10.11.1995

Ethik ist keine Frage der Technik

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Ethik ist keine Frage der Technik

BIOMEDIZIN UND GESELLSCHAFT

Ethik ist keine Frage der Technik

Von

JACQUES

TESTART *

ALS der Begriff „Bioethik“ vor 25 Jahren von einem amerikanischen Biologen aufgebracht wurde, bezog er sich auf ethische Fragen, die das Leben als Ganzes betreffen. Und es ist noch keine zehn Jahre her, seitdem Professor Jean Bernard die Bioethik als die Erforschung der „Beziehungen der Seele zu ihrem Umfeld“ definierte – womit die Staatliche Ethikkommission, der er damals vorsaß, eigentlich aufgefordert war, sich mit den Atomversuchen im Pazifik und mit dem hartnäckigen Anwachsen der Arbeitslosigkeit zu befassen... Aber da hatte die Bioethik bereits ihre ganze Aufmerksamkeit der Medizin zugewandt, weil die biomedizinischen Technologien immer wichtiger wurden. In diesem Bereich verlief die Entwicklung in atemberaubendem Tempo, und die Forschungsergebnisse waren von Bedeutung für die Wirklichkeit wie für die Phantasie der Menschen.

Die Bioethik kümmerte sich seither also nicht mehr um die „Beziehungen der Seele zu ihrem Umfeld“, sondern widmete sich gezielt dem Verhältnis von Biomedizin und Gesellschaft. Konflikte mit dem Fortschrittsdenken ergaben sich vor allem in bezug auf die neuen Technologien zur medizinischen Unterstützung der Zeugung, ein Thema, bei dem vielen gleich die Geheimnisse von Sexualität, Leben und Tod in den Sinn kommen. Die Ethikdiskussion, die fortan Medien und Fachkongresse beherrschte, befaßte sich also mit Fragen, die rasch Popularität gewannen und jedem ein kompetentes Urteil erlaubten, der begreifen konnte, was es mit dieser Technik auf sich hatte. Auch die Fragestellungen waren so gehalten, als solle auch der breiten Masse ein sachverständiges Urteil erlaubt werden: Was soll mit den tiefgekühlten Embryos geschehen? Was passiert, wenn die Trägermutter das Kind nicht hergeben will? Haben die Kinder zwei Väter oder zwei Mütter? Kann man bereits im Ei die Eigenschaften des künftigen Menschenwesens bestimmen? Mit solchen Schlagzeilen weckten die Zeitungen das Interesse für die Möglichkeiten und schürten zugleich die Angst vor dem Unbekannten.

In jüngster Zeit ist die Frage nach dem Verhältnis von Biomedizin und Gesellschaft noch einmal enger gefaßt worden: die Auseinandersetzung findet jetzt zwischen den Experten selber statt. Dabei geht es um Expertengutachten. So befaßt sich denn fast die gesamte Gemeinde der Bioethiker mit Fragen der wissenschaftlichen Technik: Ist die Injektion eines Spermatozoons in die Ovozyte (Intracytoplasmic Sperm Injection oder ICSI) mit Gefahren verbunden? Werden die Kinder normal sein? Was passiert, wenn das Spermatozoon durch eine Spermatide ersetzt wird?1

Angesichts solcher Fragen ist der geschulte Ethiker ebenso ratlos wie der normale Bürger. Als die Praktiken der medizinischen Unterstützung der Zeugung aufkamen, mochten der Bäcker, die Lehrerin oder der Unternehmer ja noch in der Lage gewesen sein, über die Hoffnungen oder Ängste Auskunft zu geben, die sie dabei empfanden. Aber wer weiß schon, was er von ICSI halten soll, außer er betet eine Expertenmeinung nach. Welche Meinungen Konjunktur haben, hängt wiederum vom rhetorischen Geschick der Befürworter und der Präsentation in den Medien ab.

Offensichtlich haben wir es hier mit einer ganz neuen Qualität sogenannter „ethischer“ Probleme zu tun: ob die Zeugung per ICSI mit einer Spermatiden statt mit einem Spermatozoon vonstatten geht, ist eine bloß technische Variante, das Ziel aber bleibt, einem „unfruchtbaren“ Mann die Vaterschaft zu ermöglichen; die Entscheidung für eine der beiden Zellen statt für eine Spermaspende eröffnet dagegen einem Mann die Aussicht, mit seinen eigenen Keimzellen, statt mit denen eines Spenders zu zeugen, und das macht einen ethischen Unterschied. Zeugungsunfähigen Männern ist das durchaus klar. Die jüngste „Debatte“ aber unterschlägt den wesentlichen Punkt: Kein Urteil verdient die Bezeichnung „ethisch“, wenn es den Sinn des Handelns außer acht läßt und eher auf dessen angebliche Realisierbarkeit abhebt als auf seinen unabdingbaren humanen Gehalt, wenn es von den Gemütsbewegungen, jenem „Band zwischen den Dingen, die sonst nichts verbindet“ (Paul Valéry), nichts wissen will.

Welche Verkürzung der Ethik auf Technik hier stattfindet, wird deutlich, wenn in der Zeitschrift Nature ein Artikel mit dem Titel „Die Spermatideninjektion befruchtet die Ethikdebatte“2 erscheinen kann. Was für eine „Ethikdebatte“ sollte denn stattfinden, wenn es darum geht, ob das Spermatozoon durch eine andere Zelle gleicher Herkunft und mit gleichem Potential, aber ohne gewisse Eigenschaften wie etwa den Faden, mit dem sie sich fortbewegt, ersetzt wird? Lediglich zwei Fragen stellen sich im Zusammenhang mit dieser Technik: Sollen die Aktivitäten von Samenbanken eingeschränkt werden? Ist es vertretbar, Kinder in die Welt zu setzen, die vielleicht das Leiden ihres Vaters (Zeugungsunfähigkeit) erben? Daß die Kontrahenten diese wirklich ethischen Fragen gar nicht erst angehen, liegt daran, daß die Antwort auf die erste nur ein Ja sein kann, während die zweite in das heikle Gebiet der Eugenik führt.

Nach dem Gesetz über die Bioethik vom Juli 1994 liegt in Frankreich die Entscheidungsbefugnis über Forschungen am Embryo nicht etwa bei einer Ethikkommission, sondern bei einem Verwaltungsgremium, der Staatlichen Kommission für Fragen der medizinischen und biologischen Reproduktion. Man darf annehmen, daß die Forschungen dort nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Wissenschaftlichkeit, ihrer Machbarkeit, ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen bewertet werden, aber keineswegs im Hinblick auf die Folgen, die daraus für das Leben der Menschen, ihren Subjektstatus, ihr Zusammenleben mit anderen, ihr Wohlbefinden zu erwarten sind. So ist zum Beispiel leicht vorhersehbar, daß Forschungen über die Selektion der besten Embryos aus der Zahl derer, die im Reagenzglas erzeugt wurden, nicht nur Auswirkungen auf die Erbeigenschaften der beteiligten Familien, sondern auch auf die Fortpflanzungsvorstellungen jedes Menschen und sogar auf die Vorstellung von menschlicher Normalität haben werden.3 Wer das nicht begreifen will, ist offenbar bereit, die vorhandenen Möglichkeiten dieser Technik wie einen Sortimentskatalog zu betrachten.

Es sei an jene Stellungnahme der Staatlichen Ethikkommission erinnert, in der die Appelle zur Zurückhaltung sofort relativiert werden: Diese oder jene Restriktion, heißt es da, könne „nach Maßgabe der weiteren Entwicklung der Kenntnisse oder Techniken“ revidiert werden. Als könne die Fähigkeit, etwas zu tun, diesem Tun einen Sinn verleihen, als könne man die Moral abhängig machen von dem, was machbar ist. In dieser Optik sind bei der Lösung von Problemen die Kriterien von Wissenschaft und Technik entscheidend – die ethische Kritik hat sich zu fügen.

„Was nicht wissenschaftlich ist, das ist auch nicht ethisch“, hatte Jean Bernard noch 1990 bekräftigt und damit klargestellt, daß medizinischer Forschungsdrang es niemals an moralischer Entschiedenheit fehlen lassen dürfe. Die Formel zeigt auch schon die Grenzen dieser Ethik: Die Gefühle, etwa Verlangen und Schmerz, kommen in ihr nicht vor. Zwei Jahre später dreht Alain Pompidou die Formel einfach um und erklärt: „Was ethisch ist, ist zwangsläufig auch wissenschaftlich.“ Das Gute ist also notwendig vernünftig, und daraus folgt, daß man sich nur an die Regeln von Wissenschaft und Technik halten muß, und schon tut man ein moralisch einwandfreies Werk.

Die Frage nach dem Aufgehen der Ethik in der Technik hatte sich bereits gestellt, als Anfang der siebziger Jahre die ersten Samenbanken angelegt wurden. Um kommerziellem Mißbrauch und unkontrollierter Insemination entgegenzuwirken, erfand man die „anonyme und kostenlose“ Spende, die aber nur unter bestimmten technischen Voraussetzungen zu gewährleisten war. Mit dieser Rechtfertigung konnte man auch die Idee der Samenspende absegnen, ohne daß ernsthaft über die Auswirkungen des Vorgangs für Eltern und Kind nachgedacht wurde. Dabei wurde rasch deutlich, daß die Praxis, aufgrund ihrer Institutionalisierung, durch eine Reihe von Sachzwängen (medizinisch überwachte Auswahl des Spenders, eugenisch bestimmte Verbindung von Spender und Empfängerin, Anonymitätszwang des Spenders usw.) bestimmt sein würde. Unter diesen Voraussetzungen hat die Zweckrationalität einer unzweideutig von der Veterinärmedizin inspirierten Technik allgemeine Zustimmung gefunden. Ethische Bedenken wurden beiseite geschoben. Liest man die mittlerweile altehrwürdigen Schriften des Biologen und Moralisten Jean Rostand4, so findet man eine eigenständige Auffassung von Ethik, die damals noch „Moral“ hieß, und muß zur Kenntnis nehmen, welch ein Niedergang im Nachdenken über die Wissenschaft stattgefunden hat.

In jüngerer Zeit ist es zur Pflicht geworden, die Einführung neuer biomedizinischer Techniken öffentlich zu rechtfertigen, wenn durch sie eine Verletzung der Würde oder der Rechte des Menschen bis hin zu den Rechten künftiger Generationen droht. Solche Debatten auf einen Expertenstreit zu reduzieren ist jedoch nicht allzu schwer. Auf einem anderen Gebiet ist das erst kürzlich vorgeführt worden: Der politische Sprengstoff der französischen Atomversuche wurde entschärft, indem man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Frage der Gefährdung der unmittelbaren Umgebung lenkte, deren Wahrscheinlichkeit dann von gewissen Experten prompt in Abrede gestellt werden konnte. Die Konfrontation dieser Experten mit Vertretern der Gegenmeinung okkupierte den öffentlichen Raum, und der Bürger in seiner Inkompetenz hatte da nichts mitzureden. Selbstredend ist niemand außer den Technikexperten in der Lage, das technologische Risiko abzuschätzen, über die gesellschaftlichen und menschlichen Folgen einer politischen oder technischen Entscheidung aber kann sich durchaus jeder seine Gedanken machen.

Die Zusammensetzung der Ethikkommissionen zeigt deutlich, in welchem Maße, und ganz offiziell, die demokratischen Entscheidungsprozesse von den Advokaten des technischen Fortschritts bestimmt werden. In Frankreich etwa wird die Staatliche Beratende Kommission für Fragen der Ethik (CCNE) von zwei Wissenschaftlern dominiert, die zugleich Kapazitäten im Bereich der Neurobiologie bzw. der Molekulargenetik sind, also in ethisch besonders sensiblen Disziplinen. Im Rahmen der EU gibt es, häufig mit zeitlich begrenzter Aufgabenstellung, eine Vielzahl fachübergreifender Kommissionen zur Erörterung ethischer Fragen, in denen die Experten zahlreich und tonangebend sind, selbst wenn die Leitung eines solchen Gremiums einmal bei einem Nichtwissenschaftler liegt. Die Entscheidung, die Kommissionen so stark mit Experten zu besetzen, ist in doppelter Weise widersinnig. Abgesehen davon, daß die Vertreter von Wissenschaft und Technik Richter und Partei in einem sind, ist es praktisch ausgeschlossen, in jede Kommission die thematisch jeweils kompetentesten Sachverständigen zu entsenden. Der gesunde Menschenverstand hätte geboten, nur im Einzelfall Experten hinzuzuziehen, die der Kommission die nötige Sachkenntnis liefern, jedoch kein Stimmrecht erhalten würden. Daß diese Lösung nicht gewählt wurde, hat nicht nur mit dem Einfluß bestimmter Interessengruppen zu tun. Offenbar haben sich die Bürger damit abgefunden, daß Wissenschaft und Technik ihre dienende Rolle gegen eine beherrschende Position getauscht haben.

dt. Rolf Schubert

SABA LAUDANNA – Denkt er an die Folgen?

1 Die Spermatide ist die männliche Geschlechtszelle, aus der sich das Spermatozoon entwickelt, das einen Samenfaden besitzt, mit dessen Hilfe es sich auf die Eizelle zubewegt und in sie eindringt. Diese Eigenschaft ist natürlich überflüssig, wenn man den männlichen Gamet in den weiblichen injiziert.

2 Nature, Nr. 377, 28. September 1995

3 Vgl. Jacques Testart, „Le Désir du gène, Paris 1994 (Flammarion), Reihe „Champs“.

4 Jacques Testart, „Des grenouilles et des hommes. Conversations avec Jean Rostand“, Paris 1995 (Stock).

* Biologe und Forschungsleiter am Institut national de la santé et de la recherche médicale, Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Jacques Testart