10.11.1995

Dezembersterne

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Dezembersterne

Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen am 17. Dezember 1995 gleicht die russische politische Landschaft einer Galaxie.

Das Sonnensystem, das Unser Haus Rußland bildet, wurde von Ministerpräsident Tschernomyrdin gegründet. Darin kreisen so widersprüchliche Trabanten wie die „Etatisten“ auf der einen und die Liberalen auf der anderen Seite; hierher gehören aber auch „Stars“ der Szene (der Regisseur Nikita Michalkow, Verraten und verkauft, Urga) und der Fahne (General Lew Roschlin, alter Afghanistan- und Tschetschenienkämpfer, der allerdings gegen den Krieg im Kaukasus war).

Der Nebel, den die linke Mitte bildet, besteht aus Parteien, die das Erbe der sowjetischen Tradition angetreten haben, sowie aus liberalen Gruppierungen, deren Gemeinsamkeit in einem sozialdemokratischen Diskurs besteht:

– der Block Iwan Rybkin, von dem Dumapräsidenten gegründet und nach ihm benannt, vertritt sozial verträglichere Reformen und eine protektionistische Haltung in Industrie und Landwirtschaft;

– der Block Gewerkschafter und Unternehmer Rußlands – Union der Arbeit ist eine Allianz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Schutz und Erhalt von Arbeitsgerät. Er besteht aus der Föderation der unabhängigen Gewerkschaften unter dem Vorsitz von Michail Schmakow und der Union der Industriellen und Privatunternehmer, an deren Spitze Arkadi Wolski steht;

– die Agrarpartei Michail Lapschins ist eine Partei der ehemaligen Kolchosdirektoren, die der liberalen Bodenrevolution ablehnend gegenüberstehen;

– die Partei der Frauen Rußlands ist aus dem früheren Komitee der sowjetischen Frauen hervorgegangen und setzt sich für das Recht der Frauen auf Arbeit und Führungspositionen ein;

– die Sozialdemokratische Union von Wassili Lipizki vertritt einen sozialen Liberalismus und ist verbündet mit der Sozialdemokratischen Partei, der Sozialdemokratischen Jugend und der Bewegung für die Reformen des früheren Moskauer Bürgermeisters Gawril Popow und des Marschalls Ewgeni Schaposchnikow;

– die Liste Panfilowa-Gurow-Lyssenko ist aus der demokratischen Bewegung um Jelzin hervorgegangen. Frau Panfilowa war unter Jegor Gaidar Ministerin für Soziales; die Republikanische Partei von Wladimir Lyssenko hat das Erbe der Demokratischen Plattform der KPdSU angetreten. Die Demokratische Plattform hatte 1990 Boris Jelzin gegen Michail Gorbatschow unterstützt;

– die Partei für die Arbeiterselbstverwaltung, an deren Spitze der Augenarzt Swjatoslaw Fjodorow steht, setzt sich für die Forderung der Arbeiter ein, daß die Betriebe nach der „Entstaatlichung“ an deren „Arbeitskollektive“ übergeben werden;

– die Bewegung Kedr (die Zeder), der der Schriftsteller Sergej Salygin angehört, kämpft für den Umweltschutz.

Die Sternschnuppen, die der liberaldemokratische Radikalismus bildet, teilen sich ein in immer heller strahlende und verblassende Sterne. Zu den ersteren gehören:

– Jabloko (der Apfel), von dem Wirtschaftsexperten Grigori Jawlinski aus der Taufe gehoben, der 1990 den „Plan der fünfhundert Tage“ vorgelegt hatte, heute hingegen den Ultraliberalismus vehement kritisiert. Ende Oktober hat die Wahlkommission dieser Bewegung die Zulassung verweigert, diese Entscheidung wurde jedoch vom Obersten Gerichtshof eine Woche später revidiert.

– Vorwärts Rußland wird von Boris Fjodorow angeführt, der unter Gaidar Finanzminister war und inzwischen der eher patriotisch geprägten liberalen Opposition angehört.

Die „authentischen“ Sternformationen der Demokratiebewegung hinter Boris Jelzin sind heute am Verlöschen:

– Demokratisches Rußland – Freie Gewerkschaften mit den früheren Dissidenten Gleb Jakunin und Lew Ponomarew sowie einem Teil der Gewerkschaften, die 1989–1990 die politischen Bergarbeiterstreiks angeführt haben. Ebenso wie Jabloko wurde diese Partei zunächst nicht zur Wahl zugelassen, doch wurde dieser Entscheid vom Gericht aufgehoben.

– Die Demokratische Wahl Rußlands – Vereinigte Demokraten von Jegor Gaidar, dem ehemaligen Ministerpräsidenten, steht heute vollkommen isoliert da.

Das Sternbild der Patrioten und Nationalisten umfaßt sehr unterschiedliche Gruppierungen. Es reicht von den postsowjetischen „Etatisten“ bis hin zu denen, die einzig der Wunsch nach Rache für erlittene Demütigungen einigt:

– der Kongreß der Russischen Gemeinschaften widersetzt sich jedem ethnischen Nationalismus; seine Galionsfiguren sind Juri Skokow und General Alexander Lebed, der „Held“ der Barrikaden vom August 1991, Verteidiger der russischsprachigen Bevölkerung Moldawiens. Wegen seiner Ablehnung des Tschetschenienkriegs ist der ehemalige Befehlshaber der 14. Armee in Ungnade gefallen. An ihrer Seite stehen Sergej Glasjows Demokratische Partei Rußlands und Ljudmila Wartasarowas Sozialistische Arbeiterpartei

– der Block Goworuchin, benannt nach dem bekannten Cineasten, dessen Dokumentarfilm „So kann man nicht leben“ (1990) bei der Wahl Boris Jelzins zum Präsidenten eine entscheidende Rolle gespielt hat;

– die Vaterlandspartei versteht sich als sozialdemokratische und patriotische Formation; wichtige Persönlichkeiten in dieser Partei sind der General Boris Gromow, Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Afghanistan und Gegner des Tschetschenienkriegs, sowie der liberale Wirtschaftsreformer Stanislaw Schatalin, der Berater sowohl von Gorbatschow als auch von Jelzin war;

– der Block Alle Macht dem Volke wird von dem ehemaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow angeführt und besteht auch aus der Nationalen russischen Volksunion des Hardliners Baburin und der Allrussischen Offiziersvereinigung des am Staatsstreich im August 1991 beteiligten Generals Warenikow;

– Großmacht Ruzkoi ist nach dem General benannt, der den Putsch im Oktober 1993 angeführt hatte – die Wahlkommission hat seine Liste zunächst abgelehnt, Anfang November wurde sie per Gerichtsbeschluß wieder zugelassen;

– Fürs Vaterland wird von Wladimir Polejanow angeführt, der seiner Zuständigkeit für Privatisierungen enthoben worden war, nachdem er den „Ausverkauf“ der russischen Unternehmen an ausländische Kapitalseigner angeprangert hatte;

– die Patriotische Union kann als Galionsfigur den prominenten Parlamentsabgeordneten und Ex-General des KGB, Alexander Stergilow, aufbieten;

– die Liberaldemokratische Partei Rußlands mit ihrem Chef Wladimir Schirinowski ist berühmt für ihren Willen, „die Stiefel des russischen Soldaten vom Indischen Ozean umspülen zu lassen“, und tritt für einen geordneten Markt ein. Schirinowski hat zwar nichts von seiner Eloquenz, wohl aber seine Aura als „Retter des Vaterlands“ eingebüßt...

Die roten Sterne des Kommunismus lassen mitunter die ideologischen Gehalte vermissen, die ihre Farbe nahelegt. Die wichtigsten Parteien, die den Kommunismus im Namen tragen, sind:

– die Kommunistische Partei der Russischen Föderation von Gennadi Sjuganow, die den Hauptbestandteil der Bewegung der Dershawniki (patriotische „Etatisten“) bildet.

– der Block Kommunisten – Arbeitendes Rußland – Für die UdSSR unterscheidet sich insofern von der vorhergehenden Gruppierung, als er sich auf Lenin, Stalin und die Oktoberrevolution beruft. Er verficht die „Rückkehr zum Sozialismus“, der aber gereinigt werden müsse von „der bürgerlichen Entartung“ der KPdSU, was ebenso die mit ihm konkurrierende Allrussische bolschewistische kommunistische Partei von Nina Andrejewa für sich in Anspruch nimmt;

– andere Kommunisten, nichtstalinistische, internationalistische oder linkssozialistische, treten in Gruppen oder auch einzeln zur Wahl an.

Die Regionalisten und andere zentrifugale Kräfte stellen die große Unbekannte der Wahl dar:

– die Umgestaltung Rußlands ist von Eduard Rossel in Jekaterinburg (Swerdlowsk), der Hauptstadt im Industriegebiet des Urals, gegründet worden. Rossel möchte eine Föderation von unterschiedlichen regionalen Kräften aufbauen, die in Opposition zur Zentralregierung stehen;

– die Union der russischen Muslime unter Vorsitz von Achmed Chalitow, einem einstigen Mitglied in Schirinowskis Partei; auf Platz eins der Liste steht der Präsident Inguschiens (Kaukasus), Ruslan Auschew. Diese Gruppierung versteht sich als laizistisch, hat aber die Verteidigung der Interessen von zwanzig Millionen Muslimen in der Russischen Föderation auf ihre Fahnen geschrieben.

J.-M. C.

dt. Eveline Passet

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von J.-M. C.