10.11.1995

Die unbekannten Grenzen des Cyberspace

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Die unbekannten Grenzen des Cyberspace

Von

FRANCIS

PISANI *

WER regiert im Cyberspace? Wo liegen die Schranken und Grenzen des Internet? Und wo ist sein Zentrum? Wie erkennt man den Anfang, die Mitte und das Ende eines in „Hypertext“ geschriebenen Romans, der am Computer gelesen wird und aus Fragmenten besteht, zwischen denen der Leser nach Belieben hin und her navigieren kann? Man hat uns beigebracht, solche banalen Fragen zu stellen, um „etwas“ zu verstehen, aber sind sie heute, wo es darum geht, die Logiken des Cyberspace zu begreifen, noch irgendwie hilfreich?

Der Schlüssel zum legendären Erfolg von Bill Gates, dem Chef von Microsoft, ist eine Einheit, die weder Farbe noch Gestalt, noch Gewicht hat und sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt: das Bit, die Informationseinheit jener Software, die in den Gehirnen der meisten Computer steckt. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß die Macht eines Unternehmens nach produzierten Tonnen und die eines Landes nach „Divisionen“ geschätzt wurde. Selbst die Gegenstände sind nicht mehr das, was sie waren.

Man hat die „Verschmelzung“ von Fernseher und Computer begrüßt, doch einer der fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Maschinen ist der, daß erstere, wenn sie kaputtgeht, zwar repariert, aber nicht verändert werden kann, während letztere verbessert, „nachgerüstet“ und an ein Datennetz angeschlossen werden kann.

Mindestens ebenso wichtig wie die Computer, die in den USA in höherer Stückzahl verkauft werden als Fernseher, scheinen mittlerweile die Modems (Modulatoren-Demodulatoren) zu sein, die es ermöglichen, über eine Telefonleitung mit anderen Computern zu kommunizieren. Die Superrechner von heute sind keine gigantischen Einheiten mehr, sondern Reihen von Mikroprozessoren (wie man sie auch im gewöhnlichen PC findet), die jeweils ihren eigenen Speicher haben und untereinander verbunden sind. Dieses Ineinandergreifen von Hard- und Software ist extrem leistungsstark... und offen.

In der Computerwelt können Dinge geschehen, die einen an das Verhalten eines Bienenschwarms denken lassen. In seinem Buch „Out of Control – The New Biology of Machines: Social Systems and the Economic World“1 erinnert Kevin Kelly, Chefredakteur der Zeitschrift Wired, daran, daß ein Insektenstaat „weder ein Ding noch ein Begriff, sondern ein kontinuierlicher Fluß von Prozessen“ ist. Dies ist der Ausgangspunkt für künstliches Leben und zugleich das, was es eines Tages ermöglichen wird, Cyborgs, Mischwesen aus Mensch und Computer, herzustellen. „Die Maschinen werden lebendig und das Leben eine technisch konstruierte Angelegenheit“, behauptet Kelly.

Selbst die Struktur der Unternehmen wird durch die „Technologien der Koordination“ verändert, meinen Thomas Malone und John Rockart vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).2 Hier, im Organisationsbereich, findet die derzeitige Revolution statt, und nicht im Produktionssektor. Die Computer in den Benetton-Läden etwa speichern die Merkmale der gefragtesten Pullover und geben sie in Echtzeit an die Fabriken weiter. Die Firma wartet bis zum letzten Moment, ehe sie ihre Pullover färbt, und kann so ihre Produktion dem wechselnden Geschmack der Kundschaft anpassen. Dies ermöglicht, wie Toyota im Automobilsektor gezeigt hat, die Entwicklung einer flexiblen „Massenproduktion nach Maß“, die ihrerseits eine Aufteilung der Unternehmen in kleinere Einheiten nach sich zieht.

Chaos und Postmoderne

SELBST die sakrosankte Unternehmenshierarchie wird wieder in Frage gestellt. Früher war sie allgegenwärtig, „zum Teil deshalb, weil sie die wirtschaftlichste Art war, die Arbeitsleistungen vieler Menschen zu koordinieren“, wie Malone und Rockart schreiben. Allmählich aber wird die Hierarchie von etwas verdrängt, was der amerikanische Essayist Alvin Toffler „Adhokratien“ nennt, das heißt von Gruppen oder Netzwerken, die eigens gebildet werden, um bestimmte Aufgaben zu lösen. Deshalb wurde auch die Gesellschaft, die die Software „Lotus Notes“ herstellt, vergangenen Juni zum doppelten Preis von IBM zurückgekauft. Denn mit dieser Software läßt sich besser als mit jedem Konkurrenzprodukt das ideale Team (dream team) für einen kurzfristig zu erledigenden Sonderauftrag zusammenstellen, und zwar aus Mitarbeitern, die zu ganz verschiedenen Abteilungen gehören und im Cyberspace zusammenarbeiten können, ohne ihre Arbeitsplätze zu verlassen.

Als Gutenberg im 15. Jahrhundert den Druck mit beweglichen Lettern erfand, um eine Bibel herauszubringen, hat er – ohne es zu wollen – mitgeholfen, die Zivilisation des Buchs zu begründen, und zugleich das erste Werkzeug der Massenproduktion erfunden. Henry Ford hat sich die Prinzipien dieser Erfindung später zu eigen gemacht, um Autos in Serie zu produzieren.

Ebenfalls ohne es zu wollen, haben die amerikanischen Militärs, die einst das Internet schufen, um im Falle eines Nuklearangriffs ihre Kommunikation aufrechtzuerhalten, mitgeholfen, uns in eine andere Welt zu befördern: in einen Raum (den Cyberspace), den sie nicht mehr kontrollieren und den wir nur schwer verstehen, weil er nicht mehr den üblichen Logiken gehorcht. Zum Beispiel die Medien: Während die Information sich traditionell von „einem“ (dem Inhaber der Druckerei oder des Fernsehkanals) zu „mehreren“ (den Lesern oder Zuschauern) bewegt, bewegt sie sich im Internet tendenziell von „mehreren zu mehreren“ (von Benutzern zu Benutzern).

Als Nicholas Negroponte, Direktor des Media Lab am MIT und Autor von „Total digital“3, sich unlängst zum Firmensitz eines großen Computerherstellers begab, mußte er mit seinem neuen Notebook durch eine Sicherheitskontrolle und dort dessen Wert angeben: „Zwischen ein und zwei Millionen Dollar“, antwortete er. Ungläubig notierte die junge Pförtnerin, er sei mit einem 2000-Dollar-Rechner ins Haus gekommen. Wer hatte recht?

Beide natürlich. Negroponte dachte an den Wert der Bits auf seiner Festplatte, die junge Frau nur an den Preis für die Atome der Hardware. In den derzeitigen Umwälzungen aber erblickt der MIT-Forscher nichts anderes als „eine Kehre vom Atom zum Bit“.

Diese seltsamen Technologien mit ihrem Gefolge wundervoller (oder bedrohlicher) Objekte stehen im Begriff, das Alltagsleben zu verwandeln, nachdem Wissenschaft und Kultur ihre kopernikanischen Revolutionen bereits hinter sich haben. Um die Auswirkungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien richtig zu ermessen, muß man sich allerdings ein wenig mit den Theorien des Chaos und der Postmoderne beschäftigen.

Die Chaostheorie betrachtet die Unordnung eher als eine extrem komplexe Information denn als Abwesenheit von Ordnung. Sie betont die wichtige Rolle der Unvorhersehbarkeit und führt einen zu der Einsicht, daß jede „Globalisierung“ mit Risiken behaftet ist.

Dank dem postmodernen Denken, das nicht mehr an globale Erklärungen glaubt, sondern an eine Fragmentierung, die der Unordnung inhärent ist4, hat man auch auf kulturellem Gebiet erkannt, „daß die Unordnung, die Nichtlinearität und das Rauschen in komplexen Systemen eine konstruktive Rolle spielen“5.

Während sich Newtons Welt durch eine Uhr symbolisieren ließ, muß man jetzt zu anderen Metaphern greifen wie dem Wasserfall, dem Wirbelsturm oder dem World Wide Web (WWW), das es erlaubt, endlos durchs Internet zu navigieren. Seine Grundmerkmale sind: Konnexion (jeder beliebige Punkt kann mit jedem beliebigen anderen verbunden werden), Multiplizität (jeder beliebige Knoten kann mehrere Dimensionen haben), Heterogenität (es gibt unendlich verschiedene Modi, Wellen und Ströme), Metamorphose (das Netz wird ständig neu geknüpft), Mobilität der Zentren (es sind mehrere, und sie verschieben sich), Riß (wenn man das Netz an einer Stelle zerreißt oder den Austausch irgendwo blockiert, finden die Ströme neue Wege), Offenheit (das System hat keine Grenze, es wächst und ändert sich)6...

Befremdlich sind diese neuen Technologien nicht so sehr deshalb, weil die Bits darin eine größere Rolle spielen als die Atome, sondern weil wir uns an die Muster und Figuren, die sie bilden, erst noch gewöhnen müssen. Der damit verbundene Paradigmenwechsel, den Ignacio Ramonet diagnostiziert hat7, findet seine genaue Entsprechung in den Entwicklungen der Wissenschaftsgeschichte.

Thomas S. Kuhn hat die Geschichte der Wissenschaft dadurch geprägt, daß er den Bruch, die Revolution, zu einem konstitutiven Element der Entwicklung erklärte.8 Doch was uns hier interessiert, ist sein zweiter Beitrag: Der hohe Stellenwert, den er dem Paradigma gegeben hat, bei dem es sich, allgemein gesprochen, um ein „Modell oder Schema“ handelt, das eine Gemeinschaft „akzeptiert“, weil sich mit ihm die Wirklichkeit erklären läßt.

Da sich die Überlegenheit einer Theorie über eine andere nicht beweisen läßt, bleibt nur deren Überzeugungskraft, und deshalb sind Paradigmen so wichtig. Voraussetzung ist, daß es einen Grundstock an gemeinsamen Werten gibt, damit „die meisten [Wissenschaftler] letztlich eine Reihe von Argumenten eher für entscheidend halten als eine andere“9.

Auch der französische Philosoph Michel Foucault hat die Bedeutung der Diskontinuitäten in der Geschichte betont, und er scheint einem ähnlichen Weg zu folgen wie Kuhn, wenn er im Blick auf das klassische Zeitalter und das 19. Jahrhundert von epistemologischen Brüchen spricht. Seine „Archäologie der Humanwissenschaften“ zeigt uns im einzelnen, wie die verschiedenen Epochen des Wissens strukturiert sind und – vor allem – was unter den „wissenschaftlichen Theorien oder den Erklärungen der Philosophen“ verborgen liegt – die Schicht nämlich, die unseren Blick zu einem „bereits codierten Blick“ macht.10

Die Lobredner und Akteure der digitalen Revolution, die sich in der Zeitschrift Wired zu Wort melden, sind davon überzeugt, daß sie die wichtigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit „seit der Erfindung des Feuers“ erleben. Vielleicht ist das der Grund, weshalb diese komischen Käuze, die durch den Cyberspace navigieren, so unbeirrt versuchen, uns das Virtuelle als Realität hinzustellen. Bis zum Vergleich mit dem Feuer wird man nicht gehen wollen, aber immerhin sind die Paradigmenwechsel, die wir erleben, recht beachtlich.11

Michel Foucault erkannte: „Die Ordnung, vor deren Hintergrund wir denken, ist nicht dieselbe wie die der Klassik.“12 Heute können wir sagen, daß die Unordnung, vor deren Hintergrund wir denken und handeln, nicht mehr vergleichbar ist mit der Ordnung der Moderne.

dt. Andreas Knop

1 Reading, Mass. (Addison-Wesley) 1995.

2 Ihr Aufsatz „Computers, Networks and the Corporation“ erschien in der Sondernummer „The Computer in the 21th Century“ des Scientific American, März 1995.

3 München (Bertelsmann) 1995.

4 Jean-François Lyotard, „Das postmoderne Wissen“, Wien (Passagen) 1986.

5 Katherine Hayles, „Chaos and Order. Complex Dynamics in Literature and Science“, Chicago (University Press) 1991.

6 Diese Liste orientiert sich an den Merkmalen, die Gilles Deleuze und Félix Guattari für das Rhizom angegeben haben; vgl. „Tausend Plateaus“, Berlin (Merve) 1992.

7 Vgl. „Médias et contrôle des esprits“, Manière de voir, Nr. 27, und „Eine Welt ohne Visionen“, Le Monde diplomatique (dt.), Oktober 1995.

8 Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1976.

9 Ebd., S. 211.

10 „Die Ordnung der Dinge“, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1971, S. 22 f.

11 Zur Veranschaulichung können wir eine Liste von Gegensatzpaaren aufstellen – die natürlich offen, modifizierbar und unvollständig bleibt; links die traditionellen okzidentalen Denkfiguren, rechts diejenigen, die allmählich an ihre Stelle treten. Die meisten der „neuen“ Metaphern sind zwar schon seit geraumer Zeit in Gebrauch, aber erst jetzt beginnen sie, eine wesentliche Rolle zu spielen: Baum/Rhizom, Atome/ Bits, Raster/Netz, Linie/Knoten, Hierarchie/Adhokratie, gleichförmig/heterogen, geschlossen/offen, endlich/unvollendbar, verwerfbar/modifizierbar, Autor/ Autorität, Benutzer/Interaktivität, von einem an mehrere/von mehreren an mehrere, Herrschaft/Einsprachigkeit, Übersetzung/Mehrsprachigkeit, lokal/ubiquitär, vergehende Zeit/Echtzeit, entweder – oder/beides zugleich, ganz/fragmentiert.

12 a.a.O., S. 25.

* Journalist und Schriftsteller

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Francis Pisani