10.11.1995

Die Amerikaner kommen!

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Die Amerikaner kommen!

Von

FRÉDÉRIC

F. CLAIRMONT *

IST die führende Klasse der USA dazu berufen, die Fackel der Demokratie nach Kuba zu tragen? Mehr als 150 Jahre kriegerischer Einmischung in Lateinamerika, von Mexiko bis Chile, von Brasilien bis Haiti, von Grenada bis Panama, zeugen vom Gegenteil. In Guatemala wurden im Laufe der letzten vierunddreißig Jahre mehr als hunderttausend Menschen aus Gründen, die direkt oder indirekt mit der amerikanischen Intervention von 1954 zusammenhängen, massakriert. Die Demokratie, die Menschenrechte und der heute so beliebte Verweis auf die „internationale Gemeinschaft“ sind allzu oft nichts als Theaterkulissen, hinter denen das Kapital zirkuliert und handelt.

Die derzeitigen Umwälzungen in Kuba finden zu einem Zeitpunkt statt, da sich die Isolierung der Insel ihrem Ende zuzuneigen scheint. Der deutlichste Ausdruck dafür war die Abstimmung gegen das Embargo in der Generalversammlung der Vereinten Nationen.1 Nur zwei Länder, die Vereinigten Staaten und Israel, stimmten gegen die Aufhebung – was die Israelis jedoch nicht daran hindert, im agroindustriellen Sektor der Insel zu investieren. Auch der fünfte iberoamerikanische Gipfel, der am 17. Oktober dieses Jahres in Bariloche in Argentinien zu Ende ging, verurteilte das Embargo. César Gaviria, der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), bemerkt: „Lange Zeit ist die Auseinandersetzung über Gegenwart und Zukunft Kubas von den extremsten Positionen beherrscht worden.“2 Obwohl ihr mangelnde Ehrerbietung gegenüber den Kaziken des Kongresses vorgeworfen wurde, hat die kanadische Regierung heftig auf den Gesetzesvorschlag von Dan Burton und Jesse Helms reagiert, der eine weitere Verschärfung der Handelssanktionen gegen die Firmen und Drittländer vorsieht, die mit Kuba Geschäfte machen. „Wir werden nicht akzeptieren, daß unsere Unternehmen, die legitime Geschäfte mit anderen Ländern machen, durch eine ausländische Gesetzgebung unter Strafe gestellt werden“, erklärte der Außenminister André Quellet. „Diese einseitigen Maßnahmen“, fügte er hinzu, „verletzen sowohl die Charta der OAS als auch die Prinzipien des Nordamerikanischen Freihandelsverbandes (Alena) und der Welthandelsorganisation, und Ottawa wird sich ihnen entschieden widersetzen.“

Nicht weniger bezeichnend als diese Befehlsverweigerungen sind die Klagen, die in den Reihen bedeutender transnationaler Industrie- und Finanzgruppen erhoben werden. So klagte Dwayne Andreas, der Präsident des großen Getreidekonglomerats Archer Daniels Midland, im Juni dieses Jahres gegenüber CNN: „Seit mehr als dreißig Jahren ist unser Embargo ein völliger Mißerfolg. Statt dessen sollten alle Amerikaner versuchen, in Kuba möglichst viele Geschäfte zu machen. Es ist an der Zeit, eine andere Politik zu verfolgen.“ Die Aussichten, auf der Insel investieren zu können, läßt vielen Chefs das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Zum Beispiel Thomas J. Polski, ein Sprecher der Carlson Companies, die die Hotelkette Radisson besitzt: „Für uns ist Kuba ein äußerst interessanter Standort. Es ist die verbotene Frucht der Karibik.“3 Ins gleiche Horn stieß Keith Broussard, Vizepräsident des amerikanischen Reisverbandes, während einer Anhörung vor einer Kommission des Repräsentantenhauses: „Die amerikanische Reisindustrie betrachtet den kubanischen Markt als großes Potential, wenn das Embargo erst einmal aufgehoben wird.“4

Der Gegensatz zwischen bedeutenden Teilen des amerikanischen Großkapitals und der antikubanischen Lobby, die in Washington immer noch das Sagen hat, liegt im Risiko, daß bis dahin andere die begehrten Plätze auf der Insel einnehmen.

Richard Nuccio, Sonderberater für kubanische Angelegenheiten beim Präsidenten, rechtfertigt zunächst mit wenig Überzeugung die offizielle Haltung: „Dieses Embargo ist das umfassendste, das je gegen ein Land dieser Welt verhängt worden ist. Wir halten es aufrecht, weil wir der Ansicht sind, daß nur der Druck Kuba zu ökonomischen oder politischen Reformen zwingen wird.“5 Was folgt, klingt schon milder: Das europäische und lateinamerikanische Kapital investiere ohnehin nur in kurzfristige oder risikoreiche Projekte, und die Amerikaner würden zu gegebener Zeit keine Schwierigkeiten haben, sie daraus wieder zu verdrängen. Eigenartigerweise wird dieses Gefühl von manchen ausländischen Geschäftsleuten auf der Insel geteilt. „Ich will nicht, daß die Amerikaner herkommen“, gibt ein mexikanischer Unternehmer zu. „Irgendwann werden sie hier sicher eintreffen, und dann werden sie die schwache kubanische Wirtschaft erdrücken. Ich will ihre Konkurrenz nicht. Niemand will sie.“

Bleibt die große Frage, inwieweit die führende amerikanische Klasse bereit ist, ihre Beziehungen zur Insel zu verändern. Nachdem die Vereinigten Staaten vom vergangenen Jahrhundert bis heute zu Kuba immer das Verhältnis eines Jägers zu seiner Beute hatten, scheint ein Modus vivendi wenig wahrscheinlich. In Havanna machen sich die Regierenden keinerlei falsche Hoffnungen: Washington erwartet von ihnen eine bedingungslose Kapitulation, die vollständige Auflösung der politischen Infrastruktur und die Rückkehr zum Status quo ante.

Breite nationalistische Kreise auf der Insel sind davon überzeugt, daß der amerikanische politische Apparat eine starke und lebensfähige kubanische Wirtschaft um jeden Preis verhindern will – selbst wenn ein großer Teil dieser Stärke aus einem boomenden kapitalistischen Sektor hervorginge. Für diese Strömung besteht das Ziel der Vereinigten Staaten darin, die kubanische Nation zu destabilisieren, ohne Rücksicht auf die Folgen. Außenminister Roberto Robaina bemerkt dazu lakonisch: „Machen wir uns doch nichts vor. Alle Maßnahmen, über die so viel geredet wird, sind auch dazu da, unser Land zu unterwerfen. Sie überlegen nicht, ob sie uns die Kehle durchschneiden sollen oder nicht, sondern ob sie dazu lieber einen Dolch oder ein Rasiermesser nehmen.“6

dt. V.v.W

1 Am 19. Oktober 1995.

2 Le Monde, 19. Oktober 1995.

3 The New York Times, 27. August 1995.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Gespräch in Granma, Havanna, zitiert von

The New York Times Service, 8. August 1995.

* Finanzanalytiker, Genf

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Frederic F. Clairmont