zwischen Männern und Frauen wird sich vertiefen. Es besteht die Gefahr, daß unsere Gesellschaft völlig aus dem Gleichgewicht gerät.“ Auf die Frage nach den strengen Sparmaßnahmen, die ihre Regierung ausbrütet, muß die schwedische Vizepremierministerin, Monika Sahlin, zugeben: „Diese Beschlüsse bedrohen die Frauen.“ Aber sie fügt hinzu: „Die Regierung hat Wirtschaftswissenschaftler beauftragt, die Auswirkungen jeder Maßnahme auf die Chancengleichheit zu prüfen.“

Unterdessen erheben Machos und Ewiggestrige ihre Stimmen. Die Kreuzritter der Moral machen mobil, so etwa die Gruppe Livets Ord im schwedischen Uppsala. Ein Film mit fundamentalistischer Tendenz wurde in Stockholm aus dem Kinoprogramm genommen, und extremistische Protestanten brachten Gesetzentwürfe zur Einschränkung des Schwangerschaftsabbruchs ein. Doch es gibt viele aufgeweckte junge Männer, die sich in einem der zahlreich angebotenen Seminare über „die Identität des Mannes“ zu ernsthaften Skandinaviern weiterbilden. Ein junger Däne sagt kategorisch: „Ich will keine Gesellschaft, in der die Frauen in der Küche stehen. Die Zukunft unserer Demokratie basiert auf der Gleichstellung der Geschlechter.“

dt. Sigrid Vagt

1 Nach der Utopie von Nicolas Grundtvig, einem dänischen Autor aus dem 18. Jahrhundert.

2 Bericht für das „Leitende Komitee für Gleichstellung von Mann und Frau“, Straßburg, 10. 12. 1993.

3 Ingrid Carlander, „La Finlande: un modèle nordique pour l'Europe sociale“, Le Monde diplomatique, Oktober 1994.

4 Jacques Arnault, „Le Modèle suédois revisité“, Paris (L'Harmattan) 1991.

5 Liisa Rantalaiho, Professorin an der Universität von Tampere, Finnland, Boréales, No. 46–49, Revue du centre de recherches internordiques, Suresnes. Und Yvonne Hirdman, „La Fin du modèle suédois“, Paris (Syros), 1994.

6 Die Soziologin Eva Nikell präzisiert, daß sich in den 50er Jahren mehrere Parlamentsdebatten mit der Notwendigkeit von Kinderkrippen als einem Mittel zur Stärkung der schwedischen Exportindustrie beschäftigten.

7 Vgl. die Zeitschrift Flora, hrg. vom Bereich für Frauenforschung der Universität Tampere, Finnland 1994.

8 Metro, 12. Juni 1995.

9 Der Provinziallandtag (Landsting) ist der Hauptarbeitgeber für das Gesundheitswesen und bestimmte Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung.

10 Dachverband der finnischen Gewerkschaften.

11 Institut zur Information über die finnische Wirtschaft und Industrie.

12 Einst der Lieblingsort der finnischen Führungskräfte für die Ausübung der Diplomatie.

13 Vgl. „Les femmes et la construction européenne“, Les Cahiers du GRIF, „Unité pour l'égalité des chances“, DG V, Commission des Communautés européennes, Brüssel, und Centre national des lettres, Paris.

14 Agneta Stark, „Halva makten, hela lönen!“, Stockholm (Albert Bonniers Förlag) 1995.

15 Clara, Nr. 2/1995, LO kvinnotidning (Veröffentlichung der schwedischen Arbeitergewerkschaft).

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Ingrid Carlander