10.11.1995

Freihandelszone Mittelmeer?

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Freihandelszone Mittelmeer?

AM 27. und 28. November treffen in Barcelona führende Politiker der fünfzehn EU-Mitgliedsländer und zwölf weitere Mittelmeeranrainerstaaten zusammen. Ein symbolträchtiges Ereignis, aus dem man schließen könnte, daß in der Europäischen Gemeinschaft eine Rückbesinnung auf die politische Bedeutung dieser Region für die eigene Zukunft stattfindet. Bisher hatte dort stets Washington die führende Rolle übernommen, etwa bei den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern und sogar bei der Beilegung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. Mangels Verständigung über eine gemeinsame Außenpolitik fällt den EU-Staaten in ihren Entwürfen für ein zukünftiges Engagement am Mittelmeer nicht viel ein. Einziges Novum ist der Vorschlag, eine Freihandelszone für den gesamten Mittelmeerraum zu schaffen. Angesichts der krisenhaften und instabilen Situation in den meisten Anliegerstaaten am südlichen und östlichen Mittelmeer (vgl. die Berichte über den Libanon, Seiten 8 und 9, und Algerien, Seiten 10 und 11) erscheint es allerdings fraglich, ob eine europäische Politik, die sich auf Wirtschaftsmaßnahmen beschränkt, zur inneren Stabilität der Region beitragen kann. Was fehlt, sind Konzepte und Strategien für die armen Völker an der Schwelle Europas.

Von GÉRARD KÉBABDJIAN *

Inwieweit besteht der gemeinsame Wille, im Mittelmeerraum eine Solidargemeinschaft zu begründen? Auf die Klärung dieser Frage zielt die Initiative der Europäischen Gemeinschaft, am 27. und 28. November in Barcelona eine große europäische Mittelmeerkonferenz zu veranstalten. In dem vorbereitenden Dokument wird hervorgehoben, daß die politischen Bemühungen zur Schaffung einer „Zone von Frieden, Stabilität und Sicherheit im Mittelmeerraum“ unauflöslich mit der Förderung von Wirtschaftswachstum und einer besseren Verteilung der Entwicklung in dieser Region verbunden sind. Ist Europa tatsächlich in der Lage, die Herausforderung anzunehmen, die daraus resultiert?

Die Richtung, die die Union auf den Tagungen des Europarats in Lissabon (im Juni 1992), in Korfu (im Juni 1994) und in Essen (im Dezember 1994) vorgab, war recht vielversprechend. Alle Dokumente der Kommission unterstrichen die Notwendigkeit, die „Intensivierung der Mittelmeerpolitik“ der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit neuer Kraft fortzuführen. Ziel soll die „Schaffung eines euromediterranen Raums bis zum Jahre 2010“ sein. Europa schlägt damit vor, mit den Ländern des Mittelmeerbeckens eine Struktur dauerhafter Beziehungen in einem sogenannten „partnerschaftlichen“ Geist festzuschreiben. In einer Art von symbolischem Akt soll Ende November die Konferenz von Barcelona diese neue Allianz besiegeln.

Es ist in der Tat ein Novum, wenn sich die fünfzehn Länder der Union und die eingeladenen zwölf Partner1 um den Entwurf einer gemeinsamen Strategie bemühen, die dem Handeln der Europäischen Union geopolitische Kohärenz verleihen soll. Die Ankündigung hat in den Nichtmitgliedsländern große Hoffnungen geweckt, denn damit ist, zum ersten Mal seit dem Ende der achtziger Jahre, die Absicht bekundet worden, am Mittelmeer einen starken Wirtschaftsraum zu schaffen und die regionale Erweiterung Europas, die sich bisher auf das osteuropäische Festland konzentrierte, besser auszubalancieren.

Als der konkrete Inhalt der Entwürfe bekannt wurde und vor allem als der finanzielle Rahmen nachträglich enger gezogen wurde, warf dies jedoch neue Fragen auf. Europa schlägt durchaus sinnvolle Programme der Kooperation in verschiedenen Sektoren vor, mehr finanzielle Absprachen und ein einziges wirkliches Novum: die Schaffung einer großen Freihandelszone, die den gesamten Mittelmeerraum umfassen soll. Angebote dieser Art machen aber im Grunde nur deutlich, daß es für die armen Völker an der Schwelle Europas keine europäische Strategie und keine Konzepte gibt. Angesichts der großen Bedürftigkeit vieler Anrainerstaaten scheint es fraglich, ob das Prinzip des Freihandels die Zauberformel sein kann, die der krisenbeladenen Mittelmeerregion Entwicklung und der Stabilität beschert.

Vorteilhafte Abkommen in den siebziger Jahren

IN den siebziger Jahren erkannte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft die Notwendigkeit, eine „umfassende Mittelmeerpolitik“ hinsichtlich der Drittländer am Mittelmeer zu formulieren. 1976 wurden daher Abkommen über eine erweiterte Zusammenarbeit mit den Ländern des Maghreb und nachfolgend auch mit einigen Nahoststaaten sowie mit Jugoslawien, der Türkei, Malta und Zypern abgeschlossen. Damit waren die Grundlagen geschaffen für eine ganze Reihe von Handelserleichterungen: in einer bewußt einseitigen Importregelung gewährte man diesen Ländern praktisch freien Zugang zum europäischen Markt, auf europäische Ausfuhren wurden – häufig hohe – Schutzzölle erhoben. Außerdem erhielten sie Finanzhilfen, die nicht zurückgezahlt werden mußten, die Europäische Investitionsbank gewährte Kredite zu Vorzugsbedingungen, und zudem wurden Programme technischer und kultureller Zusammenarbeit gestartet.

Man muß diese Abkommen, die den Drittländern im Mittelmeerraum außergewöhnlich vorteilhafte Bedingungen einräumten, aus dem politischen Klima jener Jahre erklären, das geprägt war von einem gewissen Schuldgefühl gegenüber den Ländern, die Opfer der europäischen (vor allem der französischen) Kolonisierung gewesen waren. Aber auch die steigenden Erdölpreise spielten eine Rolle, die entwickelten Länder glaubten, durch die Gewährung von Handelsvorteilen und finanziellen Vergünstigungen in diesen Ländern eine eigenständige Entwicklung in Gang setzen zu können. Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Grund lag darin, daß die Exporte der Drittländer im Mittelmeerraum keine Konkurrenz für die Erzeugnisse der neun Mitgliedsländer der damaligen Union darstellten.

Drei Ereignisse haben diese Situation grundlegend verändert. Da war zunächst der Beitritt Griechenlands (1981), Portugals und Spaniens (1986) zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Alle drei Länder weisen (besonders im landwirtschaftlichen Bereich) ähnliche Spezialisierungen auf und sind direkte Konkurrenten der Drittländer im Mittelmeerraum. So wurde 1988 ein Zusatzprotokoll unterzeichnet, das unter Berücksichtigung dieser Erweiterung der Gemeinschaft die Einfuhr von Agrarerzeugnissen neuen Einschränkungen unterwarf.

Weiterhin veränderte sich der geopolitische Kontext: Entwicklungskrisen an der gesamten Südküste des Mittelmeers sowie rapide soziale und politische Destabilisierungen, wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Wachstumskrise an der Nordküste, zunehmendes Desinteresse des Nordens an den Fragen von Entwicklung und Zusammenarbeit, der Zusammenbruch des Sowjetreiches sowie die Verlagerung der europäischen Interessen hin zum Nordosten, verbunden mit der Abdrängung des romanischen Sprachraums an den Rand Europas. Und schließlich hat der Abschluß der Uruguay-Runde im Rahmen der Welthandelsgespräche 1993 dazu geführt, daß die europäischen Sondertarife und -kontingente hinfällig wurden, die die Einfuhren aus den Drittländern im Mittelmeerraum begünstigt hatten.

Das europäische Vorgehen in dieser neuen Situation läßt jede globale Orientierung vermissen, was auch daran liegen mag, daß die kurz- und mittelfristigen Interessen der Mitgliedsländer voneinander abweichen. Deutschland hat die Chance zur regionalen Expansion schnell ergriffen, die mit der Eingliederung der ehemaligen DDR und dem Übergang zur Marktwirtschaft in den ehemals kommunistischen Ländern verbunden war – einem Gebiet mit einem ungleich höheren Wachstumspotential als in den Ländern am Mittelmeer. Zwar erkennt man allmählich die Notwendigkeit, ganz Europa und nicht nur die eigenen Nachbarländer in den Blick zu nehmen, doch mit den umfangreichen und risikobehafteten Investitionen, die erforderlich wären, um tatsächlich eine euromediterrane Wirtschaftsregion zu schaffen, läßt man sich Zeit. Statt dessen ist man bereit, die Grenzen für die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu öffnen, da es im Nordosten Europas keine gleichartigen Produkte gibt.

Die Länder des romanischen Sprachraum sind dagegen aus mehr oder weniger guten Gründen (darunter die recht naive Vorstellung, die Zuwanderungsströme durch wirtschaftliches Wachstum stabilisieren zu können) zu finanziellen Anstrengungen bereit. Allerdings halten sie, insbesondere Spanien, hartnäckig am Schutz ihrer Landwirtschaft fest. Die Folge ist, daß eine Europapolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners formuliert wurde. Angesichts des vorhandenen Bedarfs muß das Finanzvolumen als sehr dürftig gelten, und Agrarprodukte sind von den geplanten Verhandlungen ausgeschlossen. Im Unterschied zu den Haltungen gegenüber Mittel- und Osteuropa muß der Wille zu einem gemeinsamen Handeln für das Mittelmeer erst noch geweckt werden.2

Für die benachteiligten Länder an der Mittelmeerküste geht eine Epoche zu Ende, in der Vorteile im internationalen Austausch errungen wurden. Die politischen Strategien, die für eine eigenständige Entwicklung entworfen wurden, sind gescheitert. Der Zwang zur Öffnung und damit zur Wettbewerbsfähigkeit, der durch die Globalisierung entstanden ist, macht sich bemerkbar. Diese neue Situation ist um so besorgniserregender, als die Bilanz des zurückliegenden Zeitraums trotz aller Unterstützungen und trotz des Systems von Vorzugsbedingungen im internationalen Handel für die Länder des Südens besonders enttäuschend ausfällt: die Wachstumsraten blieben niedrig, die Handelsbilanzen, besonders gegenüber dem wichtigsten Handelspartner Europa, verharren im Defizit, und die Marktanteile sind aufgrund der Zuwächse, die die neuen „aufstrebenden“ Länder in Asien verbuchen, im Sinken begriffen.

Mangelnde Größe und Zersplitterung

DER geplante wirtschaftliche (Pseudo-)Dialog wird genaugenommen nicht zwischen Partnern geführt. Da sind zunächst die Größenverhältnisse. Das wirtschaftliche Gewicht der außereuropäischen Länder im Mittelmeerraum kann man ablesen an ihrer Produktionsleistung von 380 Milliarden Dollar im Jahre 1993; das waren etwa 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Europäischen Union. Hinzu kommt die Zersplitterung dieser Region. So ist es trügerisch, von den Drittländern im Mittelmeerraum zu sprechen, als handle es sich um ein homogenes politisches Gebilde.

Tatsächlich ist die Situation von scharfen Gegensätzen bestimmt: zwischen kleinen und großen Ländern, zwischen den mäßig armen, den sehr armen und den mäßig reichen Staaten, zwischen Ländern, die über natürliche Ressourcen, etwa Erdöl, verfügen, und jenen, die keine Bodenschätze besitzen, zwischen Nationen, die einen Agrarsektor entwickeln könnten, und jenen, die dazu nicht in der Lage sind, zwischen Staaten, in denen die Ausbildung der Arbeitskräfte zufriedenstellend, und anderen, in denen sie katastrophal ist, zwischen den Ländern, die eine gute Infrastruktur haben, und den anderen etc. Eine Gemeinsamkeit liegt bestenfalls darin, daß der produktive Sektor weithin auf die gleichen Exportbereiche spezialisiert ist, was nichts anderes als Konkurrenzkämpfe im Wirtschaftsbereich nach sich zieht.

So sind eigentlich nur zwei Länder in der Lage, auf kurze Sicht eine Schrittmacherrolle zu spielen, nämlich die Türkei und Israel, die zusammen rund 50 Prozent des außereuropäischen Produktionsaufkommens am Mittelmeerrand bestreiten. Einem stärkeren Zusammenschluß der Länder des Südens, der schließlich einen entscheidenden Aspekt der „Mittelmeerfrage“ darstellt, stehen die heterogenen sozioökonomischen Bedingungen, verbunden mit konkurrierenden Wirtschaftszweigen, als mächtige Hindernisse entgegen. Solange dieser Zusammenschluß keine Fortschritte macht, ist aber jede Hoffnung auf eine gemeinsame Entwicklung in dieser Region vergebens. Ein Grund mehr, wirtschaftspolitische Standardlösungen zu vermeiden – etwas anderes hat die Europäische Union aber leider nicht zu bieten.

Im wirtschaftlichen Bereich ist der einzige Punkt auf der Tagesordnung der Konferenz von Barcelona, der eine Neuerung bedeutet, die Schaffung einer Freihandelszone im Mittelmeerraum. Mit diesem Schritt wird die Politik der Zusammenarbeit in Europa einer grundlegenden Änderung unterzogen, denn die Handelsbeziehungen sind auf diese Weise viel direkter den Zwängen des Marktes unterworfen, der auf die Tendenzen in der Weltwirtschaft reagiert. Da landwirtschaftliche Produkte von den Verhandlungen ausgenommen bleiben, können die Drittländer im Mittelmeerraum hier keinerlei Erhöhung ihrer Marktanteile erhoffen. Zugleich dürfte mit der Schaffung einer Freihandelszone für die Produkte der herstellenden Industrie das System der Vorzugsbedingungen für diese Länder abgeschafft werden. Damit werden sich neue Märkte für europäische Exporte öffnen, ohne daß die betroffenen Drittländer einen Ausgleich erhalten.

Die Verfechter der Freihandelsformel führen an, daß durch den Wegfall der Zölle die Preise für Importgüter sinken werden, sowohl bei Produkten für die Weiterverarbeitung im Inland wie bei Konsumgütern. Auf diese Weise sollen die Preise konkurrenzfähiger werden, und es entstünden neue Produktionsanreize. Zudem dürfte die schärfere ausländische Konkurrenz die Produktivität im Inland steigen lassen, da subventionierte Wirtschaftsaktivitäten beseitigt würden; damit entfiele eine Belastung für die Volkswirtschaft. Dies alles käme in erster Linie dem Exportsektor zugute. In makroökonometrischen Simulationsmodellen zeigen sich allerdings negative Auswirkungen, die schwerer wiegen als die positiven Effekte.3

Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn der Kapitalzustrom aus Europa und den außereuropäischen Ländern nicht erheblich zunimmt und wenn die Regierungen der Drittländer im Mittelmeerraum versuchen sollten, den volkswirtschaftlichen Schock des plötzlichen Eintritts in freie Handelsbeziehungen mit Europa durch Rückzugsstrategien zu dämpfen. Wenn die Liberalisierung des Außenhandels nicht von politischen Maßnahmen flankiert wird und die Union keine wirksame Unterstützung bietet, dann könnte der freie Handel zur Folge haben, daß die Maßnahmen zur Förderung konkurrenzfähiger nationaler Angebote auf Dauer blockiert werden.

Die Schaffung einer Freihandelszone zwischen Ländern mit ungleichem Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung macht nur dann einen Sinn, wenn sie von politischen Förderungsmaßnahmen begleitet wird. Dazu gehören massive Interventionen seitens der öffentlichen Hand und Unterstützung durch die fortschrittlicheren Länder. Die Mitglieder der Europäischen Union wären gut beraten, nicht nachträglich einer überholten Philosophie anzuhängen, die blindlings den Kräften des Marktes vertraut.

dt. Erika Mursa

1 Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, palästinensische Autonomiegebiete, Israel, Jordanien, Libanon, Syrien, Türkei, Zypern, Malta. Mauretanien ist als Beobachter eingeladen. Libyen nimmt nicht teil, was offiziell damit begründet wird, daß kein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft besteht.

2 Dies war Thema eines Kolloquiums, das im September vom Institut du monde arabe veranstaltet wurde. Die Ergebnisse sind in einem Band zusammengefaßt, der Mitte November unter folgendem Titel erscheint: „Euro-méditerranée, une région à construire“, herausgegeben von Robert Bistolfi, Éditions Publisud, Paris 1995, 360 S., 178 F.

3 Gérard Kébabdjian, „Le libre-échange euro- maghrébin: une évaluation macro-économique“, Revue Tiers-Monde, Nr. 144, Oktober/Dezember 1995.

* Professor für Volkswirtschaft an der Universität Paris VIII, Autor von „L'Économie mondiale, enjeux nouveaux, nouvelles théories“, Le Seuil, Paris, 1994.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Gerard Kebabdjian