10.11.1995

Der Zerfall der maronitischen Welt

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Der Zerfall der maronitischen Welt

WENN es um die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte im Libanon ging, war in bestimmten Presseorganen lange Zeit die Rede von der „Schweiz des Orients“, die zunächst ein „Wirtschaftswunder“ erlebt habe, um sodann in die schlimmste Barbarei abzustürzen, in die sogenannte „Libanisierung“. Der erste Roman von Georges Farchakh, der jetzt auf französisch vorliegt1, zeigt, daß die Barbarei inmitten des „Wunders“ längst Einzug gehalten hatte. Farchakh erzählt die Geschichte von Oum Farès und ihren direkten Vorfahren und Kindern und verfolgt so über drei Generationen die Schicksale der Bewohner des maronitischen Dorfes im Norden des Libanon, aus dem er selbst stammt. Er zeichnet die Entwicklung dieser Region nach – vom Anfang des Jahrhunderts, als die Hungersnot viele zur Auswanderung nach Amerika zwang, bis zu den Folgen der Massaker, die innerhalb der maronitischen Gemeinschaft stattfanden, nachdem im Juni 1978 die „Forces libanaises“ den Sohn des Präsidenten Soliman Frangié umgebracht hatten.

Diese beiden Katastrophen sind von ganz unterschiedlicher Art. Die eine ist eine Naturkatastrophe, die keine Veränderung im Denken und Fühlen der Menschen bewirkt, aber auf lange Sicht zur Entstehung des modernen Libanon beiträgt. Farchakh beschreibt nun sehr einfühlsam die folgenden Jahre (die durchaus korrekte Übersetzung gibt das nur unvollständig wieder), in denen die regionale Gemeinschaft gedeiht und sich in einem Klima der inneren Harmonie, des guten Einvernehmens und respektvollen Zusammenlebens mit den Muslimen im nahe gelegenen Tripoli entwickelt.

IN den fünfziger Jahren tritt ein plötzlicher Wandel ein: Der „Narr“, die Stimme des Autors, erinnert sich, daß „alles damit anfing, daß wir von der Seidenzucht und dem Gemüseanbau zu Zitrusplantagen und Kartoffelanbau übergegangen sind [...], und dann kam noch die Änderung des Wahlsystems [...], als die Abgeordneten plötzlich einen Wahlkreis oder einen ganzen Distrikt vertraten.“ Mit anderen Worten begann der Niedergang mit dem rasch wachsenden Wohlstand des Landes, den sich die politische Klasse durch den systematischen Ausbau der konfessionellen Grenzen aneignen wollte. So kommt es in Zghorta, der wichtigsten maronitischen Stadt der Region, zu den ersten tödlichen Konflikten zwischen christlichen Familien – ein Vorspiel jener Wellen von blutigen Auseinandersetzungen, die das Land 1958 erfassen und sich 1975, vor dem Hintergrund des israelisch-arabischen und des palästinensisch-libanesischen Krieges, noch steigern werden. Das soziale und kommunitäre Geflecht der Beziehungen ist zerrissen, die Gemeinschaft zerfällt.

Aber der Erzähler läßt – vielleicht unbewußt – anklingen, daß die Ursachen für diesen Verfall tiefer liegen: Er beruht auf den traditionellen Wertmustern, die den Reichtum zum höchsten Ziel erklären, selbst wenn er mit Entbehrung und Mühen erreicht werden muß.

In groben (vielleicht etwas zu groben) Zügen wird sodann skizziert, welche Dummheit die isolationistische Politik des Gemayel-Clans (der Forces libanaises) bedeutete und wieviel klüger die Positionen der Frangié-Sippe waren, die sich stets um das Zusammengehen mit den anderen Gemeinschaften im Dienst der arabischen Sache bemüht hat. Jedenfalls nimmt der Autor all jenen, die den Libanon von einst verklären, die Illusion, ein christlich geführter Libanon wäre moralisch oder politisch die bessere Lösung gewesen.

BUTROS HALLAQ

1 Georges Farchakh, „Oum Farès, une mère dans la tourmente libanaise“. Aus dem Arabischen von M.-Ch. Weber, Paris (Publisud) 1995

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Butros Hallaq