10.11.1995

Vanuatu – Archipel zwischen zwei Welten

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Vanuatu – Archipel zwischen zwei Welten

WIRKEN sich die jüngsten französischen Atomversuche auf Vanuatu aus? Das ehemalige französisch-britische Kondominium hat durch das relativ gute Verhältnis zwischen Frankreich und Australien eine gewisse Stabilität erlangt. Umgekehrt könnte die melanesische Inselgruppe, auf der am 30. November gewählt wird, unter der Verschlechterung dieses Verhältnisses zu leiden haben.

Von GAÄL LE DANTEC *

Zwischen zwei Parlamentssitzungen oder politischen Verhandlungen zur Vorbereitung der Wahlen im November verbringt Erziehungsminister Romain Batick gern einige Tage in seinem Heimatdorf Lamap auf der Insel Mallicolo. Bei Sonnenuntergang trifft er sich mit den Männern des Dorfes in einer offenen Hütte, um mit ihnen Kawa zu trinken. Früher wurde dieses berauschende Getränk aus der Wurzel des Pfefferstrauches nur bei rituellen Zeremonien getrunken. Wie alle anderen kippt er sein Kawa, das in einer halben Kokosnuß serviert wird, in einem Zug hinunter, spuckt auf den Boden und unterhält sich leise mit den anderen, bis ihn die Müdigkeit überfällt. Romain Batick gehört der Union der gemäßigten Parteien (UPM) an. Sie führt die Koalitionsregierung, hat aber mit Abspaltungen zu kämpfen, die ihre Chancen vermindern, am 30. November wieder als stärkste Partei aus den Parlamentswahlen hervorzugehen.

Als die Koalitionsregierung 1991 gebildet wurde, hätte kein Beobachter viel auf ihren Erfolg gegeben. Aber wider Erwarten hat Premierminister Maxime Carlot Korman alle Krisen gemeistert, auch den monatelangen Beamtenstreik 1993, der mit der Entlassung von vierhundert Personen endete. Seiner Meinung nach sollte die Streikbewegung, die „von gewissen ausländischen Vertretungen unterstützt wurde“1, seine Regierung destabilisieren. „Denn“, fährt er fort, „einige Auswanderer und ihre Verbündeten fechten bei uns immer noch den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England aus.“ In dem Maße, wie Großbritannien sich aus der Pazifikregion zurückzieht, hat Australien die Entwicklungshilfe für seine melanesischen Nachbarn übernommen. Frankreich hingegen – neben den Vereinigten Staaten das letzte Land, das noch Gebiete in dieser Region besitzt2 – „hat Interessen im Südpazifik, solange es dort noch französische Gebiete gibt“, erklärt Jean Mazéo, der französische Botschafter in Port-Vila. Zwar stellt Australien die französische Präsenz nicht in Frage, doch gefährdet die Wiederaufnahme der Atomversuche „die Fortschritte, die seit Ende der achtziger Jahre auf dem Gebiet der französisch-australischen Zusammenarbeit erzielt worden sind“, erläutert Peter Shannon, der australische Hochkommissar in Port-Vila. Die Regierung von Vanuatu aber reagiert verhalten auf die antifranzösische Stimmung. „Unser Land mißbilligt die Entwicklung und Verbreitung von Atomwaffen“, heißt es in einem Kommuniqué des Premierministers, aber „die Entscheidung des französischen Präsidenten ist die eines souveränen Staatsoberhauptes.“ Auch glaube man nicht, „daß die neue, zeitlich und umfänglich begrenzte Versuchsreihe Umweltschäden in der Pazifikregion verursachen könne. Die Tests rechtfertigen also die Einmischung anderer Pazifikstaaten in polynesische Angelegenheiten nicht.“ Dies hinderte Vanuatu nicht, im August 1995 bei einem Treffen mit den Nachbarstaaten Neukaledonien, Papua-Neuguinea, Republik Fidschi und Salomoninseln einen später gebilligten Antrag vorzulegen, in dem Frankreich für die ökologischen Folgen der Versuche verantwortlich gemacht wird.

In den siebziger Jahren gehörten die meisten Angehörigen der französischsprachigen Elite, die von katholischen Missionaren ausgebildet worden waren, der Union der gemäßigten Parteien an. „Wir wollten, daß die beiden Kolonialmächte unser Land weiter modernisieren und die Unabhängigkeit für das Ende der achtziger Jahre sorgfältig vorbereiten. Unter dem Einfluß der Australier wollte die anglophone Vanuaaku Pati die Unabhängigkeit sofort“, erinnert sich Romain Batick. Dieser gelang es, an die Macht zu kommen, und am 30. Juli 1980 wurde die Unabhängigkeit erklärt.3 Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit und macht Englisch, Französisch und Bichelamar4 zu den offiziellen Sprachen des Landes. Aber sie kann die neuen Machthaber nicht daran hindern, den frankophonen Bevölkerungsteil seine zögerliche Haltung gegenüber der Unabhängigkeit teuer bezahlen zu lassen. Auf den Inseln Santo und Tanna, wo die separatistischen Bewegungen von den französischen Siedlern unterstützt wurden, kam es zu brutalen Strafaktionen: In Lamap, das in einem stark französisch geprägten Gebiet liegt, wurden alle Männer verhaftet. Dieses drittgrößte französische Verwaltungszentrum der Inselgruppe verwandelte sich im Verlauf der elfjährigen Regierungszeit von Reverend Walter Lini in eine Geisterstadt. Im Februar 1981 wird der erste französische Botschafter des Landes verwiesen, nachdem die Behörden in Neukaledonien einem Funktionär der Vanuaaku Pati, der an einer Versammlung der Sozialistischen Befreiungsfront der Kanaken (FLNKS) teilnehmen wollte, ein Visum verweigert hatten. 1987 wurde der zweite französische Botschafter ausgewiesen: Ihm warf man vor, er habe die Union der gemäßigten Parteien finanziell unterstützt. Trotzdem erhielt Vanuatu von Frankreich auch weiterhin Beihilfen in beträchtlichem Umfang. Die Regierungszeit von Walter Lini endete im Chaos. Die Zersplitterung seiner Partei ermöglichte es den Frankophonen, unter denen größere Einigkeit herrschte, 1991 die Wahlen zu gewinnen, zumal sie versprochen hatten, daß es weder Vergeltung noch Hexenjagden geben würde. Da sie aber die absolute Mehrheit verfehlt hatten, mußte sich ihre UPM mit Walter Lini, dem Feind von gestern, und seiner neuen Partei, der National United Party (NUP), verbünden. Die so entstandene Koalitionsregierung sollte beiden Lagern gerecht werden.5 Die Frankophonen durften endlich aufatmen, und auch Frankreich konnte sich offener engagieren. 1992 erschien ein neuer Botschafter in Port-Vila, und Frankreich bot Vanuatu den Aufbau eines Fernsehnetzes an. Die verstärkte französische Präsenz und die von der Regierung Korman eingeleiteten Ausgleichsmaßnahmen zugunsten der frankophonen Bevölkerung werden von der Opposition bis dato anscheinend gutgeheißen. Aber die Wiederaufnahme der Atomversuche hat diejenigen bestätigt, die Frankreich für ein wenig zu arrogant halten. Frankreich überweist Vanuatu jedes Jahr 40 Millionen Francs – die pro Kopf umfangreichste französische Auslandshilfe überhaupt. Aber Australien überweist noch ein wenig mehr. Wenn man die britischen, neuseeländischen und japanischen Zahlungen addiert, werden 30 Prozent des Staatshaushaltes mit ausländischen Geldern bestritten. Aufgrund des beträchtlichen Umfangs dieser Mittel kann das Land eine ausgeglichene Zahlungsbilanz vorweisen. Aus seiner Kolonialvergangenheit hat das Land gleich zwei Einnahmequellen geerbt, was ihm eine gewisse Unabhängigkeit sichert.

Weitere Pluspunkte für das Land sind seine Natur und seine Traditionen. Wenn man von der Hauptstadt und von Luganville absieht, gibt es auf der ganzen Inselgruppe nur traditionelle Dörfer, wo jede Familie einen eigenen Garten hat. In diesen Gärten gibt es Bananen, Pampelmusen, Ananas und Yamswurzeln im Überfluß. Daneben produzieren die meisten Familien noch Kopra, Kakao, Kaffee und treiben ein wenig Viehzucht, um Kleidung, Töpfe, Batterien für das Radio und Petroleum für die Lampen kaufen sowie per Flugzeug Nahrungsmittel an die Verwandtschaft in der Hauptstadt schicken zu können. Denn obwohl nirgends in Vanuatu Not herrscht, ist in den Slums um die Hauptstadt die Armut auf dem Vormarsch.

Wie überall zieht auch hier die „Metropole“ die Bauern an. Einige von ihnen kehren gescheitert auf ihre Insel zurück, aber immer mehr junge Leute bleiben mit wachsender Verbitterung dort hängen.6 Wie vor fünfzig Jahren ist Port-Vila eine Stadt der Weißen, aber die Siedler haben den Auswanderern und Touristen Platz gemacht. Für die Mehrheit der Melanesier bleibt das moderne Leben unerreichbar. „Die Weißen sind wohlgelitten, denn die ni-Vanuatu (Eingeborenen) wissen, daß sie die Auswanderer im Augenblick noch brauchen“, erklärt der französische Botschafter. Aber dieses relativ friedliche Nebeneinander ist bedroht: Es gibt immer mehr Alkoholismus, immer mehr (vor allem eheliche) Gewalt und immer mehr Kleinkriminalität. Man schätzt, daß die Bevölkerung von Port-Vila, wo gegenwärtig weniger als 25000 Menschen leben, sich in den nächsten fünfzehn Jahren verdoppeln oder verdreifachen könnte. Entsprechend groß wird die Anzahl der Familien ohne Garten sein, denen man Arbeit, Wohnung, Ausbildung und Fürsorge geben muß. Im Augenblick sieht es nicht so aus, als könnte das Land dies verkraften. Neben der Auslandshilfe, dem Export von Rohstoffen und einem Finanzzentrum, wo keine Steuern bezahlt werden müssen, setzt Vanuatu vor allem auf den Tourismus und auf bislang ungenutzte Ressourcen wie Gold und Erdöl.

Bei der Modernisierung des Landes muß Vanuatu zwei Gefahren vermeiden, die allen Entwicklungsländern drohen: die Korruption und die Übernahme einer fremden Kultur. Das Touristen- und Steuerparadies zieht unseriöse Investoren an, die von den Vergünstigungen und von der zunehmenden Gier der Machthaber profitieren: Korruption breitet sich aus. Modernisierung heißt oft Anpassung an westliche Standards, wodurch ein Gleichgewicht gefährdet werden kann, das Jahrtausende überdauert hat und das nicht einmal die Missionare zerstören konnten. Es sind die Bräuche, die Verbindung von Glauben, Mythen, Traditionen und sozialen Beziehungen auf der Grundlage des Tauschs, die nach Ansicht einiger Ethnologen zu dieser egalitären Gesellschaft geführt haben. Auf die Frage nach den Gefahren des Fernsehens antwortet der Premierminister: „Wir dürfen keine Angst vor den Technologien haben, die von außen kommen. Wir müssen vielmehr lernen, sie so schnell wie möglich zu beherrschen, um sie in unsere Bräuche zu integrieren.“ Diese Haltung legen die meisten Melanesier bei ihren Beziehungen zur westlichen Welt an den Tag. Einige sehen darin eine Schwäche, andere aber den Beweis, daß Vanuatu seine Unabhängigkeit nie wirklich verloren hat. Vielleicht könnte es in Vanuatu trotz – oder gerade wegen – der strategischen Interessen Frankreichs und Australiens zu einer ganz eigenständigen Entwicklung kommen.

dt. Christian Voigt

1 Le Monde, 21. April 1994.

2 Neukaledonien, Französisch-Polynesien und Wallis und Futuna.

3 Vgl. Charles Zorgbibe, „Les Nouvelles-Hébrides: du condominium à l'indépendance“, Le Monde diplomatique, April 1980.

4 Das Bichelamar ist ein dem Englischen verwandtes Pidgin, das aus den Kontakten mit den ersten Kaufleuten in der Region enstanden ist. Das Mengenverhältnis zwischen Anglo- und Frankophonie wird auf 60 zu 40 geschätzt. In Vanuatu werden etwa einhundert verschiedene einheimische Sprachen gesprochen.

5 1993 hat die NUP die Koalition verlassen. Da aber vier Abgeordnete, darunter drei Minister, sich von der NUP gelöst und der UPM angeschlossen haben, konnte die UPM sich an der Macht halten.

6 Vgl. Jean Chesneaux, „Le Pacifique sud rongé par une modernité destructrice“, Le Monde diplomatique, Juli 1990.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Gael Le Dantec