10.11.1995

Alles durch Dampf und Elektrizität

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Alles durch Dampf und Elektrizität

Von

ARMAND

MATTELART *

DER Zerfall der großen politischen Utopien hat neuerdings eine Reihe von Denkern veranlaßt, die Kommunikation als eine Art Ersatzutopie zu präsentieren: Nur sie sei noch imstande, zwischen den Menschen jenes Band zu knüpfen, das Gemeinschaften stiftet und sozialen Zusammenhalt gewährt. Sie soll das Gegengift gegen die Desorganisation und das Chaos sein, die unsere Gesellschaften bedrohen. In dieser Hinsicht regen die neuen Technologien die Phantasie ganz besonders an: Viele halten Multimedia und die interaktiven Netze vom Typ Internet für die Basis einer geselligeren, solidarischeren und demokratischeren Cybergesellschaft. Die sozialen Klassen und Spannungen, heißt es, werden verschwinden.

Diese Denkweise ist nicht neu. Sie taucht immer dann auf, wenn es im Bereich der Kommunikation (zu der im weiteren Sinne auch der Verkehr gehört) zu einem grundlegenden technologischen Wandel kommt.

So galt die Kommunikation schon sehr früh, Anfang des 19. Jahrhunderts, nicht nur als Mittel gegen die ökonomische Krise, sondern sie sollte auch Grundlage einer Erneuerung der Demokratie werden. Ob Dampfmaschine, Elektrizität, Radiowellen, bewegte Bilder oder Telematik – mit jeder neuen Generation von Kommunikationsgeräten wurde diese Vorstellung wieder aktuell.

Die erste Spur eines utopisch-prophetischen Diskurses, der von der Nachrichtenübermittlung über große Entfernungen ausging, geht auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Nachdem 1793 der optische Telegraph installiert worden war, der Paris und Lille miteinander verband, wurde heftig über mögliche zivile Anwendungen der Erfindung der Brüder Chappe spekuliert, denn einige Revolutionsdenker meinten, man müsse nur weitere Linien einrichten und den Code öffentlich machen, „um es allen Bürgern Frankreichs zu erlauben, sich Nachrichten mitzuteilen“. Damit habe man, im nationalen Maßstab, wieder die Verhältnisse der griechischen Agora, und Jean-Jacques Rousseaus Einwand, „große demokratische Republiken“ seien unmöglich, werde hinfällig. Man weiß, was aus diesen Hoffnungen auf Demokratie durch den Telegraphen geworden ist. Die Ausnahmevorschrift, die ihm eine militärische Funktion gab und welche die Geheimhaltung der Codes befahl, wurde zur Regel. Erst fünfzehn Jahre nach der Erfindung des elektrischen Telegraphen (1837) begann man, Schritt für Schritt, die Vorschriften zu lockern und der Öffentlichkeit den Gebrauch dieser Technik zu gestatten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kompensiert das utopische Denken diese Unterdrückung der Möglichkeiten freier Äußerung für alle Bürger, indem es den Kommunikationstechniken eine wichtige Rolle beim Aufbau des großen Gemeinwesens der Zukunft zuweist. Den elektrischen Telegraphen vorwegnehmend, macht Charles Fourier die Sprache der Signale zur Basis der „universellen Einheit“ und erfindet eine Art Satellitenübertragung, die transmission miragique, die – über die Zwischenstation Merkur – in weniger als vier Stunden eine Nachricht von London nach Indien befördern soll.

„Die Welt vereinen und vernetzen“ (enlacer l'univers), „alles durch Dampf und Elektrizität“: das sind die Parolen der Schüler von Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825). Adam Smith hatte seiner „universellen ökonomischen Republik“ den strikten Individualismus verordnet sowie die freie Konkurrenz auf einem gemeinsamen Markt, der den Gesetzen der internationalen Arbeitsteilung gehorcht. Dieser ökonomistischen Weltsicht, der er vorwarf, den Graben zwischen Reichen und Armen zu vertiefen, setzte Saint- Simon seine Utopie der „universellen Vereinigung unter dem Gesichtspunkt der Arbeit (industrie)“ entgegen, das heißt eine Bewirtschaftung des Erdballs durch „miteinander verbundene Menschen“, die, von dem gleichen inneren Antrieb bewegt, an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels arbeiten. Der Planet muß von den Arbeitern (industriels) „verwaltet“ werden wie ein „großes Industrieunternehmen“ und soll nicht mehr von einem bevormundenden Staat „regiert“ werden. Dieses Axiom begründet das „positive Wissen“ über die Führung der Menschen, das aus der Krise heraushelfen soll, in die man durch das „negative Wissen“ der Aufklärer und ihrer revolutionären Nachfahren geraten ist. Legitim, solange es darum geht, die alte Ordnung zu unterminieren, wird die kritische Haltung jedoch kontraproduktiv, sobald eine neue soziale Ordnung gestiftet werden soll und es darum geht, „den Übergang vom feudalen und theologischen System zum industriellen und wissenschaftlichen System“ zu sichern. In dieser Verwaltungslehre der Krisenbewältigung erfüllen die „spirituellen Netze“ des Glaubens und die „materiellen Netze“ der Kommunikation die Aufgabe, den sozialen Organismus zu koordinieren.

1832, sieben Jahre nach dem Tode Saint-Simons, vertritt Michel Chevalier, Kardinal der saint-simonistischen Kirche, die deterministische These, daß Verkehrsnetze automatisch dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen. Das Potential von Schiene und Lokomotive ist freilich noch lange nicht ausgeschöpft, wenn es darum geht, Räume zu strukturieren: Es ist gerade zwei Jahre her, daß in England die erste Eisenbahnlinie in Betrieb genommen wurde, die diesen Namen verdient. In Frankreich hat man immer noch Zweifel an den Vorzügen dieser Erfindung. Erst 1842 wird in Paris ein Gesetz verabschiedet, das zum Aufbau eines nationalen Eisenbahnnetzes führt.

Chevalier ist seiner Zeit voraus. Die Eisenbahnnetze, zusammen mit den Schifffahrtslinien und der Kommunikation über weite Strecken, werden, so prophezeit er, die universelle Völkervereinigung hervorbringen. Eine Verbindung, die mit der Bildung eines „Mittelmeersystems“ beginnen soll und für die man Ingenieure und Arbeiter gewinnt, indem man der Armee zivile Aufgaben überträgt. Als eine Art Ersatz für die Religion (von lateinisch „religare“, verbinden) haben Verkehr und Kommunikation hier die Funktion, die isolierten Mitglieder einer längst vergessenen Gemeinschaft wieder zu „verbinden“ und die träge gewordenen Zivilisationen aus ihrer Betäubung aufzurütteln – von Griechenland bis Kleinasien, von Spanien bis Rußland.

Mit Blick auf Rußland etwa prophezeit Michel Chevalier: „Alle Bewohner dieses Landes befinden sich in einem Schlummer [...], sie gleichen Mollusken, deren Muscheln an einem Felsen haften. Auf politischem Gebiet dürfte das wirksamste Mittel, sie aus ihrem Halbschlaf zu wecken, darin bestehen, ihnen Beispiele einer außergewöhnlichen Betriebsamkeit vor Augen zu führen, sie durch das Schauspiel einer wunderbaren Mobilität anzustacheln und sie zu ermuntern, sich dem Strom anzuvertrauen, der vor ihrer Tür vorbeifließt.“1 Die Demokratie ist für Chevalier eine abhängige Variable der industriellen Entwicklung, sie spielt in seinem Denken keine große Rolle: Ihm geht es um wirtschaftliche Effizienz im planetarischen Maßstab. Dennoch behauptet er, daß Verkehr und Kommunikation nicht nur die Abstände zwischen verschiedenen Punkten reduzieren, sondern auch die Differenz zwischen verschiedenen sozialen Klassen. Wer die Kommunikation verbessert, „fördert“ also notwendig „die Gleichheit und die Demokratie“.

Sieht man von der saint-simonistischen Kirche ab, so drückt der Saint-Simonismus ein avantgardistisches Managerdenken aus und symbolisiert den Unternehmungsgeist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Erlösungsideologie der Netze, der universellen Verknüpfung, rechtfertigt den verwaltungstechnischen Positivismus. Die neuen Unternehmer des Industriezeitalters legen das Fundament zu einem vernetzten internationalen Raum, indem sie Eisenbahngesellschaften und Schiffahrtslinien ins Leben rufen, Kreditinstitute gründen und Kanäle bauen, die die Weltmeere verbinden.

Die saint-simonistischen Verfechter des Sozialismus, die der ursprünglichen Absicht Saint-Simons, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, treu bleiben, wenden sich übrigens von dieser technokratischen Auffassung der Vernetzung ab und glauben nicht an einen Kausalzusammenhang zwischen Verkehrsnetzen und neuer Gesellschaft. Als Anhänger des „demokratischen Kosmopolitismus“ und Vorhut des Internationalismus setzen sie alle ihre Hoffnungen, „die Welt zu vereinen“ (enlacer l'univers), vielmehr auf die Solidarität zwischen den Nationen und Individuen. Die Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen von der strukturierenden Rolle des Netzes erweist sich im Rückblick als ein Grundzug in der Geschichte der Kommunikationstheorien.

Erfindungen und Technikausstellungen sorgen dafür, daß sich die Rhetorik des Friedens und der Völkerverbindung immer mehr ausbreitet, und dieses Zusammenwirken wird durch zwei symbolische Koinzidenzen unterstrichen: Während der ersten Weltausstellung, die 1851 im Londoner Kristallpalast stattfindet, wird zwischen Frankreich und England das erste telegraphische Seekabel in Betrieb genommen; und die Pariser Ausstellung von 1899, die das Jahrhundert beschließt, erlebt den Triumph des Kinos.

Der Film überführt die Mythologie der universellen Kommunikation in das Zeitalter der Bilder, die nun zum neuen Symbol für das Ende der Ungleichheiten zwischen Klassen, Gruppen und Nationen werden. „Die bewegten Bilder“, schrieb der amerikanische Romancier Jack London, „reißen die Schranken der Armut und der Herkunft nieder, die die Wege zur Bildung versperrten, und verbreiten Wissen in einer Sprache, die jeder versteht. Ob Arbeiter mit beschränktem Wortschatz oder Gelehrter, alle sind gleich... Die universelle Bildung, das ist die Botschaft... Zeit und Distanz werden durch die Zauberkraft des Films aufgehoben, um die Völker der Welt zu vereinen... Man muß nur die grauenhaften Kriegsszenen gesehen haben, um zum Fürsprecher des Friedens zu werden... Durch dieses Zaubermittel rückt die Gesellschaft wieder enger zusammen, die Conditio humana wird wieder ins Gleichgewicht gebracht.“2

Der Mythos von der Gleichheit

NOCH bevor die Elektrizität in Industrie und Haushalt genutzt wurde, beflügelte sie bereits den Traum von der Kommunikation. 1852 erschien das Buch „The Silent Revolution“, das sich von einem „perfekten Netz elektrischer Leitungen“ die soziale Harmonie der Menschheit erhoffte. Am Ende des Jahrhunderts erklären der russische Anarchist und Geograph Peter Kropotkin und der schottische Soziologe Patrick Geddes, die beide mit Kritik an den verheerenden Folgen der Industrialisierung nicht sparten, die Elektrizität zur entscheidenden Kraft eines neotechnischen Zeitalters.

Befreit von den Zwängen des paläotechnischen Zeitalters, das durch Mechanik, Konzentration und Hierarchie gekennzeichnet ist, soll auf dieser neuen Stufe in der Geschichte der Menschheit eine horizontale und transparente Gesellschaft entstehen. Nur das von der Industrialisierung gezeichnete Modell, meinen Geddes wie Kropotkin, hat das Befreiungspotential der Elektrizität so lange blockiert. Mit Dekonzentration und Dezentralisierung leitet die neue Energie das Zeitalter der Versöhnung ein – der Versöhnung zwischen Stadt und Land, Arbeit und Freizeit, Kopf und Hand. Da in dieser Denkströmung die regionale Planung eine wichtige Rolle spielte, hat sie noch lange die Utopien des Städtebaus beeinflußt.

Die ersten Arbeiten von Lewis Mumford, dem amerikanischen Historiker der Technik und der Städte, stehen in der Tradition dieses kritischen Denkens, das freilich vom technischen Determinismus geprägt bleibt: Mumford glaubt, um eine andere Gesellschaft herbeizuführen, müsse man nur die geeigneten Impulse geben und die Kräfte freisetzen, die in der geknebelten Technik ruhen. Bereits 1934 hält Mumford die Rundfunknetze für das geeignete Mittel, um wieder an die Idee der Agora anzuknüpfen, wie sie in den kleinen Stadtstaaten des antiken Griechenland bestanden hat. Zwanzig Jahre später führt Marshall McLuhan diese Tradition fort. In seinen frühen Schriften teilt er noch die Kritik am industrialistischen Modell, doch er entfernt sich allmählich von dieser Position, und Ende der sechziger Jahre läßt er verlautbaren, dank der Bildröhre sei das „globale Dorf“ hier und jetzt verwirklicht.3

Die Fortschritte in der Informatik markieren einen entscheidenden Wandel in den Utopievorstellungen. Bereits 1948 prognostiziert der amerikanische Wissenschaftler Norbert Wiener die Entstehung der „Informationsgesellschaft“. Er betont, daß der Informationsaustausch eine notwendige Bedingung jeder lebendigen Demokratie sei, und hält eine Gesellschaft für möglich, in der sich die Barbarei des gerade zu Ende gegangenen Kriegs nicht wiederholt. Doch Wiener warnt auch vor den Gefahren auf dem Weg zur Erfüllung dieses Ideals einer transparenten Gesellschaft.4

In den siebziger Jahren, dem Jahrzehnt der Ölkrise, tauchen in den staatlichen Verlautbarungen über die Strategien zur Überwindung der politischen und ökonomischen Krise immer häufiger Utopievorstellungen von Kommunikation und Information auf. Exemplarisch ist der offizielle Bericht über die „Informatisierung der Gesellschaft“, den Simon Nora und Alain Minc 1978 für den französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing verfassen. Um die Krise zu überwinden, die sie als eine Krise der Zivilisation bezeichnen, empfehlen sie den Rückgriff auf die dezentralisierenden Kräfte der telematischen Netze. „Die Informatik“, schreiben sie, „muß uns helfen, eine neue Agora im Maßstab der modernen Nation zu bilden.“5

Am Ende unseres Jahrhunderts sind nun die „Datenautobahnen“ das Ticket für eine neue Runde auf dem Karussell der Utopien. In einer Rede vor Experten der Internationalen Fernmeldeunion, 1994 in Buenos Aires, hat Albert Gore, der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, das Projekt „Infrastrukturen im globalen Zeitalter“ damit gerechtfertigt, daß die großen sozialen Ungleichheiten auf der Welt beseitigt werden müßten – so wird das unerreichbare Ideal der „transparenten Gesellschaft“ zu einem Mythos, der so alt ist wie die Idee der Moderne.

Die zyklische Wiederkehr des Diskurses über die wundertätigen Kräfte der Kommunikation darf allerdings den Blick auf eine andere Konstante nicht verstellen – die der Realpolitik: Hier tobt der Kampf um die Kontrolle über die Kommunikationseinrichtungen, der Kampf um die Herrschaft über Normen und Systeme. Zu Beginn des Zeitalters der neuen Technik, 1881, fand in Paris die erste Internationale Elektrizitätsausstellung statt. Zu diesem Anlaß kamen die Delegierten jener Staaten zusammen, die im Besitz einschlägiger Erfindungspatente waren, um universelle Maßeinheiten festzulegen wie Ampère, Volt usw. Anders als bei den Weltausstellungen wurde kein souveräner Staat der Peripherie zu diesem Gipfel eingeladen ...

Zu Beginn des Multimediazeitalters, Ende Februar 1995, hielten die Repräsentanten der G-7-Staaten (die reichsten Staaten der Erde, unter Ausschluß der Entwicklungsländer) im Beisein von Al Gore in Brüssel ihr Treffen ab, um – im Einvernehmen mit den Großindustriellen der Unterhaltungselektronik- und Computerbranche – nicht nur über die Einrichtung der berühmten Datenautobahnen zu diskutieren, sondern auch über die „Informationsgesellschaft“. Die Gruppe sprach sich für eine umfangreiche Deregulierung im Telekommunikationsbereich aus, wollte sich aber nicht mit den, wie es hieß, „naturgemäß überaus strittigen Fragen“ des Inhalts der neuen elektronischen Medien befassen.6 In einer Welt, der die großen politischen Utopien ausgegangen sind, dient die technische Utopie den Ideologen des globalen Echtzeit-Markts als Surrogat.

Der egalitaristische Mythos der Kommunikation steht mehr denn je im krassen Mißverhältnis zu den Tendenzen technologischer Absonderung, die schwer auf der ohnehin gefährdeten Weltordnung lasten.7 Doch trotz aller Fehleinschätzungen in der Vergangenheit finden die diversen Religionen der Kommunikation weiterhin ihre Kreuzfahrer.

dt. Andreas Knop

1 Michel Chevalier, „Le Système méditerranéen“, Paris (Le Globe) 1832.

2 Jack London, „Le message du cinéma“, in Profession écrivain, (10/18), Paris 1980.

3 J. W. Carey, „McLuhan and Mumford: The Roots of Modern Media Analysts“, Journal of Communication, 1981, Bd. 31, Nr. 3.

4 Philippe Breton, „L'Utopie de la communication“, Paris (La Découverte) 1992.

5 Simon Nora und Alain Minc, „L'Informatisation de la société“, Paris (La Documentation française) 1978.

6 Vgl. „Médias et contrôle des esprits“, Manière de voir, Nr. 27, August 1995.

7 Armand Mattelart, „Von der Kanonenbootpolitik zu einer Diplomatie der Netze“, Le Monde diplomatique (dt.), August 1995.

* Professor an der Universität Rennes-II; Autor unter anderem von La Communication-monde, Paris (La Découverte) 1992, L'Invention de la communication, Paris (La Découverte) 1994, sowie, zusammen mit Michèle Mattelart, „Histoire des théories de la communication“, Paris (La Découverte) 1995.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Armand Mattelart