10.11.1995

Islam und Macht im Senegal

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Islam und Macht im Senegal

DIE islamische Bruderschaft der Muriden im Senegal ist eine verschworene, effiziente Gemeinschaft. Unter der Kolonialherrschaft mobilisierte sie die Landbevölkerung im Dienste der Exportwirtschaft und trug gleichzeitig ideologisch zur Bewahrung einer eigenen Identität bei. Heute gilt der Muridismus in den Städten als wesentlicher Faktor für Stabilität und für den Wiederaufbau einer von Auflösung bedrohten Gesellschaft. Die heilige Stadt Tuba stellt sich als Vorzimmer zum Paradies dar...

Von SOPHIE BAVA und DANIELLE BLEITRACH *

An den Schildern der Verkaufsbuden, auf den Armaturenbrettern der Taxen und „Schnellbusse“ und auch in den Büros mancher senegalesischer Politiker hängt das Bildnis einer schmalen Gestalt in wallendem weißem Gewand mit einem makellosen Tuch um den Kopf: Amadou Bamba, der Begründer des Muridismus und der Stadt Tuba. Er wurde 1853 in M'Backe Baol als Mitglied einer Familie von Würdenträgern geboren, die Lat Dior, dem damel (König) von Cayor nahestand, der gegen die Einführung der Eisenbahn und der Erdnußproduktion durch die französischen Kolonialherren gekämpft hatte. Bamba ging 1895 nach Gabun ins Exil und 1903 erneut, diesmal nach Mauretanien. Er wurde zum mystischen Sufi und gründete nach seiner Rückkehr eine eigene Bruderschaft, die Muridiya, die heute etwa zwei Millionen Anhänger hat.

Während der ausländischen Invasion und der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Wolof-Feudalherren und der Kolonialmacht hatte Scheich Amadou Bamba eine Friedensbotschaft veröffentlicht, die bei den vom Krieg und den Übergriffen der Banden von Lat Dior zerstörten Bauerngemeinschaften großen Anklang fand: „Wir müssen den Heiligen Krieg ablehnen und unseren Seelen den Heiligen Krieg erklären.“ Das Besondere an der Parole lag in der darin enthaltenen Doktrin von der Arbeit als dem Weg zur Heiligkeit: „Arbeite, als müßtest du niemals sterben, und bete, als stürbest du morgen.“1 Amadou Bamba säkularisierte das religiöse Verhalten seiner Anhänger, indem er das Heil innerhalb der profanen Welt ansiedelte. Diese mystische Botschaft wurde zu einem Mittel der Anpassung an die kapitalistische Moderne, die der Kolonialismus eingebracht hatte, aber auch zu einem Hebel, um religiöse und nationale Identität zu schaffen. Schließlich bot sie die Möglichkeit, sich der feudalen Ethik der Wolof-Königreiche zu entziehen, die den Arbeitenden einen untergeordneten Rang zuwiesen. Amadou Bamba setzte sich sogar für „die Aufgabenteilung“ ein, indem er die Gleichheit zwischen verschiedenen Tätigkeitsarten herstellte und Scheichs aus allen Gesellschaftsschichten ernannte. Deshalb wird er heute als Nationalheld gefeiert, der sich dem Vorstoß der Kolonialherren entgegenstellte, während er in Wahrheit die Bevölkerung zur Arbeit antrieb, um im Dienst der Kolonialmacht Erdnüsse zu produzieren.

Als 1912 die Böden des Erdnußbeckens immer ärmer wurden, organisierte Scheich Amadou Bamba die „Kolonisierung der neuen Böden“. In einer feindlichen Umgebung (trockene Wüste, Löwen und vor allem Peul-Nomadenhirten) betrieben die Muriden-Oberhäupter die Organisation und Zusammenlegung der Siedler in den neu bebauten Gebieten. Die französische Verwaltung informierte sie über die künftigen Trassen der Straßen und Eisenbahnschienen. Sie brachten ihre Talibe in wohldisziplinierten Gruppen dorthin und organisierten den Kampf gegen die Nomaden-Viehzüchter.

Dieser von der französischen Verwaltung unterstützte Pionierfeldzug wurde im Namen geistiger Werte geführt: die karg ernährten Anhänger kehrten in der Trockenzeit in ihre Dörfer zurück; nach zehn Jahren Arbeit erhielt der Talibe ein Grundstück, und die daara – eine ländliche Maraboutgemeinde, in der die Jugendlichen Landwirtschaft betreiben und den Koran lernen – wurde zum Dorf mit Frauen und Kindern. Auch wenn dieser Intensivanbau zum Ausdörren des Bodens und zur Ausdehnung der Wüste beigetragen hat, haben die Arbeitsmystik und die wachsende Erdnußproduktion die Bruderschaft reich gemacht und das Charisma von Scheich Amadou Bamba verstärkt. Er erhielt die Genehmigung, in seinem Heimatdorf Tuba den Muriden eine Kultstätte zu errichten, eine große Moschee, mit deren Bau 1926, ein Jahr vor seinem Tod, begonnen wurde.

Im Bemühen, diese expandierende Bruderschaft zu kontrollieren, mischte sich die Kolonialverwaltung in die Nachfolge des Muridenscheichs ein und unterstützte dessen ältesten Sohn Muhamad al- Mustafa M'Backe.2 Nach seiner Ernennung kümmerte sich dieser vornehmlich um den Weiterbau der großen Moschee in Tuba und wandte sich dafür an die Franzosen. So begann die Vetternwirtschaft zwischen der Bruderschaft und den politischen Machthabern. In den dreißiger Jahren konnte sich Frankreich im Kampf gegen die ersten gewerkschaftlichen Forderungen auf die Marabouts stützen.

In den fünfziger und sechziger Jahren, sowohl vor als auch nach der Unabhängigkeit, florierten die klientelistischen Beziehungen zwischen den politischen Machthabern und den Bruderschaften: die einen schützten die Interessen der Marabouts, die anderen spielten weiterhin ihre Rolle als Handlanger der Verwaltung. Ab 1968 trat unter dem dritten Kalifen, Sérigné Abdou Lahat M'Backe, eine Wende ein. Zwölf Jahre lang agierte er bei Präsident Léopold Sédar Senghor als Sprachrohr der ländlichen Bevölkerung und betonte seinen Unabhängigkeitswillen.

Oase des Wohlstands

DIE Dürre, der Fall der Erdnußkurse und die Krise der Landwirtschaft traten just zu einem Zeitpunkt ein, an dem in Tuba eine Phase großer Arbeiten begonnen hatte. Abdou Diouf, ab 1980 Präsident des Senegal, gelang, woran sein Vorgänger gescheitert war: Sérigné Abdou Lahat M'Backe zu seinem offiziellen Verbündeten zu machen. Der Kalif wurde sein bevorzugter Berater und bekam im Gegenzug Finanzhilfen für seine Projekte in Tuba.

So rief der Generalkalif der Muriden bei den Wahlen 1988 seine Talibe mit einer n'diguel (Parole) dazu auf, Abdou Diouf zu wählen: „Wer bei den Wahlen vom Februar 1988 nicht Abdou Diouf wählt, verrät Scheich Muhamad Bamba.“ Die heutige senegalesische Regierung hat der Bruderschaft im Ostteil des Landes, dem Khelcom, einen Wald von mehreren hundert Hektar übereignet, und in der heiligen Stadt der Muriden haben verschiedene Ministerien Infrastrukturmaßnahmen geplant.

Tuba ist eine Oase relativen Wohlstandes im krisengeschüttelten Senegal und lebt von den beträchtlichen Summen, die die Marabouts von ihren Taliben erhalten: die Beiträge von Lohnempfängern, von bedeutenden Kaufleuten, aber vor allem von einer Masse kleiner Leute, Kleinhandwerker, Budenbesitzer oder Straßenhändler, die in der Emigration, im oft fernen Ausland bis hin nach Europa und den Vereinigten Staaten, afrikanische Statuen und Sonnenbrillen verkaufen.

Dieses Geld wird in die Stadt Tuba investiert, aber es fließt auch im Randbereich der offiziellen Wirtschaft in die Zuweisung kleiner Handwerks- und Handelsbetriebe an die Talibe. Die Struktur der Erdnußvermarktung hat den Marabouts den Zugang zu neuen Konsumgütern, sogar zum Luxus, ermöglicht, ohne jedoch als Grundlage einer kapitalistischen Akkumulation zu dienen.

Für die Bauern hat die landwirtschaftliche Kolonisierung unter ihrer Vorherrschaft neben den religiösen auch materielle und soziale Vorteile gebracht. Noch im Februar 1995 erklärte die senegalesische Presse, daß die Bauern trotz Staatssubventionen ihre Erdnußernte lieber auf dem Parallelmarkt von Tuba als auf dem offiziellen Markt verkaufen.

Die daaras in der Gegend von Tuba verbinden Koranschule und Kinderarbeit auf den Feldern der Lehrer. Sie gehören dem informellen Sektor an, der nicht nur aus Kleinunternehmern besteht, sondern auch aus unbezahlten Lehrlingen und kleinen Straßenverkäufern, deren Status der Leibeigenschaft mehr ähnelt als der Lohnarbeit. In Tuba konnte man noch vor kurzem in einer daara Kinder mit schweren Eisenringen an den Knöcheln sehen, die ihre Flucht verhindern sollten...

Seit Ende der sechziger Jahre hat der Muridismus aufgrund der Krise des Erdnußmarkts und der allgemeinen Zunahme der Landflucht auch in den Städten, insbesondere in Dakar, Fuß gefaßt. Doch diesmal haben die Talibe selbst unter Ausnutzung der Bruderschaft und ihrer privilegierten Beziehungen zu den politischen Machthabern religiöse und wirtschaftliche Netzwerke aufgebaut. Das ist ein Indiz für den Erfolg der von Amadou Bamba begonnenen Säkularisierung, aber auch eine Folge von Gemauschel, Korruption und Klientelismus, die sich in einem geschwächten Staat ausgebreitet haben. Die Buden in Sandaga, dem großen Markt von Dakar, die mit dem Porträt von Amadou Bamba geschmückt sind oder die Aufschrift „Talibe des Scheichs Sowieso“ tragen, genießen einen speziellen Status, der ihnen Abgaben an die Polizei oder Kontrollen bei illegalen Geschäften erspart.

In den letzten Jahrzehnten haben die Talibe selbst die Solidarität der Bruderschaft in den Städten organisiert und dahiras gegründet, Vereinigungen um einen Marabout oder im Rahmen eines Wirtschaftsunternehmens. Insbesondere organisieren sie die gemeinsamen Pilgerfahrten zu einem Marabout oder nach Tuba. In jüngster Zeit haben die städtischen Mittelklassen und Lohnabhängigen, deren Lebensniveau durch die Abwertung des CFA-Franc im Januar 1994 stark gelitten hat, sich wie zuvor schon die unteren Schichten dem Muridismus verschrieben.

Diese Netzwerke haben zahlreiche Verbindungen zu den Emigranten. Als 1986 die von der Weltbank empfohlene Senkung der Importsteuer zu einer Flut elektronischer Güter aus Hongkong, New York oder Taiwan führte, dienten im Ausland lebende Muriden als Vermittler für die Verbindungen mit ausländischen Großhändlern oder für den Vertrieb der Waren im Inland. Diese Netze beruhen auf Familienbanden, auf der Zugehörigkeit zu einer dahira oder auf der Treue zum selben Marabout und schaffen damit das Vertrauen und die Sicherheit, die dem wirtschaftlichen Austausch zugute kommen.

Tuba ist als privates Territorium auch ein bevorzugter Ort für jede Art Schwarzhandel. 1976 war nach einem Abkommen zwischen Scheich Abdou Lahad und Präsident Senghor eine Sonderbrigade der Gendarmerie geschaffen worden, die vom Staat Senegal finanziert, aber vom Kalifen befehligt wurde. Der Schwarzhandelsmarkt war abgerissen und ein neuer gebaut worden, der legale Geschäfte beherbergen sollte. Heute blüht wieder der Schmuggel. Das zeigt, daß Tuba ein Freiraum ist, in dem sich unter einem religiösen Deckmantel die grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis zum Staat und dem Recht auf informelle Wirtschaft stellen: Nichtbeachtung des Arbeitsrechts, Absenz von Steuerzahlungen bis hin zu illegalen Aktivitäten...

„Wer Euch hienieden nicht helfen kann, wird Euch auch im Jenseits nicht unterstützen können“, sagt ein senegalesisches Sprichwort. In der Tat hat ein Scheich um so mehr Anhänger, je mehr materielle Vorteile er ihnen verschaffen kann. In Tuba kann sich jeder Talibe mit seiner Familie an einem vom Kalifen zugewiesenen Ort niederlassen. Seit etwa zehn Jahren werden diese Parzellen umsonst zugeteilt. Jedes Viertel hat ein Oberhaupt, das theoretisch wie alle senegalesischen Landräte gewählt, in Wirklichkeit aber auf Weisung des Kalifen eingesetzt wird.

Tuba ist neben Dakar die senegalesische Stadt mit den höchsten demographischen Zuwachsraten (12,6 Prozent im Jahr). Es wirkt wie eine riesige Baustelle. Um sein 87 Meter hohes Minarett herum wächst Tuba in die Breite und hat inzwischen einen Durchmesser von 27 Kilometern erreicht. Die Stadt ist in zwei Bereiche geteilt: auf der einen Seite die Moschee und andere umliegende Bauten, die einen höheren Ort, das Paradies, versinnbildlichen. Auf der anderen breiten sich die Häuser an Straßen entlang aus, die alle von der Moschee ausgehen. In den prunkvollen öffentlichen Gebäuden oder den reich möblierten Wohnungen des Marabout, in denen die neuesten elektronischen Errungenschaften neben Stoffen, Teppichen und glänzenden Gegenständen Platz finden, überragt das Ideal den Alltag der Talibe so stark, daß selbst an diesen Kontaktpunkten die ewige Distanz zwischen dem Menschen und der übernatürlichen Macht, der baraka, bestehen bleibt.

Es ist erstaunlich, wie viele jeden Samstag geduldig ausharren, um die Zuteilung einer Parzelle zu erbitten, die ihnen den Umzug nach Tuba ermöglichen soll. Der Talibe wird von seinem Scheich untergebracht, aber auch wenn nötig verpflegt und gekleidet. Derselbe Scheich agiert auch als Vermittler beim Öffnen des Tors zum Paradies. So kommen häufig Aidskranke zum Sterben nach Tuba, was Probleme mit der Gesundheitsversorgung mit sich bringt, denn Krankenhäuser gibt es nicht, die städtischen Infrastrukturen sind rudimentär, Verwaltungs- und Sozialdienste sind nicht existent. Zwar gibt es zahlreiche Koranschulen, und die Bruderschaft wird bald eine riesige Prunkuniversität eröffnen, doch auf 150000 Einwohner kommen nur acht nichtkonfessionelle Schulklassen.

Im Gegensatz zur anderen großen Bruderschaft, der Tidjaniya, die international verankert und elitär ist, sind die Muriden in erster Linie volksnah und national. Darauf sind die Senegalesen, ob gläubig oder nicht, stolz: „Der Muridismus ist der beste Schutzwall gegen den Integrismus!“ Dafür gibt es etliche Anhaltspunkte: die feindselige Haltung Saudi-Arabiens, die enge Verbindung zwischen Staatsmacht und Bruderschaft...

Die daara der muridischen Studenten, deren Aura von Tuba aus den ganzen Senegal umfaßt und sogar die Emigrationsländer erreicht, unterscheidet sich jedoch von der offenen Art der Muridenorganisationen und deren Fähigkeit, sich mit der übrigen Bevölkerung zu vermengen: In ihrem Kloster mit seinen Werkstätten, Ställen, Büros und Küchen für die Empfänge des Kalifen leben nur die künftigen Kader der Bruderschaft, junge Männer, die barfuß gehen und einer argwöhnischen Frömmigkeit huldigen, was sich insbesondere in der Ausschließung der Frauen zeigt. Dieser harte Kern der Bruderschaft ist sehr diszipliniert, verfügt über bedeutende Mittel und steht in direktem Kontakt zum Kalifen. Sie organisieren vornehmlich den magal, die Pilgerfahrt, die jedes Jahr mehr als zwei Millionen Taliben in Tuba zusammenführt.

Fünf Kilometer von Tuba entfernt und immer mehr in sein städtisches Umfeld integriert, spielt M'Backe, die offizielle Stadt, die Rolle des Ventils. Dort gibt es „Campingplätze“ für die Touristen, Besucher oder auch Gläubigen, die dem Koran und seinen Gesetzen gegen das Trinken und Rauchen, gegen nichtreligiöse Musik und Kartenspiel zu entgehen versuchen. Der Kalif denkt nicht daran, an der Existenz dieses ungläubigen Orts vor den Toren der heiligen Stadt Anstoß zu nehmen. Er unterstützt eher dessen Entwicklung und macht dadurch deutlich, daß der Muridismus ursprünglich, wie alle Bruderschaften, mit Hilfe des Scheichs und Heiligen die lokalen Kulturen und den Islam miteinander verschmolzen hatte. Das war der Traum Amadou Bambas...

dt. Christiane Kayser

1 Es handelt sich nicht um eine Parallele zu Gandhis Gewaltlosigkeit, sondern eher um eine Legitimierungsstrategie: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers...“.

2 Der Generalkalif der Muriden ist notwendigerweise ein direkter Nachkomme Amadou Bambas.

* S.B. ist Soziologin, D.B. ist Dozentin an der Universität der Provence (Aix-Marseille-I)

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von S. Bava und D. Bleitrach