10.11.1995

Die Kriegsopfer von Nanking wollen nicht mehr schweigen

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Die Kriegsopfer von Nanking wollen nicht mehr schweigen

AUS tagespolitischer Opportunität werden Gedenktage von staatlicher Seite gerne so zurechtgebogen, wie es gerade paßt. Doch die geweckten Erinnerungen können bisweilen die sorgfältig gefügten Gebäude offiziellen Gedenkens unterminieren. So kommt es zum Beispiel, daß mehr als fünfzig Jahre nach den Verbrechen, die die kaiserliche japanische Armee in Nanking beging, engagierte Japaner und vor allem Chinesen das ungeschriebene Gesetz des Schweigens brechen – auch auf die Gefahr hin, damit ungewollt den Interessen anderer zu dienen, zum Beispiel den chinesischen Nationalisten.

Von ANTOINE HALFF *

In „Im Namen des Kaisers“, einem Dokumentarfilm der chinesisch-amerikanischen Filmemacherin Christine Choi über die „Vergewaltigung“ Nankings, marschieren die Soldaten der kaiserlichen japanischen Armee zum Klang chassidischer Melodien. Nanking, bemerkt dazu der Komponist der Filmmusik, Tan Dun, sei die „Shoah“ der Chinesen. Kein Wunder also, daß dort die Musik der Opfer von Auschwitz zu hören ist.

In diesem Jahr, in dem der fünfzigste Jahrestag der japanischen Kapitulation gefeiert wird, ist „Im Namen des Kaisers“ nur ein Beitrag unter anderen, die den wachsenden Willen in der chinesischen Diaspora unterstreichen, der Welt die Verbrechen der japanischen Armee in Erinnerung zu rufen. Ziel ist es, dafür zu sorgen, daß den Opfern des japanischen Imperialismus ein Platz zugestanden wird, wie er bisher den Märtyrern dieses Jahrhunderts, den Opfern des Nazismus, vorbehalten war.

Tan Dun hat auch die Musik zu „Nanjing 1937“ komponiert, ein Film des chinesischen Regisseurs und Berlinale-Preisträgers Wu Ziniu, der in Peking zum Jahrestag des Kriegsendes anlief.1 Diese ungewöhnliche Koproduktion, finanziert mit taiwanesischem Geld (durch die Long Xiang Film Co., mit finanzieller Unterstützung auch aus Hongkong) und besetzt mit Stars aus Taiwan und Japan2, versteht sich nach Aussage des Komponisten als „das chinesische Pendant zu ,Schindlers Liste‘“.

Auch in Hongkong wird der Opfer von Nanking gedacht, mit dem zweiten Teil von „Soleil noir“, der grausamen Trilogie des Filmemachers Mou Tun-fei, deren erster Teil der Militäreinheit 731 gewidmet ist (die in der Mandschurei Forschungen über den bakteriologischen Krieg durchführte). In Nanking selber haben die lokalen Institutionen ihren eigenen Dokumentarfilm produziert, eine Montage aus Archivbildern und Interviews mit Überlebenden...

Welch ein Kontrast zwischen diesem lautstarken Erwachen der Dämonen des chinesisch-japanischen Krieges und dem offiziellen Vergessen, das die Machthaber in Tokio wie in Peking so lange bewußt geübt hatten. In beiden Ländern ist dieser Krieg nicht nur national wieder in Erinnerung. Während sich die chinesischen Fürsprecher der Kriegsmärtyrer generell an die internationale Öffentlichkeit wenden, war die Entschuldigung Japans gegenüber den Opfern – vorgetragen vom Premierminister am 15. August 1995 – deutlich darauf ausgerichtet, besonders in denjenigen Ländern Gehör zu finden, die möglicherweise über die zukünftige Rolle Japans in den Vereinten Nationen und anderen Institutionen zu entscheiden haben werden.3

Doch in Japan wie in China stellt das Wiederaufleben des Interesses am Krieg in erster Linie einen Sieg der öffentlichen Meinung über die Politiker dar. Damit es endlich zu einer offiziellen Entschuldigung der Tokioter Regierung gegenüber Japans asiatischen Nachbarn kam, bedurfte es zunächst des Todes von Kaiser Hirohito und dann der Wahlniederlage der Liberaldemokratischen Partei. Der Monarch, in dessen Namen die japanische Armee ihre Verbrechen begangen hatte, mochte sich dazu nicht mehr entschließen. Und noch einige Wochen vor der öffentlichen Entschuldigung des Premierministers war es den Revisionisten der Liberaldemokratischen Partei gelungen zu verhindern, daß das Parlament öffentlich Abbitte leistete.

Dabei hatte schon 1993 laut einer Umfrage der Zeitung Asahi Shimbun eine Mehrheit in der japanischen Bevölkerung die – allerdings halbherzige und zweideutige – Entschuldigung gutgeheißen, die der Premierminister Morihiro Hosokawa damals anläßlich einer Chinareise vorbrachte; nach derselben Umfrage wünschte auch mehr als die Hälfte der Japaner, daß ihr Land größere Anstrengungen zur Wiedergutmachung der Kriegsverbrechen unternehmen müßte. Auch in diesem Jahr wurde die Entschuldigung von Premierminister Tomiichi Murayama in der Öffentlichkeit so gut aufgenommen, daß Politologen darin das demagogische Manöver eines an Popularität verlierenden Politikers witterten. Nach einer am 3. Mai 1995 veröffentlichten Umfrage des Asian Wall Street Journal waren 61 Prozent der Japaner im letzten Frühjahr der Ansicht, ihr Land habe seine Verantwortung für den Krieg nicht deutlich genug auf sich genommen. Die USA waren gegenüber ihrem japanischen Verbündeten weniger streng. Nur 53% der befragten Amerikaner teilten diesen Standpunkt.

Die Gesichter der Opfer

ABER auch mit der neuerlichen Entschuldigung bleibt die japanische Regierung – obschon sie deutlicher mit der lange geübten Haltung der politischen Elite in bezug auf die Vergangenheit ihres Landes gebrochen hat – hinter einem großen Teil der öffentlichen Meinung zurück. Nur wenn Japan auch Entschädigungsleistungen anbiete und nicht nur Entschuldigungen ausspreche, schrieb kürzlich der Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, werde es seinen Platz im Asien von morgen einnehmen können.4 „Die Mehrheit der Japaner, die ein gutes Gewissen haben, sind dafür“, schreibt er weiter, „nur eine Koalition aus konservativen Parteien, Bürokraten und Geschäftsleuten widersetzt sich.“

Gestern noch anonym und abstrakt, haben die Opfer heute ein Gesicht. Seit einigen Jahren demonstrieren in Tokio Überlebende – Chinesen, Koreaner, Filipinos, Indonesier, aber auch Menschen aus dem Westen, insbesondere aus Großbritannien –, und ihre anklagende Gegenwart sucht das Gewissen der Nation und die Fernsehbildschirme heim. Am 15. August dieses Jahres drückten nach einer zweitägigen Konferenz rund vierzig ehemalige Opfer – Koreanerinnen, Indonesierinnen und Filipinas, die zur Prostitution gezwungen worden waren, und chinesische Überlebende aus den japanischen Arbeitslagern – dem Premierminister und Frau Doi, der Präsidentin der Nationalversammlung, die Hand. Zwei Tage vorher hatte ein Leitartikel der einflußreichen Zeitung Asahi Shimbun empfohlen, Japan solle ihnen Wiedergutmachung leisten. Auf der Konferenz meinte John H. Kim, New Yorker Anwalt einer Gruppe von Koreanerinnen: „Es hat sich nun gezeigt, daß die Mehrheit der Japaner für eine gesetzliche Entschädigung der Opfer von Kriegsverbrechen eintritt.“

Paradoxerweise finden die Überlebenden in Japan leichter Gehör als in China. Zum einen zeigen die Machthaber in Peking und mehr noch diejenigen in den Provinzen, vor allem in den nördlichen, eine neue Toleranz gegenüber der immer größer werdenden Zahl derjenigen, die die Erinnerung an die Kriegsopfer lebendig zu halten versuchen oder von Japan Entschädigungen einfordern. In Nanking selbst wurde das kleine, an den Stadtrand verbannte Kriegsmuseum vergrößert, nachdem die Behörden es lange überhaupt für überflüssig gehalten hatten. Den siebenundfünfzigsten Jahrestag der „Vergewaltigung“ Nankings im Dezember 1994 begingen die lokalen Machthaber mit ungewöhnlichem Aufwand.

Wichtiger war aber noch, daß der stellvertretende Ministerpräsident und Außenminister Qien Qichen die Bemühungen von Privatpersonen, von Japan Entschädigungen zu bekommen, unterstützte. Obwohl er daran erinnerte, daß China als Nation auf Reparationen verzichtet habe, unterstrich Qien in seiner Antwort auf eine Frage von Liu Caipin, einer Abgeordneten aus Taiwan im Nationalrat des Volkes, daß China seine Staatsangehörigen nicht daran hindern könne, ihren persönlichen Anspruch auf Entschädigung geltend zu machen.

Doch ohne es zugeben zu können, scheint der Regierung eine Bewegung, deren Anwachsen und bloße Existenz eine implizite Herausforderung der zentralen Autorität der Partei sind, auch lästig zu sein. Im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz der UNO im September und des Forums der regierungsunabhängigen Organisationen, das parallel dazu stattfand, hatte Peking den chinesischen Delegierten verboten, das Problem der Zwangsprostitution anzusprechen.

Am 7. August 1995 löste die Polizei eine Pressekonferenz von politisch aktiven ChinesInnen auf, die Entschädigungsforderungen an Japan gestellt hatten5. Tong Zeng, ein junger Jurist, der in den letzten Jahren zum Hauptwortführer von Hunderttausenden chinesischer Opfer geworden ist, wurde von der Polizei verhaftet, jeder Kontakt zu den Medien wurde ihm untersagt; sein Paß wurde beschlagnahmt6, und während der UNO-Konfe

renz mußte er Peking verlassen, obwohl er offiziell delegiert war7. Wu Zinius Film „Nanjing 1937“ hatte die Regierung dagegen nicht verboten, doch verweigerte sie dem Star der „fünften Generation“ der chinesischen Filmemacher8 jede finanzielle Unterstützung.

Wovor hat Peking Angst? Erstens, stellt ein engagierter Chinese aus New York fest, vor dem internationalen Charakter der Bewegung zugunsten der Kriegsopfer und vor der Verbindung der in dieser Bewegung aktiven Inlandchinesen mit denen in der Diaspora. Im eigenen Land dem Widerstand ihrer eigenen Regierung ausgesetzt, kommen die chinesischen Fürsprecher der Kriegsmärtyrer im Ausland in den Genuß finanzieller und technischer Unterstützung. Ignatius Ding, Generalsekretär der Allianz zur Erhaltung der Wahrheit über den chinesisch-japanischen Krieg aus Cupertino im kalifornischen Silicon Valley, der Tong Zeng aufnahm, als Peking ihn in die USA reisen ließ, sagte uns kürzlich, er habe innerhalb weniger Wochen über eine halbe Million Dollar zugunsten „der Sache“ aufgetrieben. Zeng hat auch Anhänger an der Ostküste der Vereinigten Staaten und bis ins Internet: eine Historikergruppe hat dort einen „Platz“ installiert, der Nanking gewidmet ist.

Peking hat versucht, diese internationale Verständigung zu behindern. Christine Choi, die Autorin des Films „Im Namen des Kaisers“, konnte in Tokio Zeugenaussagen ehemaliger japanischer Kriegsverbrecher aufnehmen, nicht aber die der Opfer in Nanking. Ein New Yorker Mitglied der Allianz zur Erinnerung an die Opfer des Massakers von Nanking, der ihren Film finanziert hat, wurde mehrfach an der Grenze abgewiesen, obwohl er Inhaber eines chinesischen Passes war.

Peking tendiert auch dazu, in diesen „Agitatoren“ eine Gefahr für seine guten Beziehungen zu Japan zu sehen – und für die Ruhe und Ordnung im Landesinnern. Tatsächlich bestehen Verbindungen zwischen Aktivisten der Demokratiebewegung und diesen Einzelpersonen, die versuchen, Peking das Kriegserinnerungsmonopol zu entziehen. So ist Ignatius Ding ein Vertrauter des ehemaligen Dissidenten (und jetzigen Amerikaners) Harry Wu und hat 1989 ein Komitee zur Unterstützung der Studenten vom Tiananmen-Platz organisiert. Vor kurzem haben in Xiang auch drei Intellektuelle, Yang Hui, Wu Zhen und Lin Mu, eine Petition unterzeichnet, in der Peking kritisiert wird, weil es darauf verzichtet hat, von Japan Wiedergutmachungszahlungen zu fordern; erst im Mai diesen Jahres hatten sie einen Text zugunsten der Tiananmen-Aktivisten unterzeichnet.

Obwohl die Hüter der Kriegserinnerungen nicht auf der Parteilinie liegen, stößt ihre Sache gerade bei Vertretern der Armee auf offene Ohren. In einem China, in dem der Kommunismus nicht länger als ideologischer Kitt dient, könnte sie dazu beitragen, den aufkommenden Nationalismus zu schüren. Die zunehmende Militarisierung des Regimes erklärt, weshalb die Bewegung, die Entschädigungen fordert, zunehmend mehr Toleranz erfährt, stellt Ding fest. Nach seiner Ansicht hätten die Machthaber schon Erinnerungen an den Krieg benutzt, um Japan wirtschaftliche Zugeständnisse zu entlocken.

Die heutige Wirtschaftshilfe Japans an China, sagt Ding weiter, sei nicht zu verwechseln mit einer Wiedergutmachungsleistung für die Opfer. In der Atmosphäre der Ungewißheit, die durch die Krise um die Nachfolge von Deng Xiaoping entstanden ist, ist das Fortbestehen eines mit dem Krieg verbundenen chinesisch-japanischen Streitthemas ein Faktor, den scharfmacherische Fraktionen ausnutzen könnten. Wenn Japan den Kriegsopfern Entschädigungen gewähren würde, sagt Ding, wäre das mehr als die Wiedergutmachung eines lange währenden Unrechts. Es trüge auch dazu bei, eine potentielle Krise in Südostasien zu entschärfen.

dt. Sigrid Vagt

1 Die Dreharbeiten begannen am 13. Dezember 1994, dem Jahrestag des Beginns der „Vergewaltigung“ Nankings.

2 Chin Han in der männlichen Hauptrolle und die japanische Starschauspielerin Kuuiko Akiyoshi in der weiblichen Rolle. Der Film erzählt die – fiktiven – Leiden eines chinesischen Arztes und seiner japanischen Frau zu Beginn des Krieges. Alle beide kommen bei der Plünderung Nankings durch die japanischen Truppen ums Leben.

3 Unter anderen hatte der frühere deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker Tokio zu diesem Schritt ermutigt.

4 Kenzaburo Oe, „Denying History Disables Japan“, The New York Times Magazine, 2. Juli 1995.

5 Die Klägerinnen forderten 20 Millionen Yen pro Person.

6 Damit er nicht nach Japan reisen konnte, um dort Verfahren im Namen der chinesischen Opfer einzuleiten; vgl. Financial Times, 14. August 1995. Tong Zeng, der nach eigenen Aussagen Unterschriften von 800000 Opfern von Kriegsverbrechen gesammelt hat, konnte jedoch in die USA reisen, wo er zu Gast bei Gruppen von Mitstreitern war.

7 Associated Press, 7. August 1995. Im vergangenen März wurde Tong Zeng verboten, mit Abgeordneten zu sprechen (vgl. South China Morning Post, Hongkong, 3. März 1995). Das chinesische Parlament ignoriert die Petition, die alljährlich Zehntausende von Überlebenden des Krieges einreichen mit der Forderung, die Frage der Reparationen auf die Traktandenliste zu setzen. Die Behörden entmutigen die Überlebenden von Nanking, Zeugenaussagen zu machen. Vgl. Antoine Halff, „La mémoire retrouvée des crimes de Nanking“, Le Monde diplomatique, August 1991.

8 Mit Chen Kaige, Zhang Yimou und Tian Zhuangzhuang. Für seinen Film „Abendglocke“, der ebenfalls dem chinesisch-japanischen Krieg gewidmet ist, erhielt er 1990 an den Berliner Filmfestspielen einen Sonderpreis der Jury. Ein anderer Film von ihm, „Der Taubenbaum“, wurde verboten.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Antoine Halff