10.11.1995

Trügerische Ruhe in Souk-Ahrass

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Trügerische Ruhe in Souk-Ahrass

Von unserem

Sonderkorrespondenten

LYES SI ZOUBIR *

EINE Prozession zieht schweigend den Weg entlang, den jüngste Wolkenbrüche in einen Morast verwandelt haben. In wenigen Minuten, wenn das Totengebet gesprochen ist, wird man den Polizeibeamten Zoher M. der Erde übergeben. Zweiundzwanzig Jahre alt ist er im vergangenen Juni geworden. Wie ein grausamer Wink des Schicksals liegt sein Grab nur wenige Meter von dem eines ehemaligen Mitschülers und Arbeitskollegen entfernt. Ihn hatte eine Gruppe Bewaffneter einige Wochen zuvor in der Umgebung von El-Bayadh, mehrere hundert Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, getötet und dann enthauptet. Zoher hatte mehr „Glück“. Am Ortseingang von Oued El Alleg, einem Marktflecken der Region Mitidja, war er in einen Hinterhalt geraten. Doch sein von zahlreichen Kugeln durchsiebter Körper war anschließend nicht verstümmelt worden, so daß ihn seine Angehörigen ein letztes Mal sehen konnten.

„Bestimmt haben ihn die Leute von der Islamischen Heilsarmee (AIS) getötet. Wären es die von der GIA gewesen, hätte man ihn womöglich nie wieder gesehen. Es scheint, daß die Bärtigen noch brutaler vorgehen, wenn es sich um einen aus dem Osten handelt“, wagt ein Cousin des Toten zu sagen. Der Leichenzug hat angehalten, ein spärliches Häuflein Menschen steht da mit verkrampften Gesichtern. Tränen, Fassungslosigkeit, gelegentlich ein erstickter Aufschrei der Wut. Vielleicht sind Resignation und Fatalismus hier mehr als anderswo in der Lage, es mit der Verzweiflung aufzunehmen. Wie jeden Tag um 13 Uhr begräbt Souk-Ahrass seine Söhne auf dem Südfriedhof der Stadt, nahe der Straße nach Guelma.

„Die Region ist arm. Seit vielen Jahrzehnten ziehen die Jungen nach Algier oder Constantine, um Arbeit zu suchen. Sie haben im Grunde nur die Möglichkeit, zur Polizei zu gehen. Manchmal auch zur Armee, wie die Leute von Batna oder Tebessa, meistens aber zur Polizei“, erklärt ein örtlicher Beamter. In banger Erwartung des herannahenden Winters und der Präsidentschaftswahlen liegt die Stadt gleichsam in sich zusammengesunken da. Von der Gewalt, deren blutige Spur das Land durchzieht, hat man nur sehr wenig zu spüren bekommen. „Hier gibt es keine Ausgangssperre! Das beweist, daß alles friedlich ist. Nach den ersten Attentaten in der Region Constantine und Annaba sind die ehemaligen Mudschaheddin – in deren Uniform viele Kinder herumlaufen – zu den Islamisten an der Ecke gegangen und haben ihnen gedroht. Die Leute von der FIS wissen, daß ihre Familien dafür bezahlen werden, wenn auch nur ein einziger Mord geschieht. Im übrigen wären sie auch selbst betroffen, denn es gibt in Souk-Ahrass keine einzige Familie, die nicht einen Sohn bei der Polizei oder wenigstens beim Militär hat“, erzählt ein pensionierter Offizier.

Die Unsicherheit in der Stadt ist aus diesem Grund nicht annähernd verleichbar mit der in Algier. Dagegen weiß man in Souk-Ahrass vielleicht besser als überall sonst, was im Land vorgeht. Während ihres immer selteneren „Erholungsurlaubs“ – wie soll man auch eine Reise tun, wo überall Straßenblockaden aus dem Boden schießen – lassen sich die Offiziere, Inspektoren oder einfachen Mannschaften nicht lange bitten. Sie erzählen, was sie gesehen oder durchgemacht haben, und manchmal, wenn sie von den Umstehenden zu Vertraulichkeiten gedrängt werden, sagen sie auch, was sie selbst tun oder zu tun gezwungen sind in diesem schmutzigen Krieg.

„Zu töten fällt nicht schwer. Wenn du auch nur kurz zögerst, macht der andere dich fertig. Bessif (dir bleibt keine Wahl). Wenn du Skrupel hast, eine Wohnung zu verwüsten, weil ein anonymer Brief behauptet, Terroristen hätten dort die Nacht verbracht, brauchst du nur daran denken, was die von der GIA mit deinen Freunden oder irgendwelchen Zivilisten angestellt haben, die man zerstückelt in Mülltonnen wiederfindet. Die Zeit für Sentimentalitäten ist vorbei, und wer von Versöhnung spricht, ist naiv. Der Haß ist zu groß“, meint Abdennour, Untersuchungsbeamter in Mostaganem.

Die kurz bemessene Visite in Souk-Ahrass – ein gebietsfremder Journalist ist ein lästiger Besuch – vermittelt kaum einen Eindruck davon, wie hoch der Anteil von Männern aus dieser Stadt am algerischen Staatsapparat ist. Während die breiten, von Bäumen gesäumten Hauptstraßen noch einen ganz passablen Eindruck machen, stehen manche Viertel in den Außenbezirken (mit so ironischen Spitznamen wie Miami, Dallas oder Gaza) dem großstädtischen Dschungel Algiers oder Constantines in nichts nach. „Jeder in Algerien weiß sofort Bescheid, wenn von Souk- Ahrass die Rede ist, denn viele Generäle und Minister stammen von hier. Aber schauen Sie sich nur mal um! Auch wenn sich diese Leute möglicherweise eine goldene Nase verdient haben – ihre Stadt haben sie vergessen. Daß sie Algierer geworden sind, verzeiht ihnen Souk-Ahrass nie“, empört sich der Vater von Abdennour, dessen Augen dunkel werden bei dem Gedanken, daß sein Sohn in wenigen Tagen zu seiner Dienststelle zurückkehren wird.

Der traurigen Umgebung zum Trotz gibt es in Souk-Ahrass doch welche, die noch lachen können. Dahmane, dessen Vater früher ein Leitungsmitglied der FIS war, ist so einer. Mit einer großen Lagerhalle und einem Büro mit Faxgerät ist der ehemalige Bauleiter eines im Zuge der Strukturanpassung aufgelösten ortsansässigen Staatsbetriebes heute „Präsident“ einer Importgesellschaft. „Ersatzteile, Haushaltsgeräte, Nahrungsmittel – ich importiere und verkaufe alles“, erklärt er vergnügt. „Terrorismus? In Souk-Ahrass ist es friedlich, man braucht nicht einmal Schutzgeld an die GIA zu zahlen wie in Algier. Ich hätte mich auch in Constantine niederlassen können, wo es ebenfalls ruhig ist, weil dort die Söhne einiger Generäle ihre Import-Export-Läden aufgemacht haben.“

Auch die Nähe der tunesischen Grenze erleichtert den Kleinhandel. „In Tunesien kannst du alles verkaufen. Medikamente, Schafe, Zement. Die Zollbeamten legen dir keine Steine in den Weg, jedenfalls solange du nicht versuchst, Flugblätter und Tonbänder der Terroristen oder selbst Zeitschriften von hier über die Grenze zu schaffen“, fährt Dahmane fort. Auf Nachfrage geben zahlreiche in Souk-Ahrass ansässige Kleiderhändler zu, daß sie ihr Monatssaldo durch unerlaubte Importe aus der tunesischen Freihandelszone verbessern; lang und breit lassen sie sich über den willkürlichen Diensteifer der dortigen Sicherheitskräfte aus. Seit in der Region Kef mehrere versteckte Waffenlager entdeckt wurden, sind sie sogar offiziell befugt, bei Verfolgungen wenigstens dreißig Kilometer in algerisches Gebiet vorzustoßen. „Das ist einmal passiert. Eine Gruppe bewaffneter Islamisten hat versucht, nach Tunesien einzudringen, wurde aber entdeckt und mußte kehrtmachen. Die Tunesier verfolgten sie, und zwei Kilometer von Souk- Ahrass entfernt kam es zum Gefecht. Wir brauchten nicht einmal mehr eingreifen, denn die ganze Gruppe wurde vernichtet“, verrät halb bewundernd, halb verärgert ein örtlicher Polizeibeamter.

Der weiter im Norden gelegene Stahlkonzern El Hadjar, in dem zahlreiche aus Souk-Ahrass gebürtige Arbeiter beschäftigt sind, ist diskret von Sicherheitskräften durchsetzt worden. Zum einen sind sie für den Schutz der Anlagen zuständig, auf die schon mehrfach Sabotageversuche verübt wurden; zum anderen sollen sie soziale Unruhen im Keim ersticken, die unliebsame Konsequenzen haben könnten. Anfang Oktober 1995 hat der Leiter des Werks aus Erbitterung über die unflexible Haltung der Regierung den Betrieb für insolvent und demnach für unfähig erklärt, seine Schulden in Höhe von sieben Millionen Dollar zurückzuzahlen und die Löhne für einen Teil der sechzigtausend Arbeiter sicherzustellen. „Bei El Hadjar kann man hautnah erleben, was der IWF in diesem Land anzustellen gedenkt“, beklagt sich ein Funktionär der algerischen Arbeitergewerkschaft (UGTA). „Die Produktion ist rückläufig, weil der Konzern kein Geld für den Import von Ersatzteilen hat, während jede x-beliebige Privatfirma mit dem Geld aus der Umverteilung Betonplatten importieren kann.“

Dabei war der Standort auf Kosten des algerischen Staates und auf dringende Bitten der Weltbank von großen europäischen Wirtschaftsberatungsunternehmen unter die Lupe genommen worden, und nach Angaben eines Firmenangehörigen war seine Wettbewerbsfähigkeit als reell bewertet worden. „1993 haben wir mit dem Staat einen Leistungsvertrag unterzeichnet. Im Gegenzug zu einer finanziellen Sanierung haben wir uns zu einer Steigerung der Produktion verpflichtet. Die Anlagen müssen jedoch instand gehalten werden, aber die Banken weigern sich – unter dem Vorwand, unser Guthaben in Dinar sei zu gering –, uns Devisen zu bewilligen, während sie den Importeuren von Bananen oder Nougat keine Schwierigkeiten machen.“ Schlimmer noch: Das staatliche Unternehmen, zu dem El Hadjar gehört, zögert nicht, der eigenen Tochtergesellschaft Konkurrenz zu machen, indem es Stahl aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion importiert, weil man den schnellen Gewinn langfristigen Investitionen vorzieht. „Soll uns der Staat doch El Hadjar verkaufen; dann wird man schon sehen, wie die Produktion steigt“, schimpft der ehemalige Bauleiter, der dank dem IWF zum Geschäftsmann avanciert ist.

dt. Christian Hansen

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Lyes Si Zoubir