Die verfänglichen Bilder der Armut
■ Die Armen sind Thema – ihre „Ausgrenzung“ wird mit viel Aufwand in Bilder gefaßt. Was soll das Spektakel? Soll es die Gesellschaft aufstören? Oder soll es denen, die aus dieser Ordnung noch nicht herausgefallen sind, den „Eingegrenzten“, Trost bieten, sie mit ihrem Schicksal versöhnen, das oft auch nicht gerade beneidenswert ist?
Von EDGAR ROSKIS *
MIT dem Rücken an ein Portal gelehnt sitzt eine Frau auf einer Art von Schemel, ihre Hände umfassen ein Körbchen, das auf ihren Knien ruht und auf dessen Boden ein paar Münzen liegen. Sie ist ganz unten gelandet, aber sie hält sich aufrecht. Ihre Haltung ist „würdig“, ihre Kleidung korrekt, ihre Augen, die durch die starken Gläser der Brille nur schwer zu erkennen sind, blicken dem Schicksal geradewegs ins Gesicht; sie fleht um nichts und zu niemandem. Neben ihr, etwas tiefer, hingekauert auf die Schwelle im Türwinkel, sitzt eine zweite Frau, oder vielleicht ein Mädchen – von ihrem Gesicht, das sie hinter einigen Seiten einer Zeitschrift verbirgt, ist nur ein Auge zu sehen. In einem Behältnis zu ihren Füßen, das wie eine Sardinenbüchse aussieht, hat sich ein wenig Geld angesammelt, vermutlich als Gegenwert für ein paar Votivbildchen.
Welcher Schicksalsschlag mag diese beiden Madrider Frauen so tief nach unten geworfen haben, daß sie fortan die „normalen“ Bürger, die unterwegs sind zu ihren gewohnten Beschäftigungen, gewissermaßen aus der Froschperspektive betrachten müssen? Das Foto verrät es nicht. Der Mann auf dem Bild jedenfalls hat den Kopf oben behalten; sein Gesicht ist außerhalb des Blickfeldes, zugleich unsichtbar und blind, unberührt von den Wechselfällen des Lebens. Ein Unbekannter in dunklem Anzug und gebügelter Krawatte, die Hände hinter dem starren Rücken gekreuzt; so eilig ist er unterwegs, daß seine Schuhe, sicher blank geputzt, schon nicht mehr aufs Bild kommen.
Dieses Foto (s. unten auf dieser Seite), das über die Fotoagentur Vu vertrieben wird, gehört zu einer Serie von Aufnahmen, die der deutsch-fanzösische Sender arte – während des Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich (März bis Mai 1995) – im Rahmen einer Fernsehsendung über Europa den einzelnen Kandidaten zur Stellungnahme vorlegte.1 Lediglich der rechtskonservative Philippe de Villiers sowie die Kandidatin der Trotzkisten, Arlette Laguiller, gingen auf das Bild ein. De Villiers deutete es als „eine Art Allegorie des heutigen Europa“, während Laguiller noch schlichter „ein Symbol für das Europa der Reichen einerseits und das der Armen andererseits“ erkannte. Keinem von beiden war aufgefallen, daß es sich um Bettlerinnen handelt, die hier in einer archetypischen Szene festgehalten sind, wie sie etwa in Darstellungen der „Rückkehr vom Kirchgang“ überliefert ist: gezeigt wird die Barmherzigkeit.
Der Fotograf setzt mit dieser Aufnahme eine jahrhundertealte ikonographische Tradition fort, deren Anfänge man – da wir hier ein Bild aus Spanien sehen – vielleicht im Realismus eines Jusepe de Ribera (1591-1652) oder eines Murillo (1618-1682) suchen könnte. Aber auch jene schwülstige Plastik mit dem Titel „Madame Boucicaut als Wohltäterin“ gehört dazu, die man noch vor zwanzig Jahren auf dem Pariser Plätzchen prangen sah, das den Namen des Gatten der Dame trug – Aristide Boucicaut, der um die Mitte des letzten Jahrhunderts über das Kaufhaus Le Bon Marché gebot. Arme, die so sind wie auf diesen Darstellungen, werden akzeptiert, schließlich ist uns ihr Bild seit dem Mittelalter vertraut. Von ihnen geht keine solche Beunruhigung aus wie von den neuen Formen der „falschen“ Bettelei junger Leute, die Passanten „anpöbeln“, „dreckig“ sind und „mit Hunden“ herumziehen. Nach dem Willen nicht weniger Bürgermeister Frankreichs, denen Sauberkeit und Ordnung ihrer Städte am Herzen lag, sollten diese Bettler während der gesamten Sommermonate den Blicken der Mitbürger verborgen bleiben – wenn denn schon die Stadtverwaltung die Ursachen des Bettelns nicht zu beseitigen vermochte. Seit ihren Anfängen hat die „humanistisch“ eingestellte Fotografie das Elend als dekorativen Hintergrund gewählt, wenn sie nicht gar ihr Geschäft darauf gründete. Bei Atget (1857-1927) zum Beispiel findet sich ein regelrechter Katalog der Pariser Kleingewerbetreibenden, die dem Untergang geweiht waren. Und die Lichtbildner in Amerika nahmen wieder andere Habenichtse in den Blick, jene, die von der industriellen Revolution ausgemustert oder auch, ganz im Gegenteil, ausgebeutet wurden. Jacob Riis etwa, ein Einwanderer aus Dänemark, der 1870 nach New York kam, wurde Bildberichterstatter, um den Bewohnern der Innenstadt die Abscheulichkeit der Elendsquartiere Manhattans bewußt zu machen.2 Lewis W. Hine prangerte die unsäglichen Lebensbedingungen von Kindern an und zeigte, welche Behandlung durch die Behörden die Einwanderer auf Ellis Island ertragen mußten. Dorothea Lange gehörte zu einer Handvoll Reporter, die im Auftrag der Farm Security Administration ihrer Arbeit als Fotografen nachgingen; unter der Leitung des Soziologen Roy Stryker brachten sie von ihren Exkursionen in den Jahren zwischen 1935 und 1942 an die 270000 Negative mit, die drastisch vor Augen führten, welche verheerenden Folgen die Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten hatte. Und die Porträtaufnahmen, die Diane Arbus von mehr oder weniger abstoßenden Randexistenzen anfertigte, brachten allgemein verbreitete Gewißheiten, den Gesinnungskonformismus einer ganzen Nation und das Vertrauen in die geltenden Werte ins Wanken. Eugene Smith schließlich, der für die Illustrierte Life und später für die Fotoagentur Magnum arbeitete, verhalf der engagierten, verantwortungsbewußten Fotografie dann zu ihrer eigenen Aura.3
Der „sozial engagierte“ Fotograf – ein leidenschaftlicher Reformanhänger, der von den allerbesten Absichten beseelt ist – fordert den modernen Menschen zur Besinnung auf. Er weckt in ihm das schlechte Gewissen und sorgt dafür, daß die skandalösen Folgen des „Fortschritts“ weithin sichtbar werden; er will ja nur helfen, er möchte die Grundlagen der Selbstgewißheit des Zuschauers erschüttern, der zwangsläufig ein bürgerlicher Zuschauer ist, ganz so wie der Kaufmann, dem die körperliche Nähe eines „aufdringlichen“ Bettlers Unbehagen bereitet, nur ein ehrenwerter Mensch sein kann. Auf diese Weise macht sich der Fotograf, wenn auch auf dem Gnadenwege der großherzigen Gefühle, den in der Gesellschaft dominierenden Gesichtspunkt zu eigen und übernimmt letzten Endes genau die Grundwerte, die seine Bilder angeblich torpedieren.
Denn um denjenigen anzurühren, dem die Fotos zugedacht sind, um den „Entscheidungsträger“ in ihm wachzurütteln, muß man dessen Glauben an die Zukunft der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung teilen. Allenfalls darf man ihn im Namen des „Fortschritts“ behutsam auf allfällige Ungereimtheiten aufmerksam machen, die dank einer am Ende allen gemeinsamen Syntax und Sprachgebung in jener Rumpelkammer landen, die heutzutage den Namen „Ausgrenzung“ trägt. Dort herrscht ein unüberschaubares Durcheinander von „Elendsgestalten“, die miteinander nichts gemein haben: Arme ohne Obdach und Einkommen, andere, die in Lohn und Brot sind, Arme im Geiste, Erwerbslose, die ab und an für ein Taschengeld arbeiten, Clochards alter Schule und „neue Arme“, Streuner, die Passanten anschnorren, Aussteiger und an den Rand Gedrängte, Familien mit zu vielen Mäulern und Mittellose ohne Familie. Im neuen Gewand der „Ausgrenzung“ nehmen sich all diese Hungerleider wieder ein bißchen fotogener aus, zugleich aber verschwinden sie im großen Durcheinander, werden ununterscheidbar für den teilnahmslosen Blick, für die Gleichgültigkeit des Denkens.
Den Skandal öffentlich zu machen, dafür zu sorgen, daß alle wissen, was „Ausgrenzung“ heißt4, diese im Grunde löbliche Absicht läuft am Ende nicht bloß darauf hinaus, daß eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Fälle – deren Betrachtung im einzelnen eine Menge Sprengstoff enthält5 –, pauschal gefaßt (und damit kaschiert) werden, sondern umgekehrt wird auch der Betrachter in seiner gesellschaftlichen Position bestätigt: Er erfährt sich als nicht ausgegrenztes „Mitglied der Gesellschaft“ und erhält die Gewißheit, einem sozialen Ganzen anzugehören, das, abgesehen von der ständigen Drohung mit wirtschaftlichen Sanktionen, alles in allem seine angenehmen Seiten hat.
Die Szene mit den beiden Bettlerinnen in Madrid will uns etwas bedeuten, sie soll uns anrühren – und diese Botschaft folgt ihren eigenen, zeitlosen Regeln. So wie das hungernde Mädchen von Ayod nichts wäre ohne den Geier, der es belauert6, so bezieht der „beklagenswerte“ Zustand der beiden abgelichteten Frauen Kontrast und Tiefe aus der Anonymität und Teilnahmslosigkeit des Vorbeigehenden. Ein betuchter Passant, der gesichtslos bleibt und ohne jede Spur von Menschlichkeit – damit wird natürlich ein jeder von uns zu Hauptperson und –gegenstand eines Bildes, das sich der „Ausgrenzung“ annimmt, aber letztlich den moralischen Nutzen für die nicht ausgegrenzten „Gutmenschen“ meint.
Was erfahren wir über jenen Passanten aus Madrid, der dank der sympathischen Begabung des Fotografen zur Schwarzweißmalerei so unsympathisch wirkt? Ohne Zweifel hat er das Glück, nicht betteln zu müssen, ihm steht es noch frei, seinen Weg zu gehen. Er wird seinen Arbeitsvertrag haben (was ja offenbar ein Privileg ist), aber wenn er am Montag wieder ins Büro oder in die Fabrik geht, spürt er vielleicht die Angst im Magen, und die Aussicht auf all die Demütigungen, die er ertragen muß, um den dringend benötigten Lohnstreifen zu erhalten, macht ihn krank. Vielleicht ist auch er „arm dran“: spät abends kommt er heim, legt ab, was ihm ohnehin nur als Sonntagsanzug diente, wie stets erwartet von einer liebenden Frau und liebevollen Kindern, kann endlich sein „Privatleben“ genießen, „privat“ allerdings auch in dem Sinne, daß seine Stimme zugleich um jede öffentliche Resonanz gebracht ist, daß er kein Wörtchen mitzureden hat, daß andere, die Herren, die auf allen Tribünen das große Wort führen, für ihn sprechen, und dies in Worten, die er im Stillen von sich weist. Darum verspürt er, ungeachtet seiner Zugehörigkeit zur Gesellschaft und seiner ökonomischen Einbindung, ein Gefühl des Abgetrenntseins vom sozialen Körper, ein Gefühl undefinierbarer Trauer. Und darum läßt sich das Bild auch umkehren: Weniger die Arbeitslosigkeit denn die Arbeit selbst erscheint als Last, und schlimmer als die „Ausgrenzung“ ist der Zwang, sich einzugliedern, dazuzugehören, jenes elfte Gebot, das noch kaum begriffene Grundproblem unseres modernen Lebens.
Natürlich soll damit keineswegs behauptet werden, daß das Schicksal jener drei Millionen Arbeitslosen – darunter annähernd ein Drittel Langzeitarbeitslose –, die es insgesamt in Frankreich gibt, der knappen Million von Empfängern der RMI-Wiedereingliederungsgelder, der halben Million Obdachloser und der noch größeren Zahl von Personen, die in Bruchbuden hausen, ganz zu schweigen von den vielen, die von keiner Statistik erfaßt werden, daß also ihrer aller Los irgend beneidenswert wäre. Aber die Subsumierung so vieler ganz unterschiedlicher Individuen unter den Gattungsbegriff der „Ausgrenzung“ könnte bedeuten, daß man eigentlich von ihnen nichts wissen will.
Müßte man zum Beispiel nicht zur Kenntnis nehmen, daß in der französischen Provinz (aber nicht nur dort) manch einer, der von den Wiedereingliederungsbeiträgen lebt, besser in seine ländliche Umgebung integriert ist als viele Erwerbstätige in ihre Stadtviertel?7 Man hält an der Vorstellung fest, daß in der Arbeit die einzige Rettung liegt, und steht dabei den Visionen von einer Gesellschaft (und – warum eigentlich nicht – ihrer Herausbildung) im Wege, in der die Arbeit, gegen jede Erwartung unserer Konformistengemeinde, nicht mehr das Alleinseligmachende wäre? (Vgl. den Artikel von Bernard Cassen auf Seite 7.)
Die „Ausgrenzung“ – ihre anstößige Darbietung im Wort, wenn es ausgesprochen, bzw. im Bild, wo es inszeniert wird – ist letztlich, genau im Maße der Verstörung, die damit bewirkt, und der Störung, die anzeigt wird, für jeden Davongekommenen eine tröstliche Sache. Kann sich doch der Adressat jener Bilderwelt der „Ausgegrenzten“ aus der dargestellten Szene davonstehlen und sich beruhigt einreihen in die Schar derer, die „drinnen“ sind, sich gewissermaßen a contrario als ehrenwertes Mitglied eines Ordens mit endlos abgestuften Vereinigungen und Institutionen fühlen. Ist das Bild einer Gesellschaft, der faszinierende Vielfalt zugeschrieben wird und die dann doch nichts Besseres weiß, als die Beschwörungsformeln von der „Ausgrenzung“ und dem ehernen Prinzip der Trennung in Arbeitslose und „Dazugehörige“ herunterzuleiern, am Ende nicht einfach lächerlich? Vielleicht fehlt es schlicht an Beobachtungsgabe und visionärem Mut?
„Arbeitet der Mensch aus Notwendigkeit?“ lautete in diesem Jahr (in Dijon und Besançon) das Abiturthema in Philosophie. Einige der Aufsätze dürften Wirtschaftswissenschaftlern, Politikern oder Unternehmern wenig Freude machen – ihnen ist ein Bild lieber, das unter humanitärem Gesichtspunkt zwar ein bißchen schockierend ist, sich aber als taktisch ganz nützlich erweist.
dt. Rolf Schubert
1 Außer Jacques Chirac. „Der Bürger hat das Wort“, eine Koproduktion von Point du Jour, La Sept und arte, Regie: Philippe Ronce.
2 Jacob A. Riis (1849-1914) war Journalist bei der Tribune und für das Polizeirevier der Mulberry Street zuständig. Er widmete sich ganz der Fotografie, um zweifelnde Leser von der Wahrhaftigkeit seiner Artikel zu überzeugen. Sein bekanntestes Werk trägt den Titel: How the Other Half Lives (“So lebt die andere Hälfte“).
3 Die Idee des concerned photographer, den man vielleicht als „anteilnehmender Fotograf“ übersetzen kann, ist der Vorstellung vom bloßen Zeugen, der kühl und teilnahmslos bleibt, genau entgegengesetzt. Den besten Ausdruck findet dieses Konzept im Werk von Eugene W. Smith, dessen Namen heute eine Stiftung trägt, die auch Stipendien vergibt.
4 René Lenoir, Generalfinanzinspektor und ehemaliger Direktor der École nationale d'administration (ENA), machte bereits im Jahr 1974, damals in seiner Eigenschaft als Staatssekretär für Soziales unter Präsident Giscard d'Estaing, auf das Problem der „Ausgegrenzten“ aufmerksam. Seither hat der Begriff „Ausgrenzung“ in Frankreich Karriere gemacht: Er ist die eingeführte Sprachregelung bei der Beschreibung „gesellschaftlicher Brüche“.
5 Wie etwa in „La Misère du monde“, einer Reihe von Untersuchungen, die unter Leitung von Pierre Bourdieu durchgeführt wurden; als Buch erschienen 1993 in Paris bei Le Seuil.
6 Vgl. Edgar Roskis, „Images et vautours“, Le Monde diplomatique, August 1994.
7 Das Vorhaben des französischen Ministers für Integration und die Bekämfung der Ausgrenzung, Eric Raoult, mit dem dieser noch vor dem jetzt zurückgetretenen Wirtschaftsminister Alain Madelin an die Öffentlichkeit trat, nämlich die Auszahlung der Wiedereingliederungs-Einkommen an die Erfüllung einer nicht näher bezeichneten Arbeitspflicht zu binden (die es nicht mehr oder noch nicht gibt), kann so gesehen nur Verwirrung stiften. Diejenigen, die berechtigt sind, solche Mindesteinkommen zu beziehen, würden in eine verzweifelte Situation doppelten Zwangs gebracht. In der Vorstellungswelt von Minister Raoult ist die Gewährung eines Einkommens, das durch keinerlei Arbeit abgegolten wird, die Hauptursache der „explosiven sozialen Lage“. Wer aber möchte auf der Bombe sitzen, die hochgeht, wenn die RMI-Einkommen abgeschafft werden?
Journalist. Hält an den Universitäten Paris-X (Nanterre) und Paris-XIII (Villetaneuse) Vorlesungen über Techniken des Fotojournalismus.