10.11.1995

Verletzliches Makedonien

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Verletzliches Makedonien

IN der makedonischen Hauptstadt Skopje ist schon die Befürchtung zu hören, daß der Eröffnung einer neuen Front auf dem Balkan nichts mehr im Wege stehe, wenn erst einmal der bosnische Konflikt geregelt sei. In der Tat ist auch Makedonien, die dereinst ärmste der Republiken Ex-Jugoslawiens, vor gewaltsamen Erschütterungen nicht gefeit, wie das Attentat auf seinen Präsidenten Kiro Gligorow deutlich gemacht hat. Der Spielraum dieser jungen unabhängigen Republik, die zwischen den Interessensphären Serbiens, Griechenlands, Bulgariens und Albaniens einen Schnittpunkt bildet, ist gering. Aber auch die Entwicklungen im Innern werfen eine Reihe zentraler Fragen auf, die zur Zeit ohne Antwort bleiben.

Von MARIE-FRANÇOISE ALLAIN und IVAYLO DITCHEV *

Makedonien ist bisher von einem eskalierenden Krieg, wie er in anderen Republiken Ex-Jugoslawiens wütet, verschont geblieben. Nun macht man sich aber auf das Schlimmste gefaßt. Das Attentat auf Präsident Kiro Gligorow am 3. Oktober hat jahrelang aufgestaute Probleme sichtbar gemacht1: ethnische Spannungen durch die schwierigen Beziehungen zwischen der christlichen slawischen Mehrheit und der muslimischen albanischen Minderheit; ökonomische und soziale Spannungen wegen des Übergangs zur Marktwirtschaft, die durch das griechische Embargo und die Auswirkungen des Krieges in Bosnien noch verstärkt werden, und politische Spannungen als Folge der komplexen Beziehungen zu Griechenland, Bulgarien, Albanien und Serbien.

Was werfen die Urheber des Attentats Gligorow vor? Seine engen Beziehungen zu Belgrad oder, im Gegenteil, seine Distanzierung von Serbien? Den mit Griechenland geschlossenen Kompromiß, der als Verrat der nationalen Sache erscheinen könnte? Die Integrierung der albanischen Gemeinschaft, die den von einigen gehegten Traum von einer ethnischen Säuberung zerstören würde? Es gibt viele, die an einer Destabilisierung dieses kleinen Landes interessiert sind, das knapp zwei Millionen Einwohner auf einer Fläche von 25000 Quadratkilometern zählt, das aber die einzige Passage zwischen dem Schwarzen Meer und der Adria, zwischen der Ägäis und der Donau kontrolliert. Die Zweideutigkeit, die die Bildung dieses neuen Balkanstaates geprägt hat, läßt sich schon an seinem Namen ablesen: für die Europäische Gemeinschaft, von der er im Juni 1992 anerkannt wurde, sowie für die Vereinten Nationen, denen er im April 1993 beitrat, heißt er immer noch „frühere jugoslawische Republik Makedonien“. Das hat seinen Grund. Die Geschichte hat das geographische Makedonien zwischen Jugoslawien (Makedonien des Wardar, 39% des Territoriums), Griechenland (Makedonien der Ägäis, 51%), Bulgarien (Makedonien am Pirin, 9%) und Albanien (1%) aufgeteilt. In diesem aufgesplitterten Gebiet vollzog sich eine ungeheure Vermischung der Ethnien, der Religionen und Kulturen, für die Makedonien zum gemeinsamen Namen wurde. Was immer auch die Politiker in Skopje machen, man wird sie zwangsläufig verdächtigen, das Erbe zu veruntreuen, das heißt die irredentistischen Umtriebe zu ermutigen.

Bulgarien hat als erstes Land diplomatische Beziehungen zu der jungen Republik aufgenommen und es vor allem nach der griechischen Blockade in bedeutendem Maß wirtschaftlich, aber auch politisch unterstützt.2 Allerdings erkennt Sofia keine makedonische Nationalität an, in seinen Augen handelt es sich um Bulgaren. Dieses Manöver soll eine Distanz zwischen Skopje und Belgrad schaffen, um zu verhindern, daß die politische Führung sich in die Angelegenheiten der makedonischen Minderheit in der bulgarischen Pirin-Region einmischt.3

Die Haltung Serbiens ist diametral entgegengesetzt: Es anerkennt die Nation, nicht aber den Staat Makedonien, der eines Tages Teil des neuen Jugoslawien werden soll. Die serbischen Machthaber setzen auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des kleinen Landes, das seine Handelsbeziehungen zu 70 Prozent mit dem nördlichen Nachbarn abwickelt. Die serbischen Politiker haben bereits von einer einschneidenden Maßnahme profitiert, vom Handelsembargo, das Athen am 26. Februar 1994 über Makedonien verhängt hat. Ein anderes Druckmittel gegenüber diesem praktisch wehrlosen Land4 ist die direkte militärische Bedrohung. Mehrere Zwischenfälle an der Nordgrenze haben die Öffentlichkeit in Alarm versetzt. Im Augenblick gibt es von serbischer Seite keine Reaktion auf die makedonischen Vorschläge zu einer gemeinsamen Revision der Grenzen. Die elfhundert im Januar 1993 stationierten UNO-Soldaten – darunter fünfhundert Amerikaner – bieten Makedonien im Falle eines Angriffs nur formalen Schutz. Dazu kommt noch der innere Druck der kleinen serbischen Minderheit (2%), deren extremistische Führung auf die Unterstützung der serbischen Medien zählen kann.

Die griechische Position hat ein großes Echo hervorgerufen. Athen wirft Makedonien Expansionsgelüste vor und sieht sich darin durch die „Usurpation“ seiner Symbole bestätigt. Die Krise hat auch wiederum die Ineffizienz der europäischen Institutionen aufgezeigt. Erst mit dem Besuch von Richard Holbrooke, dem Sonderbeauftragten des amerikanischen Präsidenten, kam am 13. September ein halbwegs praktikabler Kompromiß zustande.

Die Griechen erklärten sich zur Aufhebung des Embargos bereit unter der Bedingung, daß zwei Forderungen erfüllt werden: die Streichung des Paragraphen 49 der 1991 angenommenen Verfassung Makedoniens, der besagt, daß „die Republik über die Lage und die Rechte der Bürger makedonischer Abstammung in den Nachbarländern wacht“, und der Verzicht auf die sechzehnflammige „Sonne von Vergina“ auf der Nationalflagge. Das Emblem Philipps II. und Alexanders des Großen wurde dann auch kraft eines beinahe einstimmigen Votums des makedonischen Parlaments am 6. Oktober 1995 durch eine gelbe Sonne auf rotem Grund ersetzt... drei Tage nach dem Attentat auf Präsident Gligorow. Die heikle Namensfrage dieses Landes ist jedoch noch ungelöst. Das von Athen im Februar 1994 verhängte Embargo hatte für Makedonien verheerende Auswirkungen, aber auch für Griechenland, das nach Aussage von Djuner Ismail, dem Regierungssprecher in Skopje, nach wie vor der „ideale Handelspartner für Makedonien“ ist.

Albanien verhält sich, so Arben Xhaferi, der Chef der radikalen Fraktion der Albanerpartei PDP (Partei der demokratischen Prosperität) „gegenüber dem Schicksal seiner Minderheit in Makedonien sehr gleichgültig“. Angesichts des Krieges in Bosnien-Herzegowina und einer neuerlich bevorstehenden Flüchtlingswelle scheinen sowohl der Präsident Albaniens, Sali Berisha, als auch Ibrahim Rugova, der Chef der (halblegalen) Republik Kosovo5, deren Zukunft nicht zuletzt von einer stabilen Lage in Makedonien abhängt, eine vorsichtigere Haltung in dieser Frage einzunehmen.

In Anbetracht eines derart vertrackten Kontextes kann man sich fragen, ob die politischen Eliten Makedoniens tatsächlich eine Trennung von Jugoslawien wollten. Ausgelöst wurde der Zerfall der Föderation durch die Initiative der reichen westlichen Republiken, die hofften, sich durch die Entledigung des weniger entwickelten Südostens schneller Europa anschließen zu können. Makedonien, das sich aus Furcht, in einen Krieg hineingezogen zu werden, zur Unabhängigkeit gedrängt sah, erklärte seine Autonomie unter größter Vorsicht und mit einem Treuebeweis an Belgrad: Die zweite Frage beim Referendum von 1991 über die Unabhängigkeit räumte die Möglichkeit eines freiwilligen Beitritts zum neuen Jugoslawien ein. So kam es im November 1992 zu dem an ein Wunder grenzenden friedlichen Abzug der jugoslawischen Truppen vom makedonischen Territorium.

Wider die ethnische Polarisierung

Jeder weiß, daß Kiro Gligorow zu den treuesten Verteidigern der jugoslawischen Föderation gehörte. Als typischer Politiker der Tito-Ära bewies er nach seiner Wahl zum Präsidenten am 27. Januar 1991 (am 10. Oktober 1994 wurde er wiedergewählt) ein hohes Maß an Pragmatismus. Die Toleranz zwischen christlichen Slawen, muslimischen Albanern und den anderen Minderheiten (vor allem Roma und Türken) ist nicht zuletzt ihm zu verdanken Und wenn Makedonien zwischen den Absichten seiner Nachbarn lavieren und dabei anders als Bosnien oder Kroatien der todbringenden Spirale entgehen konnte, so geht dies zum Großteil auf die Kompromißfähigkeit des „Fuchses vom Balkan“ zurück, auch wenn seine „Politik der Äquidistanz“ die ungleichen Beziehungen verschleierte, die der Druck aus Belgrad und Athen herbeigeführt hat.

Die schweren Folgen des Attentats lassen aber kaum auf Gligorows Rückkehr an die Spitze des Staates hoffen. Er hinterläßt keinen politischen Thronfolger. Der Parlamentspräsident Stojan Andov, der verfassungsgemäß seine Vertretung übernommen hat, und der gegenwärtige Premier Branko Crvenkovski werden zwar seine Politik der Vorsicht fortsetzen. Die beiden starken Männer im Hintergrund jedoch, Innenminister Ljubomir Frckovski und Vassil Tupurkovski, Mitglied des letzten turnusmäßig wechselnden Staatspräsidiums Exjugoslawiens, werden wohl nicht die gleiche Wendigkeit an den Tag legen – zumal sich die rein innenpolitischen Debatten verschärfen werden.

Die komplexen Beziehungen Makedoniens zu seinen verschiedenen Nachbarn verdecken allerdings allzu oft die Schwierigkeiten beim Übergang zur Marktwirtschaft, wie sie für alle Länder Osteuropas typisch sind. Hier hat der Prozeß der „Entkommunisierung“ allerdings praktisch nicht stattgefunden: Weder gab es eine echte Diskussion über die Opfer des Kommunismus noch eine Neuinterpretation der Geschichte. Die Nomenklatura hat immer noch die Kontrolle über das Land: Obgleich die Wahlen vom Oktober 1994 dermaßen von Wahlschwindel und zahlreichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet waren, daß die Nationalisten der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation/Demokratische Partei der Makedonischen Nationalen Einheit (VMRO-DPNME) und die Demokratische Partei den zweiten Wahlgang boykottierten6, hat die Delegation des Europarates diese Wahl als „einen bedeutenden Schritt in Richtung Demokratie“ bezeichnet und damit ihr Vertrauen in Gligorow zum Ausdruck gebracht. Der von der Liga der Kommunisten Makedoniens/Partei der Demokratischen Erneuerung (LCM- PTD) dominierte und von der PDP (Albaner-Partei) unterstützte Bund für Makedonien regiert mit beinahe 90% der Sitze im Parlament das Land. Einen Übergang zum „Einparteienstaat“ nannte das Petar Gosev, Vorsitzender der Demokratischen Partei. Zum Gefühl der Ohnmacht tragen zudem die beinahe völlig von der Allianz kontrollierten Medien, die Korruption, die Bevormundung des Rechtssystems und das Klima des Mißtrauens bei. Wen wundert es, wenn unter diesen Bedingungen die außerparlamentarische Opposition zur Radikalisierung neigt?

In der Wirtschaft betreiben die ehemaligen Mitglieder der Nomenklatura die Privatisierung, wobei sie von ihren Auslandskontakten profitieren. Dies könnte zu einer Verschärfung der sozialen Unterschiede führen, galt Makedonien doch schon früher als das Armenhaus Jugoslawiens. Seit der Unabhängigkeit ist der Lebensstandard um die Hälfte gesunken. Trotz der Verringerung der Nominalinflation von mehr als 2000% auf unter 20% ist das Pro-Kopf-Einkommen von 2200 Dollar im Jahre 1990 auf heute 700 Dollar gefallen. Prognosen zufolge wird sich der Verkauf von Unternehmen 1995 in der Verdoppelung der Arbeitslosenrate niederschlagen, die schon jetzt 21% der arbeitenden Bevölkerung beträgt.7 Dies birgt die Gefahr ethnischer Konflikte in sich, denn die Albaner (je nach Informationsquelle macht ihr Anteil 22 bzw. 33% der Bevölkerung aus) verlieren als erste ihre Stelle. Die Zwischenfälle um die albanischsprachige Universität von Tetovo im vergangenen Frühjahr könnten das erste Vorzeichen dafür gewesen sein. Die Roma, die 2,5% der Bevölkerung ausmachen und ebenfalls zu den Opfern dieser Krise zählen, genießen allerdings den Status einer anerkannten Minderheit.

Während die Parteien, die aus dem alten Staatsapparat hervorgegangen sind und die nationalistischen Parteien jede auf ihre Weise die Schaffung eines starken, zentralistischen Staates befürworten, wollen die verschiedenen albanischen Strömungen eine Dezentralisierung der Macht zugunsten der Regionen. Mevlan Tahiri, Präsidiumsmitglied der PDP, spricht sogar von einer „Kantonisierung“ des Landes.8 Die den (vorwiegend im Nordwesten des Landes lebenden) Albanern gewährte regionale Autonomie würde ihnen erlauben, ihre Interessen in der gegenwärtigen Krise besser zu vertreten.

Die Forderung aller albanischen Parteien nach einer dem Anteil der Gesamtbevölkerung entsprechenden Beteiligung an den Institutionen führt bei der slawischen Bevölkerung zu einem zähen Widerstand, denn sie befürchten, in naher Zukunft von ihren albanischen Mitbürgern, deren Geburtenrate dreimal höher liegt, majorisiert zu werden. Nach Aussage von Arben Xhaferi drückt der Kampf der Albaner für ihre Anerkennung als „verfassungsmäßiges Volk“ statt als Minderheit die Befürchtung dieser Gemeinschaft aus, „ghettoisiert“ zu werden. „Wenn den Makedoniern nicht mit Vernunft beizukommen ist, werden wir eine Parallelregierung bilden“, fügt er hinzu.

Bisher hatte der Bund für Makedonien die nationalistischen Parteien gegen die ethnischen ausgespielt. Im April 1995 hat sich gleichwohl mit Blick auf die Regionalwahlen ein Abkommen zwischen der VMRO-DPNME und der PDP angebahnt. Als Verbündete der Regierungspartei will sich die PDP auf regionaler Ebene mit der Opposition zusammentun. Für die bedeutendste Albaner-Partei stellt dieser ungewöhnliche Schachzug zweifellos eine Überlebenstaktik in einem immer schwieriger werdenden politischen Klima dar, wobei sie eine klare Polarisierung zwischen ethnischer Mehrheit und Minderheit vermeidet.

Die Antwort auf die zentralen Fragen zur Zukunft des Landes kann jedoch nicht unbeschränkt hinausgezögert werden. Soll Makedonien ein wirklich unabhängiges Land werden oder eines Tages in den Schoß Jugoslawiens zurückkehren? Soll eine pluralistische Gesellschaft angestrebt werden, oder bleibt es beim bisherigen Einparteiensystem? Soll man auf Zentralismus oder Regionalismus setzen? Diese Entscheidungen müßten von der Gesamtheit der Bürger der neuen Republik getroffen werden. Und die Zeit drängt.

dt. Andrea Marenzeller

1 Vgl. Christophe Chiclet, „La Macédoine menacée d'étouffement“. Le Monde diplomatique, September 1992, und „Thènes et Skopje dans l'impasse macédonienne“, Le Monde diplomatique, Mai 1994.

2 Nach dem Besuch von Boris Jelzin in Sofia und dank der Vermittlung von Präsident Schelju Scheljev erkannte Rußland die Republik an.

3 Von den 200000 Bewohnern dieser Region haben sich bei der letzten Volkszählung 10000 als Makedonier deklariert.

4 Die Republik verfügt nur über zwei aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Panzer; sie hat weder eine Luftwaffe noch eine schwere Artillerie; ein Großteil der Offiziere ist mit der jugoslawischen Armee abgezogen.

5 Vgl. „La question du Kosovo“, Interviews von Marie-Françoise Allain und Xavier Galmiche mit Ibrahim Rugova, Fayard, Paris 1994.

6 Die Wählerlisten lagen nicht rechtzeitig auf, die Einteilung der Wahlbezirke war nicht korrekt, Tausende Bürger konnten aufgrund des Gesetzes über die makedonische Staatsbürgerschaft nicht wählen usw. Dosta Dimovska, Vizepräsidentin der VMRO, sprach von einem „Putsch gegen die Demokratie“.

7 Der gemeinsam mit der Weltbank erarbeitete Plan sieht die Privatisierung der fünfundzwanzig meistverschuldeten großen öffentlichen Unternehmen bis zum Jahresende vor.

8 Für Ivan Mihailov, den Führer der VMRO in der Zwischenkriegszeit, sollte Makedonien eine „Schweiz des Balkans“ werden.

* Marie-Françoise Allain ist Journalistin,

Ivaylo Ditchev Schriftsteller

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von M.-F. Allain und I. Ditchev