10.11.1995

Die Gerechtigkeit im Herzen tragen

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Die Gerechtigkeit im Herzen tragen

FRANKREICH, das wieder verstärkt in die Schußlinie des Terrorismus geraten ist, weiß sich von der Krise in Algerien in höchstem Maße mitbetroffen. Die Pariser Regierung, so nachdrücklich sie auch zu ihrer Politik der Nichteinmischung steht, tut sich doch schwer, eine Strategie zu entwickeln, die sowohl den eigenen Interessen als auch der notwendigen Demokratisierung im Süden des Mittelmeerraums und der auf den Beziehungen beider Länder lastenden Vergangenheit Rechnung trägt. Ob die jetzt anstehende Präsidentschaftswahl in Algerien zu einer Klärung der Lage beitragen wird, ist zweifelhaft.

Dem Kandidaten der Armee und gegenwärtigen Staatschef, Liamine Zeroual, dürfte es keine Schwierigkeiten bereiten, die Präsidentschaft zu erringen, deren erster Wahlgang für den 16. November angesetzt ist. Aber welche Glaubwürdigkeit will man einem Urnengang zugestehen, der keine politische Alternative bietet, der unter Bürgerkriegsbedingungen, bar jeder seriösen Kontrolle vonstatten geht und zudem von den führenden oppositionellen Kräften boykottiert wird? Die militärischen Machthaber werden vor der gleichen Wahl stehen wie zuvor: entweder auf repressive Maßnahmen zu setzen oder in einen nationalen Dialog einzutreten, der zu friedlichen Verhältnissen zurückführt und einer an ihren Zukunftsmöglichkeiten verzweifelnden Jugend eine Perspektive gibt.

Von MERIEM VERGÈS *

Oqba, ein auf Schiffsreparaturen spezialisierter Techniker, hat seinen Arbeitsplatz in einem staatlichen Unternehmen verloren. Als Arbeitsloser hält er sich dank der familiären Solidarität über Wasser, die sein berufliches Scheitern weniger dramatisch ausfallen läßt. Der schmächtige junge Mann wirkt apathisch: Schießereien, Mordanschläge, Aggressionen und Repressionen rufen bei ihm nur mehr eine aufgesetzt wirkende Gleichgültigkeit hervor. In paradoxem Widerspruch zu seiner lähmenden Niedergeschlagenheit stehen die fröhlichen Farben seines Hemdes Marke „New Man“. Dazu trägt er brandneue Jeans und italienische Mokassins aus feinem Wildleder. Oqba ist in der Zeit der „Infitah“, der wirtschaftlichen Öffnung des Landes, aufgewachsen und hat für die einheimischen Produkte nur Verachtung übrig. Die Modewaren westlicher Prägung von al-Dlala in der Kasbah von Algier sind teuer, verleihen aber einen jugendlich-modischen Chic und lassen die Bekleidungsartikel von Sonitex (der nationalen Textilgesellschaft) alt aussehen, die „ja eher der aus ägyptischen Fernsehsendungen bekannten Bauernkluft entsprechen“.

Oqba ist als drittes von vier Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen, im November 1967 in Algier zur Welt gekommen. Seine Eltern, die aus einem kabylischen Dorf stammen, sind Mbaldin (neu Hinzugezogene), die auf der Schwelle zwischen ländlicher und städtischer Sozialisation stehen. Ihre Entwurzelung und die Enge der Stadtwohnung haben traditionelle, auf die Ayala (Großfamilie) gegründete Strukturen untergraben. Die traditionelle religiöse Erziehung, die Oqba in der Kleinfamilie erhält, beschränkt sich auf die rituellen islamischen Praktiken. Seit seiner Kindheit verrichtet er seine Gebete und befolgt die Gebote im Fastenmonat Ramadan. An seine in Oran verheirateten Schwestern hat er keine Erinnerung. Sein jüngerer Bruder, der die Realschule des Viertels besucht, sei ein „Unruhgeist“. Von seinem Vater spricht Oqba kaum. Eine zu große Befangenheit herrsche zwischen ihnen. „Mein Vater respektiert mich zu sehr. Mir wäre lieber, er würde mich etwas härter anfassen oder mir Vorwürfe machen, wenn ich Scheiße baue“, gesteht er nicht ohne eine gewisse Enttäuschung. Seiner Mutter, die wie er ohne Arbeit ist, fühlt er sich näher.

Oqba wächst auf in Bab-el-Oued, jenem von Lärm und Menschen überbordenden Stadtviertel, das der algerische Film „Omar Gatlato“ von Merzak Allouach auf so bemerkenswerte Weise eingefangen hat. Bab-el-Oued bildet den europäischen Teil Algiers – bis zur Unabhängigkeit wohnten hier mehrheitlich in bescheideneren Verhältnissen lebende Europäer – und war Schauplatz der ersten Manifestationen vom Oktober 1988. So am Abend des 4. Oktober, als Gruppen von Jugendlichen und sogar Kindern Fahrzeuge und Schaufensterscheiben zerstörten. Heute zeugen die verwahrlosten Gebäude im Stile Haussmanns von den sich verschlechternden Lebensbedingungen.1 In den fast ausschließlich von Männern bevölkerten Straßenzügen „schwimmt jeder im eigenen Teich“ (kämpft jeder für sich allein). Der Egoismus, der sich in dieser jugendsprachlichen Wendung niederschlägt, zeigt, daß Algier zur Massengesellschaft neigt, ganz im Gegensatz etwa zur Megapole Kairo, die aufgrund ihres lebendigen sozialen Netzes dagegen wie ein Dorf erscheint.

Oqba hat seine ganze Schulzeit bis zum dritten Jahr der Oberstufe in diesem Viertel verbracht. Nostalgische Gefühle verbinden sich für ihn mit der Schule, gemischt mit Erinnerungen an eine Jugend, die ihm rückblickend und trotz des nichtbestandenen Abiturs als eine glückliche Zeit erscheint: „Es war grandios. Es gab was zu erleben, ganze Nächte verbrachte man in Diskotheken, Kabaretts und in Konzerten.“ Das war Anfang der achtziger Jahre: Nach einem Jahrzehnt politischer Mobilmachung unter Präsident Houari Boumediene war das Regime des wirtschaftlichen Reformismus mit seinem Programm der Effizienz und Härte unter dem Slogan der Nationalen Befreiungsfront (FLN) – „Für ein besseres Leben“ – angetreten. Die „Erfindung“ des algerischen Konsumenten fand unter anderem ihren Ausdruck in dem Programm zur Mängelbekämpfung (PAP), das den einheimischen Markt mit subventionierten Exportgütern überschwemmte.2

Zwischen Gaunertum und Langeweile

NACH dem Schlußstrich unter die entsagungsreichen Revolutionsjahre förderten die Behörden kulturelle Veranstaltungen in ungekanntem Ausmaß: Jugend ohne Grenzen, Algier – Drehscheibe der Weltkulturen, Gemeinschaftskultur und Kulturgemeinschaft, Festival für die Jugend.3 Bei diesen Gelegenheiten bekam man im Atlassaal (Bab-el-Oued) Tour Kunda zu sehen, im Complexe olympique du 5-Juillet die marokkanischen Gruppen Jil Jilala oder, anläßlich eines Polizeifestes, Funky Imagination. Oqba ist besonders der Auftritt von Reggae-Sänger Jimmy Cliff im Sommer 1984 im Stadion Zioui d'Hussein-Dey in Erinnerung geblieben. Der Eintritt kostete ganze 20 Dirham, und die Jugendlichen rauchten in Gegenwart der Sicherheitsbeamten und Ordnungskräfte Cannabis, „was das Zeug hielt“. In den Sommerferien schlug sich Oqba mit seinen Freunden die Nächte in den Nachtclubs um die Ohren, trank Alkohol, manchmal bis er betrunken war.

Das mit der Infitah-Politik und der Verbreitung von Parabolantennen eingeschleuste Modell westlichen Konsumverhaltens ließ sich auf folgende Formel bringen: „Eine Villa, eine Blondine und eine Honda dazu.“ Seit 1986 aber setzt sich in der Bevölkerung an Stelle der offiziellen Devise „für ein besseres Leben“ der Spottvers „für ein Leben anderswo“ durch [„pour une vie meilleure/une vie ailleurs“]. Im Zuge der Wirtschaftsreform, die keinen spürbaren Anstieg privater Investitionen mit sich brachte, wurde das Vertriebswesen für landwirtschaftliche Produkte freigegeben und damit eine Preisexplosion bei Fleisch, Gemüse und Früchten ausgelöst. Hauptleidtragender war das einfache Volk. Der drastische Verfall der Mineralölpreise, der Algerien um die Hälfte seiner Exporterträge gebracht hat, verbot die Fortsetzung einer Politik, die es sich noch leisten konnte, die mit der wirtschaftlichen Erneuerung einhergehenden sozialen Folgen zu mildern.

Weil den Jugendlichen gegenwärtig keinerlei Freizeitangebot mehr zur Verfügung steht, macht sich Langeweile breit. Die Zeit, da man mit Freunden ausgehen und sich amüsieren konnte, ist vorbei. Oqba wird das Gefühl nicht los, betrogen worden zu sein: „Chadli (der ehemalige Staatspräsident) nutzte die Abwechslungen, die er uns bot, um uns über den Tisch zu ziehen.“ Mit zwanzig Jahren hat er mehr und mehr das Gefühl „abzudriften“. Seit einem Jahr für eine dreijährige Berufsausbildung an der Höheren Seefahrtsschule eingeschrieben, fällt es Oqba schwer, regelmäßig seine Lehrveranstaltungen zu besuchen. Wichtiger ist der Cannabis, den man in der Gruppe raucht und der das Gefühl von Abenteuer und Ausbruch vermittelt. Der Konsum von Brennspiritus und kachiete, Tabletten4, wird für ihn dagegen zur „Falle“, die ihn in Kriminalität und blinde Gewalt verstrickt: „Ich trank, nahm Tabletten, rauchte, weil meine Empfindungen mir zur Qual wurden“, sagt er heute.

Oqba hat wieder angefangen zu beten, was er seit seiner Jugend nicht mehr getan hatte. Damit gelang es ihm, von den Tabletten loszukommen, nicht aber vom Cannabis. Das Erdbeben von Tipasa westlich von Algier am 29. Oktober 1989 war der Moment, in dem Oqba einen Strich unter seine Vergangenheit zog, „um der Falle zu entkommen“: „Das war ein Schock. Und weil ich den Frieden meiner Seele verloren hatte, konnte ich keinen Schlaf mehr finden... aus Angst zu sterben.“ Dieses Gefühl äußerster Hilflosigkeit ließ ihn zur „Demut vor Gott“ zurückfinden. Seitdem interessiert er sich für die geistigen Werte des Islam.

In dieser Phase geistiger Suche beginnt er auch an den halaqat (Übungsgruppen) in der Moschee teilzunehmen. Zahlreiche Imame predigen an allen Ecken und Enden der Hauptstadt. Ihren Höhepunkt findet die Bewegung in den sukzessiven Gründungen der Rabitat al-Da'wa (Liga der Verkündigung) im März 1989 und der Islamischen Heilsfront (FIS), die im September desselben Jahres als politische Partei anerkannt wird. Im Jàmi' (der Moschee) studiert Oqba die Grundlagen der islamischen Lehre und die Geschichte der arabisch-muslimischen Zivilisation. Seine Vorliebe gilt dem Prediger Abdel Malek aus dem Viertel Colonne: „Er vertrat eigentlich ein Erziehungsprogramm. Das war optimal, Politik war nicht im Spiel.“

Außer daß er die Gläubigen zu der Überwindung ihrer Leidenschaften und einem gottgefälligen Leben ermahnt, ist ein Imam als Sprachrohr und Botschafter einer bestimmten Schulrichtung verpflichtet. Bis Ende der achtziger Jahre hat es die islamische Predigerbewegung (da'wa) verstanden, mit der von ihr propagierten Gruppendisziplin die Unzulänglichkeiten der Infitah wettzumachen. So faßt Oqba zunehmend Fuß in einer Religion, die die Verpflichtungen und Regeln deutlich zu machen vermag, denen sich ein Mensch im „profanen“ Leben zu unterwerfen hat: „In der Begegnung mit Gott habe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden. Ende zwanzig und unverheiratet zu sein, ist ein Problem... Ich habe alles versucht, aber es gibt nichts Besseres als den Glauben.“ Dem Junggesellen wider Willen – an eine Heirat ist schon wegen der städtischen Wohnungsnot nicht zu denken5 – machen gewisse „natürliche Bedürfnisse“ schwer zu schaffen, die auch die rigorose Sexualmoral nicht zu ersticken vermag. Nicht nur Schuldgefühle empfindet er, wenn er sich über das Verbot hinwegsetzt, sondern auch Angst, „das Mädchen könnte schwanger werden“.

Mit seinem Diplom in der Tasche findet Oqba einen Job als Techniker für Schiffsreparaturen in einem staatlichen Unternehmen. Als ein Produkt der technokratischen Führungsmannschaft um Präsident Chadli und ihres Slogans „Der rechte Mann am rechten Ort“ hält er Intelligenz und Sachkompetenz für probate Mittel, zu beruflichem Erfolg und zur Selbstentfaltung zu gelangen. Zu verdanken ist der soziale Aufstieg in der Arbeitswelt einer guten Dosis Vitamin B und einer sehr ursprünglichen Form der Solidarität: „Die wenigen diplomierten Abgänger von berufsbildenden Schulen wurden an den Rand gedrängt. Nach dem Vorbild des politischen Systems hat man uns fertiggemacht... Wie dieser Saftladen, so ist Algerien.“ Oqba beklagt den schwindenden Stellenwert der Arbeit. Die Erfolge im Bereich der Informationswirtschaft haben dazu geführt, den Status des biznessi (businessman) zum Nachteil der Arbeiter im öffentlichen Dienst ungleich aufzuwerten. Offiziellen Beteuerungen zum Trotz ist der soziale Aufstieg nicht von der Kompetenz und Integrität des einzelnen abhängig, sondern von seiner Position in der Parallelorganisation. Das Regime des wirtschaftlichen Reformismus hat dem sozialen Aufstieg nach marktwirtschaftlichen Prinzipien Vorschub geleistet, ohne die dafür nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Im Gegensatz dazu wird die Ära Boumediene mit einer Zeit eiserner Disziplin in Verbindung gebracht. Oqba hält es für ein Verdienst des sozialistischen Regimes, Vorschriften, Verbote und Glaubensvorstellungen durchgesetzt zu haben, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen kann: „Es gab eine strengere Überwachung. Wir waren nicht sehr glücklich, aber als Algerier galt man damals noch etwas, vor allem im Ausland.“

Das Eingreifen des Predigers

BEGREIFT man die eigene Situation als Ungerechtigkeit, läßt sich eine Haltung mobilisieren, die zivilen Ungehorsam und Konfliktbereitschaft begünstigt. In dieser Hinsicht hat Ali Benhadj, einer der populärsten Führer der FIS, eine zentrale Rolle in Oqbas politischer Sozialisation gespielt: „Ich habe ihn in der al- Sunna, der Moschee meines Viertels, gehört. Seine Reden versetzten mich in einen derartigen Aufruhr der Gefühle, der Wut und des Zorns, daß ich einige Tage brauchte, um mich wieder zu beruhigen.“ Mittels solcher selbsternannter Imame6 haben die Moscheen eine entscheidende Rolle bei der Instruktion und internen Kommunikation der militanten Islamisten gespielt.

Die Kunst des Predigers besteht darin, den Finger auf die sozialen Probleme zu legen, sie im Lichte einer religiösen Begrifflichkeit darzustellen und sodann in eine politische Sprache zu übersetzen. Während er die ungerechten Bedingungen hervorhebt, unter denen das einfache Volk zu leiden hat, wettert Ali Benhadj im gleichen Atemzug über die Moral, „die lasterhafte Gesellschaft“, die Koeduktaion, die Verderbtheit der Sitten und über die den Mädchen zugestandene Freizügigkeit, auf die Familien und die Erziehung der Kinder. Er spricht die Sprache seiner Zuhörer, verbreitet sich in anschaulichen Bildern über jüngstvergangene Ereignisse und den Zustand der Welt, wobei er die Unzufriedenheit seiner Zuhörerschaft abwechselnd ironisiert und aufstachelt und sie damit in einer eingeschworenen „emotionalen Gemeinschaft“ bündelt. Sich nach einer solchen emotionalen Verausgabung wieder in den Griff zu bekommen, darin bestand für Oqba die ganze Schwierigkeit: „Die Leute kamen, um sich zu zerstreuen. Und Benhadj gab ihnen Gelegenheit genug, sich abzureagieren, indem er sie entweder zum Lachen brachte oder sie so provozierte, daß ihre Anspannung noch zunahm...“

Der FIS ist es nicht gelungen, eine Identität als Partei herauszubilden. Oqba hat von den Politikern den Eindruck, sie bildeten eine gegen die Sorgen und Nöte der „Bürger“ abgedichtete „korrupte Welt“, die eine politikasternde Politik bevorzugt, um in den Genuß der Errungenschaften der Moderne zu gelangen. Er unterscheidet zwischen Staat und Politik auf der einen, Gesellschaft auf der anderen Seite: „Der Staat, Chadli oder die FIS, sie alle sind für die gegenwärtige Situation verantwortlich. Abassi Madani ist nicht repräsentativ, und würde er das Land regieren, es wäre schlimmer als unter Chadli.“

Aus der Opposition heraus hat die FIS die Unzufriedenheit der jungen Leute in eine Richtung gelenkt, die dem Bemühen, eine Anpassung an die Belange der modernen Zeit ins Auge zu fassen, alles andere als förderlich ist: „Die Prediger vom Schlage eines Ali Benhadj formulierten ihre Lehren immer weniger zum Nutzen konstruktiver Kritik. Von einem Imam erwarte ich keine Kommentare zur politischen Situation des Landes, die mir schon so genug zu schaffen macht.“ Die Politisierung des Religiösen hat die integrative Kraft der Predigerbewegung (da'wa) stark beeinträchtigt. Oqba verhehlt nicht sein Mißtrauen gegenüber jeglicher Parteiorganisation; in seinen Augen geht die gewaltsame Spaltung des Landes in feindliche Lager auf das Konto der Parteien: „Die Politik hat die Gläubigen aufgehetzt, einen Algerier gegen den anderen aufgebracht.“

Diese Ernüchterung hat eine andere Form des Engagements begünstigt. Während er auf die Bewilligung eines Kredits aus dem Jugendbeschäftigungsprogramm 1989 wartet7, mit dessen Hilfe eine Kooperative für ein Fischereiboot gegründet werden soll, ist Oqba seit 1993 aktiv im Fischereiverband tätig. Als Folge des Gesetzes vom Juli 1987, das die Interventionsmöglichkeiten des Staates gegenüber Verbänden ausweitet, stellt die Entstehung solcher Gruppierungen auf lokaler Ebene eine echte Neuerung dar. Eine Vorbildfunktion im kulturellen und sozialen Bereich hatte hier der am 16. März 1993 zugelassene Verband Rassemblement action jeunesse (RAJ). Selbst wenn die Gesetzesverordnung „zur Terrorismusbekämpfung“ die Handhabe bietet, diejenigen Verbände aufzulösen, die der „gemeinsamen Sache mit der Subversion“ verdächtigt werden, ist in der Presse täglich von neuen Zulassungen zu lesen.

„Wir wollen den Fischereisektor ganz neu organisieren. Einige Verantwortliche der Behörden sind allerdings richtige Gauner. Sie verhandeln direkt mit den Schiffseignern, ohne sich um die Interessen der Seeleute zu scheren.“ Für Oqba verläuft die Begegnung mit der Politik über alle zuständigen Stellen, über die Behörden und deren Mittelsmänner, von denen sich die einen als „Feinde“ entpuppen, die bekämpft werden müssen, weil sie nur ihre eigenen Interessen im Auge haben, die anderen als „Partner“, die sich überzeugen lassen, ihre Entscheidungen zu ändern.

Die Aktion (nie ist von „politischer Aktivität“ die Rede) ist der Idee eines Gemeinschaftsprojekts verpflichtet, dessen Ziel es ist, eine auf Gerechtigkeit gegründete Zusammenarbeit einzelner Individuen zu organisieren: „Frankreich ist ein Land, das nach Gesetzen regiert wird, die der Sorge um die soziale Gerechtigkeit verpflichtet sind. Für uns Muslime bestünde die Lösung in einer Kombination von Glaube und Gesetz... Ein islamischer Staat – das bedeutet, die Gerechtigkeit im Herzen tragen.“ Die Legitimität des Kampfes beruht auf dem „Sachverstand“ und der „Strenge“ vieler vereinzelter junger Leute. „Es sind die unbescholtenen und sachverständigen jungen Menschen, die den Wandel herbeiführen werden.“ Jung zu sein ist nicht mehr nur ein Schicksal; es wird zu dem Entschluß, sein Leben ändern und selbst in Hand nehmen zu wollen.

dt. Christian Hansen

1 Schulausschluß und Arbeitslosigkeit treiben viele Jugendliche auf die Straße. Während die Grundschulen noch von nahezu allen Kinder im schulpflichtigen Alter besucht werden, sind es bei den Hauptschulen nur mehr 50Prozent der entsprechenden Altersklasse, bei den Gymnasien 20Prozent der Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen, und lediglich 6Prozent der Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen gelangen an die Universität. Zudem hat eine vom Amt für Statistik erstellte Untersuchung erbracht, daß 41,8Prozent der Arbeitslosen zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren, 30,1Prozent zwischen zwanzig und vierundzwanzig Jahren alt sind.

2 So konnten die Haushalte, trotz erster Auswirkungen der Wirtschaftskrise, ihre Kaufkraft halten und bis 1986 gar noch vergrößern. Zudem hat sich der Umfang staatlicher Ausgaben für Gesundheit, Erziehung, Ausbildung und die Preisbindung für Grundnahrungsmittel zwischen 1980 und 1983 verdoppelt und sind die ersten fünf Lohnstufen der arbeitsrechtlich fixierten Besoldungsgruppen um mehr als 10Prozent angestiegen.

3 Im Rahmen der Aktion „Jugend 2000“ hatten ihrerseits das Jugendministerium und die wilaya (Regierungsbezirk) von Algier für die Ausstattung der Jugendzentren der Hauptstadt elektronisches Spielzeug, Tischfußball und Kleincomputer importiert.

4 Kachiete (Tabletten) oder kfali sind allgemeine Bezeichnungen für gewisse Medikamente: Tranquilizer (Valium, Tranxène, Temesta), Anti-Epileptika (Gardenal) und Anti-Parkinson-Tabletten (Artane).

5 Gegen Ablauf des II. Vierjahresplans, im Jahr 1987, wurde der Mangel an Wohnungen auf über 2 Millionen geschätzt. Übrigens hat man bei 83Prozent der Bevölkerung eine Belegungsrate von durchschnittlich sieben bis acht Personen für Ein- bis Dreizimmerwohnungen ermittelt, wobei zwei Drittel dieser Wohnungen nur ein bis zwei Zimmer haben. Vgl. Pierre-Robert Baduel, „L'Écrasant problème du logement urbain“, in: Camille et Yves Lacoste (Hg.), „L'État du Maghreb“, Paris (La Découverte) 1991.

6 Es handelt sich um Prediger, die nicht von offiziellen Stellen ernannt wurden und die, um sich staatlicher Kontrolle zu entziehen, auf in Bau oder Reparatur befindliche Moscheen ausweichen.

7 Im Rahmen einer Regierungsinitiative zugunsten der Beschäftigungssituation junger Leute ist vorgesehen, ihnen Beihilfen zur Gründung von Kooperativen und Unternehmen zu gewähren. Informationstexte wurden verbreitet, um die Einstellung junger Leute in der Privatwirtschaft voranzutreiben, und es wurde ein nationaler Hilfsfonds zur Beschäftigungsförderung für sie eingerichtet.

* Forscher, hat einen der Hauptbeiträge zum Werk „Political Islam“ geleistet, das Joel Benin und Joe Stork herausgeben und das 1996 erscheinen wird (University of California Press).

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Meriem Verges