10.11.1995

Hinterhof Japans und Vorposten der USA

zurück

Hinterhof Japans und Vorposten der USA

■ Die mutmaßliche Vergewaltigung einer zwölfjährigen japanischen Schülerin durch drei auf Okinawa stationierte Soldaten der US-Armee hat große Demonstrationen gegen die Beibehaltung der Stützpunkte auf der Insel ausgelöst. Ungefähr 20 Prozent der Inselfläche sind mit US-militärischen Einrichtungen belegt. William Clintons Entschuldigung hat die – von Washington zurückgewiesene – Forderung nach Abzug der Truppen nicht hinfällig gemacht. Vor diesem Hintergund will der US-Präsident demnächst in Japan den fünfzsten Jahrestag des Verteidigungsvertrages zwischen beiden Ländern feiern.

Von NICOLE-LISE BERNHEIM *

AM Strand von Toguchi schlägt die Hitze zu. Ob es dieselbe ist wie im April 1945? Wind kommt auf, das Licht verblaßt; ein Gewitter kündigt sich an. Auf dieser Trauminsel herrschen an diesem Abend die Stechmücken, die Seelen der unbegrabenen, seit dem Kriege umherirrenden Toten und einige von den Düften der Wunderblume angezogene Schmetterlinge. Die Regenzeit beginnt vielleicht vorzeitig.

2000 Kilometer von Tokio entfernt erstrecken sich die 140 Inseln des Archipels von Okinawa zwischen dem Pazifik und dem Chinesischen Meer. Das ehemalige Königreich Riukiu am Kreuzungspunkt der Seewege des Fernen Ostens, das seit 1609 japanisch ist, bewahrte lange Zeit eine einzigartige Kultur. Naha, die Hauptstadt mit 300000 Einwohnern, barg bis 1945 die Schätze einer matriarchalisch und schamanisch geprägten Kultur. Von hier kommt auch die Kunst der Selbstverteidigung (Karate). Die Architektur, die Stein und Holz verbindet, ihre feinen Stoffe und steinernen Drachen unterscheiden sich grundlegend vom Rest Japans. Während der heftigen Kämpfe im Pazifikkrieg waren die Traditionen dieses Volkes, das von den Männern der Meji-Epoche verachtet wurde, zerstört worden. Nun kehren sie allmählich zurück.

Die Koralleninseln mit Dörfern in kleinen Buchten und Ferienanlagen für die japanische Mittelklasse sind ein subtropisches Paradies. Naha ist Hauptstadt und Sitz der Präfektur Okinawa, ein Ort aus zehnstöckigen Bauten mit Wasserreservoirs auf dem Dach. Die Hafengegend zeigt den überraschenden Wildwuchs einer nie vollendeten Stadt. Bars, Restaurants und Läden für amerikanische Überschußbestände lösen einander auf der Kokusai dori ab, der pfeilgeraden Hauptstraße, die nach den Bombardements an der Stelle ehemaliger Reisfelder errichtet wurde. Hier wird japanisch gesprochen und mit Yen bezahlt, aber die Strenge und Ordnung, die im japapanischen Kernland offensichtlich herrschen, sind verschwunden. Man glaubt, im Herzen des feuchten Asien zu sein und nicht mehr in diesem so eigenen Fernen Osten, den Japan darstellt.

„Alle wünschen Ihnen, Okinawa zu genießen, das Leben ist hier so angenehm“, bemerkt Takei Hiroshi, ein eleganter Biochemiker, der eine Krawatte mit Perlstecker trägt und in der Nähe des Berges Fuji geboren worden ist. Er wurde 1981 nach Naha berufen. „Die Universität von Riukiu besteht aus sechs Fakultäten und nimmt 4500 Studenten auf, darunter 200 Ausländer. Ich fahre oft ans Meer, um Gedichte zu schreiben. Wakas, Haikus sind mir zu kurz (Wakas sind Kettengedichte, Haikus Dreizeiler). Ohne die Stützpunkte wäre das Leben hier vollkommen ...“

Kadena Air Base ist in der Tat allgegenwärtig. Drei Viertel der in Japan stationierten amerikanischen Luftstreitkräfte sind auf dieser Insel konzentriert, die 120 Kilometer lang und etwa 4 Kilometer breit ist. Okinawa hat offiziell 1230000 Einwohner, davon sind 10,8 Prozent Amerikaner. Bereits bei der Ankunft am Flughafen sieht man ihre Jagdflugzeuge. Man hört, wie die F-16 über den Siedlungen üben. Früher schlossen die Kasernen Naha ein; seit der Verlegung in den Norden und den Osten belegen sie immer noch 20 Prozent des Territoriums.

Während seiner Studienzeit an der medizinischen Hochschule von Nagasaki wurde Takei Hiroshi mit den Leiden der Kranken konfrontiert, die zehn Jahre zuvor von den Niederschlägen der atomaren Explosion betroffen worden waren. Als er nach Okinawa kam, schloß er sich der Friedensbewegung an, einer auf der Insel aktiven Antikriegsvereinigung, deren Ziel „Nie wieder“ lautet, denn hier „trägt man die Kriegswunden noch in sich“, weiß Hiroshi.

„Die Okinawer wünschen sich ein friedliches Leben und daß die Militärs verschwinden“, fährt der Forscher fort. „Sie meinen, daß Kadena für ihr Überleben nicht mehr notwendig ist. Selbst die konservative Partei von Okinawa will, daß sie abziehen. Die Luftwaffe darf überall fliegen, sei es in den Übungsgebieten oder über dem Universitätscampus. Der Fluglärm ist, vor allem in der Nähe von Kadena, unerträglich, und er wird immer lauter, trotz der Verringerung der Truppen. Die Militärs feuern in der Nähe der Straße, nahe an den Bergen, aus ihren Bordkanonen (mit richtiger Munition). Angeblich ankern Atom-U-Boote in White Beach in einem Unterwasserhafen. Die Insel dient den Amerikanern als Stützpunkt im Fall von Konflikten im Nahen Osten oder in Afrika.“

William T. Randall, ein in Georgia in den USA geborener Baptistenpfarrer und Schriftsteller, lebt mit seiner Frau Maxine seit fast 26 Jahren auf Okinawa. Bei seiner Ankunft auf der Insel hatten die höchsten Gebäude vier Stockwerke, die Straßen waren nicht geteert. Die Kinder gingen ohne Uniform und oft ohne Schuhe zur Schule. Die Okinawer arbeiteten für den Stützpunkt, gingen zu Fuß oder fuhren Rad. Kadena kontrollierte alles, außer den giftigen Habu-Schlangen, die sich abends auf der Landstraße ringeln.

„Bei der Schlacht von Okinawa, während des Zweiten Weltkriegs, sind hier 500000 Soldaten gelandet. Amerikaner, aber auch Engländer, Franzosen und Philippinos“, erzählt William Randall. „Wie hätten die Okinawer den Kämpfern entkommen sollen? Als sie angegriffen wurden, wurden manche durch die Explosionen getötet. Andere sind von den Klippen gesprungen. In der Grotte, wo sie sich verbargen, kam es zu Massenselbstmorden. 200000 Menschen, zur Hälfte Zivilisten – Frauen und Kinder – kamen elend um: aus Angst vor dem Feind, aber auch vor den japanischen Offizieren, für die die Okinawer trotz ihrer Teilnahme an den Kämpfen potentielle Verräter waren.“

Pfarrer Randall hat, weil ihn dieser Alptraum an Sinnlosigkeit verfolgte und er gegen das Vergessen ankämpfen wollte, Augenzeugenberichte in einem Büchlein mit dem Titel Okinawa's Tragedy gesammelt, das 1987 veröffentlicht wurde. Nach dem Krieg bauten die amerikanischen Truppen Kasernen. Aber trotz wiederholter japanischer Bitten und verschiedener Rückgabeversprechen wurde Okinawa erst 1972 dem Staate Nippon zurückgegeben.

„Früher setzten sich die Leute auf ihre Tatamis, tranken Sake aus Aomori und aßen direkt aus den Dosen“, erinnert sich der Pfarrer noch. „Heute gehen sie aus, trinken und singen Karaoke und bezahlen dafür pro

Abend 30000 Yen. Aber die Gemeinschaft ist stark. Die Karaokelieder und die von den Reisstrohmatten von früher sind dieselben. Trotz der Japanisierung durch die Medien hat sich die Bevölkerung, die sich ihrer Eigenheit und ihrer Geschichte sehr bewußt ist, nicht verändert. In Wahrheit ist es recht leicht, die Stützpunkte zu vergessen.“

Nichts zu verbergen?

UND dennoch. Auf einem Gebiet von 2000 Hektar bildet Kadena „den größten und komplexesten amerikanischen Luftwaffenstützpunkt der Welt“, wie die Broschüre Assignment Kadena stolz versichert, die vom 18th Wing Public Affairs Office für Besucher und Neuankömmlinge bereitgehalten wird. Zwischen 50000 und 60000 amerikanische Soldaten – die Zahl schwankt je nach Gesprächspartner –, überwiegend „Marines“, leben hier noch. Die Armee stellt dieser riesigen Enklave alles, Notwendiges und Überflüssiges: Krankenhaus, schulische Einrichtungen, Geschäfte mit aus den USA importierten Waren, Freizeitbereiche, Fast-food- Restaurants. Wenn sie wollen, können die Bewohner hier wie in einer kleinen amerikanischen Stadt leben, überdies noch durch einen dreireihigen Stacheldrahtzaun geschützt.

Nichts fehlt, weder amerikanische Postkästen auf Rasen noch Schülerlotsen. Ob schwarz oder weiß, die Kinder der Militärs fühlen sich hier heimisch. Sie laufen Rollschuh und albern herum. Fast könnte man die Nähe des subtropischen Dschungels und die Existenz der Habu-Schlangen vergessen, die sicherlich ebenfalls die Grünanlagen nutzen. Einheimische Gärtnerinnen mit Hüten zum Schutz des Nackens schneiden die Hecken entlang der Parkplätze, auf denen japanische Autos stehen. Eine Putzfrau, ebenfalls Okinawerin, putzt den Eingang des Gebäudes, in dem der Feldwebel Amidon wohnt (ein Name französischen Ursprungs, wie er lächelnd präzisiert).

„In Kadena haben wir nichts zu verbergen, wir können alles zeigen...“, versichert Amidon, der ein geräumiges Apartment mit Blick auf den Strand des Chinesischen Meers bewohnt. Doppelfenster schützen die Wohnung vor schädlichem Lärm. Nach einem fast zehnjährigen Leben auf dem Stützpunkt hat er wie etwa 5 Prozent aller amerikanischen Soldaten, die hier durchlaufen, eine Okinawerin geheiratet. „Mischehen sind seltener als früher, die Werte haben sich geändert. Die Soldaten gehen nicht mehr so oft aus: die Spritztouren sind teuer.“ Das Hauptproblem ist der Wechselkurs: Weniger als 90 Yen ist der Dollar wert, das erscheint den Militärs mit Familie, deren Sold, mit kostenloser Dienstwohnung, im Schnitt um 20000 Dollar jährlich liegt, wenig.

„Am Anfang suchte ich eine Lebensweise, auf die ich stolz sein könnte“, erklärt der Unteroffizier. „Deshalb bin ich in die Luftwaffe eingetreten. Ich wurde in die Büros abgeordnet, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, wo ich fand, was ich suchte. Neun Jahre hier haben mir Spaß gemacht. Vor meiner Heirat waren meine Nächte verrückt. Heute habe ich eine Frau und eine kleine Tochter. In ein paar Monaten werde ich die Air Force verlasssen, weil ich über den Rang eines Feldwebels nicht hinauskomme. Die Armee wird mir eine Belohnung für geleistete Dienste geben – glory money (Ruhmesgeld). 24000 Dollar, mit denen ich ein neues Leben auf Okinawa anfangen will.“

Der Feldwebel, ein Amerikaner durch und durch, gesteht, nie das japanische Kernland besucht zu haben. Während all der Jahre hat er sich auf die Straßen der Insel beschränkt und die Annehmlichkeiten der Armee genossen. „Vom Land selbst kenne ich nur den Flughafen Narita. Aber jetzt, wo ich eine weitverstreute japanische Verwandtschaft habe, wird sich das ändern.“ Ihm zufolge gibt es heute nur noch etwa 25000 Soldaten auf Okinawa, also einschließlich der Familien 50000 Amerikaner, zuzüglich 10000 einheimischer Zivilangestellter, die auf den Stützpunkten arbeiten. Die Zahl der Soldaten soll stabil bleiben, trotz der Verringerungen, die anderswo vorgesehen sind. Am Sonntag, so heißt es, wird der Feldwebel mir den Hauptstützpunkt Kadena mit seinen glitzernden Flugzeugen auf dem Rollfeld zeigen. Es gibt ja nichts zu verbergen.

„Die beiden Kulturen schaffen es niemals, zusammenzuleben“, bemerkt Kinjuro Takuya, Angestellter in einem Andenkenladen, mit Bitterkeit. „Am Anfang heiraten sie, weil die Mädchen Geld haben. Dann finden die ehemaligen Soldaten außerhalb der Stützpunkte keine Arbeit, und am Ende kehren sie nach Hause zurück und überlassen Frau und Kinder ihren Problemen. Das klappt nie!“

Eine zarte junge Frau mit purpurroten Lippen wie ein Star der zwanziger Jahre fährt mit dem Fahrrad bis zu einer Pizzeria im Zentrum, wo sie Brot backen läßt. Gern nimmt sie die Fremde bis zu deren Ziel, der Okinawa Times, mit. „Mein Vorname ist Naomi, wie Naomi Campbell“, erklärt sie. Ihre Augen leuchten, als sie das Glück anspricht, das die Zeit der Taifune den Okinawern bringt. Außer den Banken schließt alles vierundzwanzig Stunden vor der Ankunft der Sturmwinde. Ihr Mann bleibt dann bei ihr zu Hause. Sie leihen Videos aus, lesen oder betrachten das große Schauspiel der Natur. Wenn der Strom ausfällt, gibt es kein Fernsehen, kein Fax und keine Tiefkühlkost mehr, und das Paar speist bei Kerzenlicht. Eine wohltuende Rückkehr zur Ruhe, zur Vergangenheit.

Vergangenheit und Zukunft. Mit diesem unvergänglichen Thema setzt sich Takimo Gima, eine erfolgreiche 25jährige Journalistin, auseinander. Sie ist die einzige in den drei Lokalredaktionen, die bereit war, Englisch zu reden. Es ist nicht erstaunlich, daß die Sprache der Besatzungsmacht von der Kriegsgeneration verweigert wird, aber die Ablehnung in der Presse überrascht. Um so mehr, als Englisch in der Schule Pflichtfach ist. Laut Takimo Gima haben die Jungen die Schlachten vergessen. Sie nutzen die Insel, um luxuriöse Motorräder zu fahren, zu surfen, sich des Lebens zu freuen, und hätten eher Lust, in Kontakt zu treten.

Die Faszination für die „schwarze Seele“ ist ein weiteres Phänomen jüngeren Datums. Viele Japanerinnen kommen eigens vom Kernland, um unter Flamboyants ein Abenteuer mit einem schwarzen Militär zu erleben. Diese Mädchen kommen in ihren Sommerferien nach Okinawa, um Schwarze zu treffen. In Bierbars, an privaten Stränden oder an Straßenkreuzungen, die als Jagdrevier bekannt sind, nehmen sie Kontakt auf. Manche leidenschaftliche Anhängerinnen von love and music ziehen sogar ganz nach Okinawa. Manchmal sind auch Drogen mit im Spiel. Dank der Soldaten, die ohne Zollkontrolle aus den USA ankommen, gelangen Alkaloide leicht auf die Inseln.

„Jetzt sind wir glücklich“

DAS Fernsehprogramm Far-East Network (FEN), das von und für Kadena betrieben wird, sendet Tag und Nacht. Ab dem Morgengrauen überträgt ABC ausführlich die Nachrichtensendung „Good Morning America“. Werbeeinblendungen werden durch Informationen über die Bedeutung des militärischen Erbes oder durch Spots gegen Kokain ersetzt, was einiges über diese Probleme aussagt.

Selbst wenn die Yakuzas (Mafiosi) nicht sehr zahlreich sind (man sieht sie in dem Film „Sonatine“ von Takeshi Kitano, der auf Okinawa gedreht wurde), erkennt der Besucher schnell, daß der Archipel für mancherlei merkwürdige Geschäfte genutzt wird. Schildkrötenpanzer werden ohne Umstände in Geschäften verkauft, deren Eingänge mit Stoßzähnen von Elefanten geschmückt sind. Auf dem Markt werden offiziell geschützte Schlangen neben den violetten Okinawa-Süßkartoffeln angeboten. Die Besucher kaufen ohne Scham Waren, die anderswo verboten sind.

Zur Stunde unseres sonntäglichen Treffens verkündet mir der Feldwebel Amidon mit verschlossener Miene, daß die Kadena Air Base mir ihre Tore nicht öffnen wird. Keine Erklärung. Wie die Japaner in ihren Bussen absolvieren wir die Rundfahrt zu den Schlachtfeldern. Damals hat sich der Feuersturm von den Pfaden aus bis in die Höhlen ausgebreitet. Stelen erinnern an diejenigen, die sich von diesem oder jenem Felsen gestürzt haben. Die Allee dorthin ist an manchen Stellen von rotem Hibiskus gesäumt, dem Symbol für vergossenes Blut. Die uralte Zivilisation von Riukiu ist zerstört, und Okinawa ist widerwillig und gewaltsam in die Moderne befördert worden.

Eine Tokioterin, die der Besuch des kleinen Friedensmuseums aufgewühlt hat, das in Himeyuri errichtet wurde – die Nachbildungen und Fotos der heranwachsenden Opfer sind derart bewegend, daß niemand in den Räumen spricht –, wendet sich an die einzige anwesende Ausländerin: „Glauben Sie, daß dieser Ort wirklich notwendig ist? Wir wollen diese Zeit nicht vergessen, aber für uns geht es darum, nicht zu sehr daran zu denken, denn jetzt sind wir glücklich.“

dt. Harald Bauer

Schriftstellerin

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Nicole-Lise Bernheim