10.11.1995

Die verlorenen Worte

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Die verlorenen Worte

EINE Buchhandlung in Havanna, in den sechziger Jahren. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist eine Lieferung ausländischer Bücher eingetroffen. Die Kunden sind im Kaufrausch. Unter ihnen „der Rote“, ein Büchernarr. Aus bürgerlicher Familie stammend, doch von ihr verstoßen, hätte er nach Miami auswandern können, doch er entschied sich, im Land zu bleiben. Völlig pleite, wie er ist, bereitet es ihm keine Mühe, die geliebten Bücher zu stehlen. „Er benutzte dazu einen dicken Band, das Handbuch für Marxismus-Leninismus von Otto V. Kuusinen, bei dem er sorgfältig die Seiten ausgehöhlt hatte, so daß es zwar keinen Text mehr hatte, wohl aber noch die Textränder und somit kein Buch mehr war, sondern ein Hohlziegel, ein leeres Kästchen. Der Rest – Sor Juana in Kuusinen zu stecken – war nur noch simple Fingerfertigkeit.“ So beginnt der zweite Roman von Jesús Diaz.1

Es geht ein respektloser Geist um, den zwei Freunde gemein haben, der „Dicke“ und der „Lange“. Der „Dicke“, vom Typ Zimmermanns oder des Schnellschuß-Liebhabers, also schnell in der Liebe, dichtet Sonette und bewundert Quevedo. Der „Lange“, vom Typ Milesius' oder des Schnecken-Liebhabers, also schüchtern, lebt unter ärmlichen Verhältnissen mit seiner Mutter Rosa in einem solar und will eine Zeitschrift gründen, in der junge Schriftsteller zu Worte kommen sollen. Sie soll El güije ilustrado (Der aufgeklärte Güije) heißen, nach den Heinzelmännchen der Inselmythologie, „kleine Neger mit großen Köpfen und spitzen Ohren, die am Grunde der Wasserläufe lebten und ihre Zeit mit Scherzen verbrachten“. Um güije zu werden, muß man eine strenge Prüfung bestehen. Viele fallen dabei auf die Nase, und Angela wird eine Menge Talent, Humor und Ausdauer brauchen, um bis in den Kreis der drei Musketiere einzudringen, um ihre „Eine“ zu werden, ein aus der Devise „Eine für alle“ gewonnener Spitzname.

Kann das Projekt einer freien und kritischen Zeitschrift trotz Zensur und Neid Wirklichkeit werden? Vielleicht. Die Veröffentlichung des güije ist vom compañero Direktor genehmigt worden, dessen Büro sich just über dem riesigen Platz der Revolution erhebt, den unsere jungen Träumer „menschlicher“ machen möchten. In eben diesem Büro springt am Ende des Romans der Traum der güijes in tausend Stücke. Die Verteidiger des Dogmas haben sich gegen sie erhoben.

WAS Literatur bewirken kann: Es hätte eine geballte ideologische Ladung hätte werden können, doch verwandelt es sich in eine Abfolge von Abenteuern, die den Leser in Atem hält. Aus Bildern gewoben, als wäre es ein Film, spielt die Konstruktion mit Ort und Zeit, und die Kapitel verschachteln sich ineinander wie in einer Rückblende. In Moskau, im Turmrestaurant von Ostankino, wo er mit einem befreundeten kubanischen Diplomaten speist, dem Flachshaarigen, einem nicht ganz herzlosen Apparatschik, erinnert sich der „Lange“ an Havanna und an den Heldengesang vom Güije, lange nach dessen Schiffbruch. In einer zugleich anspruchsvollen und erfindungsreichen Sprache erzählt er von diesem Schiffbruch und gibt dabei den Stil eines jeden Protagonisten und dessen Begegnungen mit den heiligen Monstern der kubanischen Literatur wieder: Mit José Lezama Lima, dem Dichterriesen, Alejo Carpentier, dem Erzähler, Nicolás Guillén, dem Lyriker, Eliseo Diego, dessen „Franziskanerbärtchen im spitzen Gesicht ebenso maßvoll war wie seine Verse“, und, nicht zu vergessen, Virgilio Piñera, dem „mit dem spöttischen Adlerblick“.

Wie in den „Initialen der Erde“ hat der Autor hier sehr viel von seiner eigenen Erfahrung eingebracht. 1941 in Havanna geboren, lehrte er Philosophie, gründete und leitete die Zeitschriften El Caimán barbudo und Pensamiento critico. Jesús Diaz hat auch Erzählungen (Preis Casa de las Américas 1966) geschrieben und ist als Drehbuchautor und als Regisseur hervorgetreten. Zur Zeit lebt er in Madrid.

FRANÇOISE BARTHÉLÉMY

1 „Die verlorenen Worte“, aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer, München 1993 (Piper).

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Francoise Barthelemy