12.01.1996

Die Umdeutung der Schlüsselbegriffe

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Die Umdeutung der Schlüsselbegriffe

Von

CLAUDE

JULIEN *

KEIN Zweifel: Mit bloßem Flickwerk ist es nicht getan, es würde das Todesurteil bedeuten für die Kranken- und Rentenversicherung, den öffentlichen Dienst, die kostenlose Bildung und so weiter. Diese sozialen Errungenschaften lassen sich nur um den Preis einer tiefgreifenden Reform bewahren, die den Weg in eine Modernität bahnt, die dank der wunderbaren Dynamik der Märkte den Wohlstand aller in einer globalen Wirtschaft garantieren wird. Dieser notwendige Wandel setzt natürlich die Abschaffung der Privilegien voraus und verlangt einige Anstrengungen, ohne die eine bessere Zukunft nun einmal nicht zu haben ist. Für alle. Wer wäre so dumm oder egoistisch, sich dagegen zu sträuben?

So lichte Perspektiven hätten eigentlich hoffnungsfroh stimmen müssen. Doch es kam anders, weil es den „Massen“ an Einsicht fehlte; den brillanten Plan, den die „Eliten“ ausgearbeitet hatten, vermochten sie nicht angemessen zu würdigen. Der Enthusiasmus erlahmte und verflog. Er erlahmte, als die Regierung die Mehrwertsteuer erhöhte, eine besonders ungerechte Steuer, die dem Staat aber 61 Prozent seiner Einnahmen beschert. Eine verschmerzbare Abgabe, wie die „Experten“ meinen. So leicht zu verschmerzen, daß der Konsum im Oktober 1995 um 4,4 Prozent zurückging... Vorbei war die Aufbruchstimmung, als die Nutznießer der abzuschaffenden Privilegien beim Namen genannt wurden: Zuerst, doch das waren die unbedachten Worte eines unverantwortlichen Ministers, sprach man von faulen Sozialhilfeempfängern und Scheinarbeitslosen; danach, und das waren schon sehr viel reifere und überlegtere Äußerungen, von jenen Bessergestellten, die in sicherer Stellung auf hübsche Pensionen warten.

Bedauerliches Mißgeschick eines allzu kühlen und allzu technokratischen Premierministers, sagen seine Freunde. Vor allem war er schlecht informiert: Nicht einen Moment lang kam ihm der Gedanke, daß das gute Volk, wie unbedarft auch immer, durchaus weiß, daß es wirkliche Privilegierte gibt:

– jene 20 Prozent der Franzosen, die vom gesamten Vermögen des Landes 68,87 Prozent für sich beanspruchen. Dennoch macht die Vermögenssteuer, die in Frankreich nicht so hoch ist wie bei den Nachbarn, nur 5 Prozent der Staatseinnahmen aus. Die Privilegierten der Bahn, der Pariser Verkehrsbetriebe und der Post hingegen gehören zu jener doppelt so großen Schicht (40 Prozent der Bevölkerung), die sich mit 2,77 Prozent des Vermögens begnügen muß;

– jene 20 Prozent der Franzosen, die über 43,85 Prozent des Einkommens aller Haushalte verfügen, während die 20 Prozent der Ärmsten sich mit 6,01 Prozent begnügen müssen. Aber werden in unserer Republik solche Ungleichheiten nicht durch die proportionale und progressive Besteuerung korrigiert? Irrtum: Einem Ehepaar mit zwei Kindern, dessen Einkommen ungefähr dem Mindestlohn (SMIC) entspricht, das also etwa 85000 Franc im Jahr verdient, werden alles in allem 46,85 Prozent abgezogen, während sich dieser Steuersatz bei einem Einkommen von 400000 Franc auf 40,17 Prozent reduziert.1

Die Beschäftigten, die ihre Arbeit niedergelegt haben und durch die Straßen marschiert sind, kannten diese Zahlen sicher nicht. Daß sie im Vergleich zu den Arbeitslosen und „Ausgeschlossenen“ tatsächlich Privilegierte sind, wissen sie selbst, aber sie dulden es nicht, daß Leute sie so bezeichnen, die zu den 20 Prozent der wirklich Reichen gehören. Die Streikenden wären mit umfassenden Reformen, die sich an den von Edouard Balladur und Alain Juppé benutzten Schlüsselwörtern orientieren, einverstanden – gesetzt, man gibt diesen Wörtern einen radikal anderen Sinn:

1) Modernität: Moderne Technologien machen noch keine moderne Gesellschaft aus. In seiner Analyse der Verarmung des amerikanischen Mittelstands spricht Edward N. Luttwak zu Recht von „Dritte- Welt-Verhältnissen“ in den USA. Die Konzentration des Reichtums hat einen solchen Grad erreicht, daß die reichsten Amerikaner in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Umgebung „allmählich den Reichen der Dritten Welt gleichen. Diese Art Reichtum, der die Länder der Dritten Welt [und die USA] kennzeichnet, ist nicht nur eine Folge der Unterentwicklung, sondern auch eine ihrer Ursachen.“2 „Modernität“ setzt voraus, daß der erwirtschaftete Reichtum breit verteilt wird, um die Binnennachfrage anzukurbeln.

2) Märkte: Nachdem sie zehn Jahre lang vom Sozialismus aufs übelste gegängelt wurden, wird es die Parlamentsmehrheit den Märkten jetzt endlich gestatten, die Rolle zu spielen, die ihnen gebührt. Zwar ließ schon die Linke zwischen 1987 und 1993 die Kapitaleinkommen siebenmal schneller steigen als die Arbeitseinkommen3, doch die Rechte muß es eben noch besser machen. „Der Devisenmarkt“, erklärte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, „wird von Idioten beherrscht, von kleinen Bankangestellten, die nur auf ihre momentanen Eingebungen oder das Gerede ihrer Kollegen hören.“4 Idioten? Jedenfalls haben sie in den Vereinigten Staaten den Zusammenbruch der Sparkassen und in Frankreich den des Crédit lyonnais ausgelöst. Neben den Idioten gibt es die Hochstapler, wie einige spektakuläre Fälle von Bankrott in Europa, Amerika und Asien zeigen. Auf der Suche nach dem schnellen Profit wurde das Kapital immer mobiler, während jedes Entwicklungsprojekt, im Norden wie im Süden, auf stabile und langfristige Investitionen angewiesen ist. Deshalb regte ein Wirtschaftsnobelpreisträger – und verschiedene Finanzfachleute sind ihm darin gefolgt – schon vor Jahren an, die Bewegungen des Spekulationskapitals zu besteuern. Die Staaten haben es nicht gewagt. Durch den Verzicht auf ihre Souveränität verschleudern sie die Reste jener Legitimität, die das allgemeine Wahlrecht ihnen verliehen hat. Märkte? Aber gewiß doch, vorausgesetzt, man hält sie im Zaum.

3) Globalisierung: Sind die jüngsten Streiks „der erste Aufstand gegen die Globalisierung“5? Wohl eher gegen ihre gesetzlose Realisierung. Vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank propagiert6, hat sich eine regelrechte Ideologie des Freihandels der Köpfe bemächtigt. Während die kommunistische Bedrohung diese Ideologie einst dazu zwang, sich eine gewisse Mäßigung Aufzuerlegen, ist seit dem Verschwinden des „Reichs des Bösen“ künftig nur ein starker innerer Druck in der Lage, der Globalisierung Regeln vorzuschreiben, etwa solche, die Betriebsverlagerungen an Standorte unterbinden, die dem sozialen Dumping Vorschub leisten. Um nochmals Edward N. Luttwak zu zitieren: „Die Globalisierung des Handelsverkehrs ist kein Phänomen, gegen das man machtlos ist, sondern läßt sich durchaus kontrollieren.“7 Das aber kann kein Land für sich allein, und die Europäische Union wird es so lange nicht tun, wie die Forderungen der Streikenden nicht ihrerseits eine globale Perspektive einnehmen. Während die Vereinigten Staaten unter Freihandel den Abbau des öffentlichen Dienstes und die Streichung staatlicher Subventionen verstehen, ist für die Arbeitnehmer ein „Freihandel“, der das Attribut „frei“ verdient, nur mit solchen Ländern möglich, in denen insbesondere die gewerkschaftlichen Rechte respektiert werden. Die Gewerkschaftsbewegung und die fortschrittlichen Gruppen insgesamt haben an Terrain eingebüßt, weil sie diese Form des Internationalismus aus den Augen verloren haben.

4) Einheitswährung: Die Europäische Union muß die planetare Entwicklung mitbestimmen, und zwar im Namen einer anderen Ideologie als der eines entfesselten Liberalismus. Deshalb braucht sie eine Einheitswährung. Diese soll, wie die einen meinen, einen wirtschaftlichen Fortschritt garantieren, aus dem sich „von selbst“ ein sozialer Fortschritt ergibt, während die anderen sie als das absolute Böse verketzern, da die „Konvergenzkriterien“ von Maastricht eine rigide Sparpolitik fordern, die schon jetzt die Menschen mit den niedrigsten Einkommen zur Kasse bittet. Doch nur im Rahmen der Europäischen Union kann der „rheinische Kapitalismus“ dem „angelsächsischen Kapitalismus“ Paroli bieten.8 Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen springt ins Auge: In Frankreich verfügt das Zehntel der Wohlhabendsten über 28 Prozent des nationalen Einkommens, in den Vereinigten Staaten über 70 Prozent.9 Die Arbeitnehmer haben keinen Anlaß, ein der liberalen Ideologie unterworfenes Europa zu akzeptieren, und sie werden auch nicht mit nationalen Reformen vorliebnehmen, die die Privilegien der Reichen erweitern oder auch bloß unangetastet lassen.

Statt die rund fünftausend Abänderungsanträge für den Text einzubringen, der die Regierung ermächtigt, ihre Reformen auf dem Verordnungsweg durchzusetzen, das heißt statt eine banale und sterile Obstruktionspolitik zu betreiben, hätte die Opposition besser daran getan, der Nationalversammlung – und der Öffentlichkeit – einen einzigen Text vorzulegen, der klar und konstruktiv genug hätte sein müssen, um der Kraftprobe scharfe Konturen zu geben. Was sie nicht begriffen hat, hat ein amerikanischer Beobachter klar erkannt. William Pfaff, der beklagt, daß die Amerikaner „mit einer erstaunlichen Fügsamkeit“ seit fünfzehn Jahren das Sinken ihres Lebensstandards hinnehmen, stellt fest: „Die Franzosen sind kein fügsames Volk.“ In den jüngsten Streiks sieht er „eine Phase im Kampf um die ökonomische und soziale Zukunft Europas – und vielleicht auch der Vereinigten Staaten“10. Eben darin liegt Europas große Bedeutung.

dt. Andreas Knop

1 Ducamin-Bericht, Commission d'études des prélèvements fiscaux et sociaux pesant sur les ménages, Finanzministerium, Paris, 17. Januar 1995.

2 Edward N. Luttwak, „Weltwirtschaftskrieg: Export als Waffe – aus Partnern werden Gegner“, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt), 1994.

3 Berichte des Centre d'études des revenus et des coûts (CERC). Vgl. auch Claude Julien, „Kleine Diagnose des sozialen Bruchs“, Le Monde diplomatique (dt.), Juni 1995.

4 Helmut Schmidt, Interview mit Le Monde, 12. Januar 1993.

5 Titel eines Artikels von Erik Izraelewicz, Le Monde, 7. Dezember 1995.

6 Susan George und Fabrizio Sabelli, „Kredit und Dogma“, Hamburg (Konkret), 1995.

7 Edward N. Luttwak, vgl. Anm. 2.

8 Michel Albert, „Kapitalismus contra Kapitalismus“, Frankfurt a. M./New York (Campus), 1992.

9 International Herald Tribune, 23. August 1995.

10 William Pfaff, „U.S.-British Capitalism or Europe's Model of Social Capitalism“, International Herald Tribune, 15. Dezember 1995.

* Vorsitzender der Französischen Liga für Bildungs- und Unterrichtswesen.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Claude Julien