10.11.1995

Die Wirtschaftsreform wird in Frage gestellt

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Die Wirtschaftsreform wird in Frage gestellt

DURCH den Gesundheitszustand von Boris Jelzin und die Tatsache, daß die Wahlkommission mehrere Parteien zunächst nicht zu den bevorstehenden Wahlen zulassen wollte – so wurde die Jabloko-Bewegung des Wirtschaftsexperten Grigori Jawlinski zunächst verboten und dann wieder erlaubt – hat sich das in Rußland vorherrschende Klima der Unsicherheit weiter verschärft. Möglicherweise sind die Manöver des Kreml, die allgemeinen Wahlen zu blockieren, erklärbar dadurch, daß mit einem Durchbruch der nationalistischen und regionalistischen kommunistischen Kräfte gerechnet werden muß, weil die Parteien an der Macht Schwäche zeigen.

Von unserem Reporter JEAN-MARIE CHAUVIER *

Außer den Schlagzeilen der Zeitungen deutet in diesem milden „Altweibersommer“ der russischen Großstädte nichts auf eine besondere Unruhe. Die wenigen Verkäufer von Parteizeitungen bleiben, scheint es, unter sich. Vorbei ist die Zeit, da auf dem Puschkinplatz in Moskau oder vor der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Kasan in Sankt Petersburg politische Versammlungen und Konzerte aufeinanderfolgten. Nur das Dröhnen der Bagger und der verstopften Straßen verleiht dem städtischen Leben eine gewisse Dynamik.1 Kaffeehausterrassen, Restaurants, Kaufhäuser und Erholungsparks sind belebt, ohne überlaufen zu sein, und vermitteln den Eindruck von Wohlstand und Entspannung. Notorische Nörgler könnten dem entgegenhalten, daß saftige Preise den Ansturm der Massen in Grenzen halten, daß dafür die Obdachlosenasyle aus allen Nähten platzen, die Gefängnisse brechend voll sind und in den überfüllten Waisenhäusern an jenen Krankheiten, wie sie in Kriegszeiten typisch sind: Läuse und Krätze, kein Mangel herrsche. Eine Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten, darüber besteht Einigkeit. Und die Presse, egal welcher Tendenz, stellt alles in schwärzesten Farben dar.

In den Schulen, alten wie neuen, fehlen Lehrkräfte: 600000 von ihnen haben gestreikt, da ihnen keine Löhne mehr gezahlt wurden. Zwar ist der Unterricht weiterhin unentgeltlich, doch sind Lehrveranstaltungen gegen Bezahlung und Schulen für Reiche auf dem Vormarsch. Die Kinder der Elite gehen zum Studium ins Ausland. Die Mode, Geschäfte zu machen, setzt sich bei den Jugendlichen genauso durch wie bei dem Rest der Bevölkerung, und die liberale Presse verteidigt dies gar als gutes Rüstzeug fürs Leben.2

Die Liste schlechter Nachrichten aus jüngster Zeit setzt sich fort, zuweilen mit kleinen Einschränkungen: Die Getreideernte sinkt auf ein Niveau von vor dreißig Jahren; doch Produktionsabfall und Inflationsrate verlangsamen sich. Optimistische Hypothese: Ab 1996 geht's bergauf! Bis es soweit ist, verkommt jedoch alles: Maschinen, Wohnungen, Waggons, Schiffe, Flugzeuge... Der Staat möchte sein Haushaltsdefizit verringern, aber um die Kassen zu füllen, werden die Aktien von neunundzwanzig Großindustriekomplexen unter Wert verschleudert.3 Die Raumfahrtgeheimnisse der UdSSR werden an die Amerikaner verkauft – zum Sonderangebotspreis.4 Der Westen hat sich 85 Prozent der Fernsehwerbung unter den Nagel gerissen, wobei 40 Prozent der Einnahmen in schwarzen Kassen verschwinden.5

Nicht zu vergessen die drastisch ansteigende Kriminalitätsrate. Und die Fremdenfeindlichkeit: Auf den Märkten sind Razzien gegen Kaukasier groß in Mode. Zusammengetrieben, die Hände über dem Kopf, werden sie von maskierten Polizisten in Schach gehalten, ausgesondert, oft geschlagen. Die „Illegalen“ werden aus Moskau ausgewiesen, die anderen wieder freigelassen. Eine Gewalt – alltäglich, akzeptiert, von vielen begrüßt, weil sie hilft, Sündenböcke zu finden.6

Der Weltseniorentag am 1. Oktober wurde zum Anlaß genommen, um über die sinkende Lebenserwartung zu sprechen. Nichts für empfindsame Gemüter.7 Der Humorist Michail Shwanezki faßt die Situation in einer bekannten liberalen Wochenzeitung so zusammen: „Wir müssen uns der Alten entledigen... Die Kinder leiden auch? Dann weg mit ihnen! Die Übriggebliebenen werden die Reformen nicht mehr behindern... Wenn die Alten, die Frauen und die Kinder verschwinden, zumindest während einer Übergangsphase, werden die Probleme bald gelöst sein.“8

Bezeichnend ist die Wut des ehemaligen Gewerkschaftsführers der Bergleute, Aman Tulejew, der Präsident Jelzin dabei behilflich war, an die Macht zu kommen. „1989 haben wir zwei Monate gestreikt, und die sowjetische Regierung hat uns Löhne und Zulagen gezahlt“, bemerkt der einstige „Walesa des sibirischen Kusbass“, der im Gebiet Kemerowo ein hochangesehener Mann ist. Heute wird auch in streiklosen Zeiten kein Lohn mehr pünktlich ausbezahlt. Die Anlagen sind in katastrophalem Zustand, „auf jede Tonne geförderter Kohle kommen 15 Tote“, der Alkoholismus hat grauenvolle Ausmaße angenommen. Tulejew ist verbittert: „Es gibt keine Repression wie 1937, heißt es. Einverstanden. Noch nicht. Aber das gedemütigte Land wird auf eine Weise zerstört, von der Hitler nicht zu träumen gewagt hätte... Das Parlament wurde bombardiert, es gibt Tausende von Flüchtlingen, Millionen von Arbeitslosen, eine sehr hohe Sterberate, eine sehr niedrige Geburtenrate – ist das vielleicht keine Repression?“9

Nicht weniger düster, was Grigori Jawlinski, einer der führenden Köpfe des Neoliberalismus, zu sagen hat: „Die Reform ist gescheitert.“ Sein Wahlgegner Boris Fjodorow, der immerhin Jegor Gaidars Finanzminister war, bemerkt voller Bitterkeit: „Wenn man unter Reform eine Veränderung zum Besseren versteht, so sind die Menschen unzweifelhaft dafür... Aber wo sehen Sie eine solche Veränderung?“ Nein, der „Lebensstandard sinkt“, man hat Angst vor Unsicherheit und „vor Krieg“. Tatsächlich sind 80 Prozent der Russen in diesem Jahr noch weiter verarmt, während ein Drittel der Gewinne auf 10 Prozent der Bevölkerung entfällt.10

Ist die Gegenwart auch ernüchternd, erscheint eine „Rückkehr zum Alten“ doch undenkbar. Die (diversen) Nostalgien ändern nichts daran, daß zu viele Brücken zur Vergangenheit abgebrochen sind. Die Schäden aus zwanzig Jahren Stagnation und versäumter Reformen sind so wenig rückgängig zu machen wie der Aufstieg einer neuen besitzenden Klasse. Nicht rückgängig machen läßt sich der Schock, den der Markt auf das soziale Leben und die Verhaltensweisen ausgeübt hat, nicht die millionenfache Deklassierung von qualifizierten Arbeitern, die ihren Beruf nicht mehr ausüben und sich statt dessen dem „Geschäft“ des Überlebens widmen.

Nicht rückgängig zu machen sind auch das Ende der Selbstgenügsamkeit und die Flut von Video und Werbung, mit der der Westen der Jugend den Kopf verdreht. Es verkommen die alten sozialistischen, traditionalistischen oder humanistischen Werte, die die Regimekritiker von einst verinnerlicht hatten. Die Härten der neuen Ordnung werden akzeptiert (oder erlitten), da sie mit den „universellen Gesetzen“ der Wirtschaft und den unvermeidlichen Opfern, die erbracht werden müssen, gleichgesetzt werden. Schließlich ist auch der Zerfall der Sowjetunion – Ende 1991 mit der politischen Auflösung besiegelt – nicht mehr rückgängig zu machen, die damit verbundenen Unannehmlichkeiten nicht und nicht die dominierende Wirtschaftsposition, die Rußland innerhalb der GUS einnimmt.11 Wenn es hier ein „Zurück“ (zu einer anderen Union) geben soll, dann führt der Weg zu sozialen, gar sozialistischen Werten nicht zu neuen Realitäten, sondern darüber hinaus.

Das wahre Wendedatum in der Politik war der Oktober 1993. Er bedeutete das Ende des Sowjetsystems wie das Ende der lebendigen Demokratie, jener Bürgerinitiativen, die während der Ära Gorbatschow entstanden und allzu hinderlich für die kapitalistische Schocktherapie geworden waren. Es folgte die Auflösung der beiden Häuser des Parlaments durch Jelzin, die Blockade des Parlamentsgebäudes, der bewaffnete Putsch führender Abgeordneter, schließlich der Beschuß des Weißen Hauses am 4. Oktober und die brutale Niederschlagung des Staatsstreichs.

Der zweite Jahrestag dieses „Sieges der Demokratie“ – wie er vom Kreml und im Westen genannt wird – wurde offiziell nicht gefeiert, einzig die demokratische Presse widmete ihm einige eher verschämte und betretene Kommentare. Dagegen haben die Protagonisten des Oktoberputsches und die Familien und Freunde der damaligen Opfer eine Gedenkstätte, Katafalke mit brennenden Kerzen, improvisiert und ein Zeremoniell abgehalten.

Noch einmal verstärkt wurde die Krise durch die (angefochtene) Wahl vom 12. Dezember 1993, die die neue Verfassung – eine sehr „präsidiale“ – von Boris Jelzin sanktionierte und in deren Gefolge ein Parlament (die Duma) gebildet wurde, dessen Rechte begrenzt sind. Obwohl von eher zurückhaltender Art, hat dieses Parlament doch seinen Eigensinn.12

Die Konfrontation Ende 1993, die nicht zuletzt den Ultraliberalen zu verdanken war, führte paradoxerweise dazu, daß sie die Regierungsgewalt verloren: ein Denkzettel der Wähler und das Ergebnis des taktischen Geschicks von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin. Mit ihm sollten die Reformen weitergehen, die Privatisierungen sich ausdehnen, und zwar weniger zugunsten der neuen „demokratischen“ Bourgeoisie als vielmehr zugunsten der überkommenen Nomenklatura, die sich schon um ihren alten Wunsch betrogen glaubte, Besitzer jenes Staatseigentums zu werden, welches sie bisher verwaltet hatte.

Bei dem tragischen Schauspiel Ende 1993 sind wichtige Protagonisten im dunkeln geblieben, die jetzt hervorzutreten beginnen. Da ist zunächst jene „patriotische“, nationalistische Strömung: wirr, undurchsichtig und wandlungsfähig, doch zu Unrecht mit Faschismus in Verbindung gebracht. Niemand übersieht, welchen Wahlvorteil (23 Prozent) es für Wladimir Schirinowski bedeutet, daß die anderen nationalistischen Parteien verboten wurden; auch täuscht sich niemand darüber hinweg, daß Schirinowski in jedem entscheidenden Moment Präsident Jelzin unterstützt hat. Indes hat diese Karte viel von ihrem Nutzen eingebüßt. Auch wenn Verzweiflungswahl und Werbung in den Medien ihm sein Weiterleben auf der politischen Bühne sichern können.

Statt dessen ist ein anderer Akteur im Aufschwung begriffen, nämlich jene Parteien, die sich in sowjetischer Tradition sehen und die im Dezember 1993 rund 30 Prozent der Stimmen erhielten. So brachte die Iswestija kürzlich einen Aufmacher mit dem Titel: „Aus Angst vor der Rückkehr der Kommunisten hortet die Bevölkerung Mehl, Zucker und Konserven“13. Andere Zeitungen schüren Panik, indem sie behaupten, Rußland stehe am Vorabend eines neuen Januar 1933. Der dritte Protagonist sind die Regionen, die im Oktober 1993 vergeblich zu schlichten versucht hatten: Der Schwerpunkt des politischen Lebens hat sich neuerdings zu ihnen hin verlagert.

Die Szene überragt ein gigantischer Schatten: der Tschetschenien-Krieg, ein Abenteuer, das das demokratische wie das patriotische Lager gespalten hat. Kommunisten und Radikalliberale waren (und sind) dagegen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Im April 1995 zeichnete sich die neue Parteienlandschaft ab (siehe Seite 13). Tschernomyrdin und Rybkin kündigten die Bildung zweier großer Blöcke an. Der Ministerpräsident scharte eine „rechte Mitte“ um sich, die auf den „Kompromiß“ zwischen den Finanz- und den Industrieeliten gegründet ist. Der Duma-Präsident übernahm eine „linke Mitte“, die kleine und mittelständische Unternehmer und Staatsbedienstete bindet. So wollte man im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Juni 1996 eine Stabilität an der Spitze erreichen. Ein dritter Block sollte die „patriotischsten“ Vertreter der Industrie aufnehmen, unter Federführung des mächtigen Juri Skokow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Güterproduzenten und ehemaliger Sekretär von Jelzins Sicherheitsrat. Überdies sollte das Wohlwollen der KP unter Sjuganow und seiner Verbündeten aus dem Agrarbereich gewonnen werden. Sie schart die Arbeiterschaft hinter sich. Ebenso sollte die Gunst von Jawlinskis Bewegungung gewonnen werden, der die Finanz- und Handelswelt hinter sich vereint sowie Kontakte zur amerikanischen Verwaltung hat.

Ziel dieser Neugliederung war es, die Liberalen der ersten Stunde – Jegor Gaidar und seine Freunde – auszuschalten, desgleichen solche Populisten wie den General Ruzkoi und den Gaukler Schirinowski.

Doch ein halbes Jahr später erweist sich die Operation als Fehlschlag. Rund 270 „Vereinigungen“ bewerben sich für die Wahl, ganz zu schweigen von einer unüberschaubaren Zahl unabhängiger Kandidaten. Vermutlich dürften etwa dreißig Listen von der zentralen Wahlkommission zugelassen werden. Es wird also in der künftigen Duma keine wirkliche Mehrheit geben. Doch wer vermag vorauszusagen, welche Interessengruppen sich zusammenfinden werden?

Zum ersten Mal seit 1991 wird der politische Diskurs nicht mehr beherrscht von der Forderung nach einer radikalen Wirtschaftsreform, sondern polarisiert sich eher um deren Infragestellung. Die öffentliche Argumentation der kommunistischen und patriotischen Kräfte erweist sich als ansteckend – nicht nur in oppositionellen Kreisen. Sie gliedert sich in folgende drei Bereiche:

– Die „Reform“ hätte von vornherein darauf abgezielt, unter dem Vorwand „spontaner Marktregulierungen und westlicher Hilfe“ ein ganzes Industrienetz zu zerstören. Dies sei auch die Ursache für die „Entindustrialisierung“, die Hand in Hand gehe mit einer „Ausplünderung“ der Ressourcen. Der Aufschwung brauche öffentliche Investitionen, Protektionismus. Eine Ankurbelung des gesellschaftlichen Konsums und nichtmonetaristische Maßnahmen im Kampf gegen die Inflation seien dringend geboten.

– Die soziale Krise werde von den Reformern verkannt, ja, sie setzten auf die Verwirrung, um schneller handeln zu können; so habe sie eine kritische Schwelle erreicht, denn die Arbeitslosigkeit (insgesamt 15 Prozent) ergreife nun auch die großen Industriekomplexe, diese „letzten Inseln der Stabilität“. Die soziale Absicherung müsse dringend (hier sind sich alle einig) einhergehen mit der Wiederherstellung des wissenschaftlichen und kulturellen Potentials.

– Die Außenpolitik sei zu sehr auf die USA ausgerichtet und müsse die „eurasische Berufung“ Rußlands und dessen Hegemonie innerhalb der GUS wiederherstellen. Wobei die oppositionellen Kreise die „Geringschätzung“ anprangern, die Rußland vom Westen erfahre. „Heute Serbien, morgen Rußland“, titelt die Prawda. Die Aktionen der Nato im ehemaligen Jugoslawien, ihre Pläne in der Ukraine, in Aserbaidschan und Mitteleuropa wecken in Moskau das Gespenst des Kalten Krieges.14

Diese in Oppositionskreisen sehr aktuellen Argumentationslinien finden sich, in verkleideter Form, auch in den (untereinander gespaltenen) Milieus des Regierungslagers. Das Ziel von Ministerpräsident Tschernomyrdin ist es, die verschiedenen führenden Interessengruppen mittels eines „patriotisch-liberalen“ Konsenses in „unserem Haus Rußland“ zusammenzuführen. Einige nennen diese Partei „die neue KPdSU“ oder auch „die Partei des Kapitals“. Indes besteht ihr harter Kern aus den Lobbies der Gas- und der Erdölindustrie, deren Politik zu eng auf den Export ausgerichtet ist und die anderen Bereiche, denen das Manna der Petrodollars vorenthalten wird, nicht zufriedenstellen kann. Überdies läßt der Druck des Internationalen Währungsfonds nur einen engen Handlungsspielraum. Im Gegensatz zu ihren Konkurrenten kann die „Regierungspartei“ bei ihrem Wahlkampf auf bedeutende Finanzhilfe und auf die beiden öffentlichen Fernsehsender setzen.

Die „linke Mitte“ wird zersplittert und ohne gemeinsames Programm zur Wahl antreten. Hier gibt es auf der einen Seite die KP-nahen „Etatisten“, auf der anderen Seite die mehr sozialdemokratischen und christdemokratischen Gruppierungen (im westlichen Sinne des Wortes). Von der Tageszeitung Rabotschaja Tribuna abgesehen, hat diese politische Richtung kaum eine Plattform. Die berühmte Nesawissimaja Gaseta ist unter der Last ihrer finanziellen Schwierigkeiten zusammengebrochen, was zeigt, daß es für eine Presse, die weder den Machthabern noch dem Finanzmilieu huldigt, kaum eine Überlebensmöglichkeit gibt.

Die liberalen Kreise leiden insgesamt unter den katastrophalen Folgen, die die Schocktherapie mit sich gebracht hat. Da sehr viele Hochschulabgänger von der Arbeitslosigkeit betroffen sind, ist es ihnen nicht gelungen, sich in einer starken Mittelschicht eine soziale Basis zu schaffen. Überdies besaßen die Radikalliberalen nie eine Mehrheit und haben inzwischen ihren Einfluß auf den Präsidenten verloren. Dennoch können sie sich weiterhin auf eine starke wirtschaftliche Basis stützen: auf den Dachverband der Privatunternehmen, auf dessen Firmen- und Beziehungsnetz. Hierhin fließt eine Reihe westlicher Investitionen, hierher gehören Finanzgruppen, die Verbindungen zum Handel und zum Immobiliengeschäft haben, darunter auch zu Most, dem berühmten Eigner des beliebten Fernsehsenders NTV und der Tageszeitung Segodnja.

Im großen und ganzen ist der gesamte Moskauer Mediensektor in liberalen Händen: angefangen bei der Sensationspostille Moskowski Komsomolez bis hin zu Eliteblättern wie den Tageszeitungen Iswestija und Daily Kommersant sowie den Wochenzeitungen Moskowskije Nowosti und Literaturnaja Gaseta... Diese Trümpfe dürften – zumindest in Moskau und Sankt Petersburg – ein Einbrechen der Liberalen verhindern, von dem vor allem die traditionellen „Demokraten“ betroffen wären. Demgegenüber könnte die Bewegung Jabloko die Früchte eines Wahlkampfs ernten, der gleichermaßen gegen den Ultraliberalismus wie gegen den Staatsmonopolismus zu Felde zieht. Unter allen Parteien sind ihre Mitglieder am ehesten aufgeschlossen gegenüber dem Westen und marktwirtschaftlichen Reformen.

Was die „Patrioten“ und Kommunisten betrifft, so sind sie politisch schwer einzuordnen. Wer das „rot-braune Komplott“ beschwört und – wie Teile der Presse dies tun – zum Beweis auf die Hakenkreuzkämpfer des Alexander Barkaschow verweist und das Ganze als „russischen Faschismus“ abstempelt, der beleidigt ein zutiefst gedemütigtes Volk. Nicht daß die giftigen Blüten des Faschismus in dem sozialen Elend keinen fruchtbaren Boden finden könnten, doch sollte man nicht außer acht lassen, daß auch viele „Patrioten“ und Kommunisten willens sind, dagegen anzusteuern. Im übrigen haben alle diese Etikettierungen etwas von der Verworrenheit, wie sie auch sonst in diesem aus der Bahn geworfenen Land anzutreffen ist. Diese Bewegungen vereinigen in sich die sozialistischen Werte und Verlockungen des Ultranationalismus genauso wie den – bei Skokow deutlich sichtbaren – Willen, einen „nationalen Kapitalismus“ aufzubauen.

Eine andere Unbekannte bei den Wahlen sind die regionalistischen Bewegungen, die Forderungen nach Wahrung ihrer ethnischen Identität ebenso wie die Ansprüche der lokalen Eliten gegenüber dem Moskauer Zentralismus vertreten. Die überregionale Koordinierungsinitiative „Umgestaltung Rußlands“ verficht nicht nur Autonomiebestrebungen im Ural, sondern auch Ideen, die auf russischer Ebene noch kaum richtig einzuschätzen sind. Ihr führender Kopf, Eduard Rossel, will die regionale Autonomie nach nationalen Kriterien aufgehoben wissen zugunsten einer territorialen Gliederung, wie sie zur Zarenzeit bestand. Solche zentrifugalen Bestrebungen weisen zumindest auf einen Schwerpunkt in der politischen Debatte hin: auf die Neubestimmung der Russischen Föderation. Von ihrer Umgestaltung wird in hohem Maße die Wiederherstellung (oder das noch stärkere Auseinanderbrechen) der Gemeinschaft der ehemaligen Sowjetunion abhängen, die derzeit in der GUS organisiert ist. Wenn das „tschetschenische Modell“ Schule macht, so muß man gewiß mit dem schlimmsten rechnen. Jedoch man ist auf der Suche nach anderen politischen Strategien und Projekten.

In der Wahl am 17. Dezember 1995 geht es also um zwei Dinge. Zunächst stellt sich die Frage der Konjunktur der Macht: Wer wird sich 1996 um die Präsidentschaft bewerben? Wie werden Tschernomyrdin und Jelzin sich verhalten? Wie werden die Kräfteverhältnisse sein, welche Bündnisse wird es geben? Das zweite ist die Frage der Strategie: Wie wird Rußlands Politik morgen aussehen? Wer wird den Sieg davontragen, die Vertreter des „Staatsliberalismus“, die ganz auf den Export setzen (Gas, Erdöl), oder die „etatistischen“ Parteigänger von Protektionismus und breiter Wiederankurbelung der Wirtschaft? Im Hintergrund der Wählerschaft zeichnet sich vage ein erbittertes Tauziehen der Lobbies ab: Die Auseinandersetzung um Staatseigentum und staatliche Kontrolle ist nicht abgeschlossen, sondern steht vor einem neuen, entscheidenden Wendepunkt.

Ein beginnender wirtschaftlicher Aufschwung hätte die Grundlage für einen „Kompromiß der Eliten“ geschaffen. In der Tat hat sich das Abfallen des Bruttoinlandsprodukts verlangsamt (4 Prozent für den Zeitraum von Januar bis Juni 1995). Auch die Inflationsrate hat sich abgeschwächt, doch einige Experten meinen, sie werde im Januar 1996 wieder auf 10 Prozent ansteigen. Und was den Haushalt betrifft, so werde der Staat 1996 46,2 Prozent – gegenüber 3 Prozent 1993 – seines Etats für die Rückzahlung seiner Schulden ausgeben müssen, also nahezu die Hälfte aller Staatsausgaben beziehungsweise den siebten Teil des Bruttoinlandsproduktes.15 Demgegenüber sind die Sozialausgaben in Rußland von 9,5 Prozent im Jahre 1994 auf 5,6 Prozent im Jahre 1995 gesunken.

Der russische Rechnungshof erwartet, daß die Inlandsnachfrage wie auch die privaten Investitionen weiter zurückgehen werden; daß noch mehr Kapital aus dem Produktions- in den Finanzbereich wechseln werde. Auch sollen die ohnehin enorm hohen Rohstoffexporte noch einmal zunehmen16 – diejenigen Exporte also, die jeden Monat jene eine Milliarde Dollar erbringen, die als „flüchtiges Kapital“ auf ausländischen Konten landet.

Wo und wann wird der Niedergang zum Stillstand kommen? Die Antwort steht in den Sternen – aber nicht in denen des kommenden Dezember.

dt. Eveline Passet

1 Vgl. Jean-Marie Chauvier, „Moscou du bien- vivre, Moscou du mal-mourir“, Le Monde diplomatique, April 1995.

2 Gudok, 1. September 1995, Obstschaja Gaseta, 28. September 1995, Iswestija, 5. Oktober 1995.

3 Obstschaja Gaseta, 28. September 1995.

4 Komsomolskaja Prawda, 30. September 1995.

5 Iswestija, 5. Oktober 1995.

6 Zu diesen Razzien vgl. Komsomolskaja Prawda, 15. September 1995, und Sevodnja, 29. Sept. 1995.

7 Zur sozialen Krise in Rußland vgl. das Dossier von Marie-Hélène Mandrillon, „Problèmes politiques et sociaux“, La Documentation française, Paris, 14. April 1995.

8 Moskowskije Nowosti, 3. September 1995.

9 Prawda, 29. September 1995. Der einstige antikommunistische Arbeiterführer kandidiert bei den Wahlen für... die Kommunistische Partei.

10 Iswestija, 8. September 1995.

11 Vgl. Véronique Garroz (Hg.), „Russie post-soviétique: la fatigue de l'histoire?“, Brüssel 1993.

12 Vgl. Le Monde diplomatique, Oktober und November 1993 und Februar 1994.

13 Iswestija, 11. Oktober 1995.

14 Prawda, 14. September 1995.

15 Iswestija, 17. Oktober 1995.

16 Iswestija, 13. Oktober 1995.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Jean-Marie Chauvier