12.01.1996

Die UNO im Klammergriff der Großmächte

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Die UNO im Klammergriff der Großmächte

ÜBER die Mißerfolge der Organisation der Vereinten Nationen ist bereits alles gesagt worden; es scheint ihr nicht zu gelingen, in den internationalen Beziehungen eine führende Rolle einzunehmen. Doch ihre Unzulänglichkeiten und Mißerfolge gehen auch auf das Konto der Völkergemeinschaft, von welcher sie geschaffen worden ist, und speziell auf das ihrer einflußreichsten Mitglieder, die wirtschaftlichen und militärischen Großmächte. Eine weitreichende Reform ist nötig, in erster Linie beim Sicherheitsrat, der seit 1945 von wenigen Mitgliedsstaaten kontrolliert wird.

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

Als die Vereinten Nationen 1945 gegründet wurden, wollten sich ihre Mitgliedsstaaten ausdrücklich für die Wahrung des Friedens sowie für eine gerechtere Welt einsetzen. Doch in Wirklichkeit stand ihre Politik bis 1989 unter dem Einfluß der Unwägbarkeiten des Kalten Krieges. Nach dem Fall der Berliner Mauer nahmen dann die Vereinigten Staaten die UNO unter dem Deckmantel der Neuen Weltordnung in Beschlag. Die Welt sah dem plötzlichen Zusammenbruch des Kommunismus tatenlos zu und war darüber hinaus von der ausgeprägten Wirtschaftskrise in Anspruch genommen. So wurde niemand so recht gewahr, wie sich die Fehlschläge der Weltorganisation summierten. Alle Reformvorschläge, von denen letztes Jahr anläßlich der mit großem Pomp gefeierten Festlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum die Rede war, mußten unter diesen Voraussetzungen reines Wunschdenken bleiben.1

Eine wichtige Schwachstelle der UNO ist ihr Defizit. Am 10. August 1995 beliefen sich die ausstehenden Beiträge auf 3,9 Milliarden Dollar (858 Millionen für den regulären Haushalt und 3 Milliarden für das Budget der Friedenseinsätze).2 Die größten Mitgliedsstaaten verletzen den Artikel 17 der UNO-Charta3, indem sie sich weigern, ihren Anteil zu bezahlen, obwohl dieser im Vergleich zu den staatlichen Militärausgaben oder zu dem Geschäftsvolumen des Privatsektors unbedeutend ist.

Wo immer ein Krieg ausbricht, marschieren die UNO-Truppen auf und versuchen mit erfolglosen und kostspieligen Mitteln, Frieden zu stiften. Doch wenn die Vereinigten Staaten entscheidende Friedensverhandlungen führen, wie im Fall von Palästina oder Bosnien, sind die Blauhelme nicht dabei.

Dagegen werden sie von Washington benutzt, um manche Völker mittels fragwürdiger Verfahren auszuhungern. So wird der Irak ausgezehrt und Libyen für ein Flugzeugattentat geächtet, über das nach wie vor keine unabhängige Untersuchung durchgeführt worden ist.4

Während der Unabhängigkeitsprozeß der kolonisierten Länder noch der UNO gutgeschrieben werden konnte, scheint sie heute vollends unfähig geworden zu sein, die Emanzipationsbestrebungen von Menschen und Völkern zu fördern, trotz der – oft unwirksamen und formelhaften – Forderungen nach Menschenrechten und Demokratie.

Obwohl der Organisation eine Rechtspersönlichkeit zuerkannt worden ist, war sie bislang nicht in der Lage, eine eigene Identität zu entwickeln, die auf soliden demokratischen Grundlagen fußt und deren Mitglieder sich so viel Achtung entgegenbringen, daß sie selbstbewußt und stolz zu ihrer Zugehörigkeit zur UNO stehen. Auch nach fünfzig Jahren praktischer Erfahrung sieht man keine Spur Entwicklung zu einer unabhängigen und starken politischen Kraft.

Im Vordergrund ihrer Politik stehen die alles beherrschenden Machtinteressen. So ist es nicht verwunderlich, daß die UNO bislang unfähig war, den schwächsten Staaten, den bedrohten Völkern oder den Verfolgten eine Aussicht auf eine gerechtere Welt zu geben.

Das Erschießen oder Erhängen von Oppositionellen, Herstellung, Handel und Einsatz von Rüstungsgütern, die von Personenminen bis zu nuklearen Sprengköpfen reichen – das waffenfähige Uran5 oder die Laserwaffen nicht mitgerechnet –, ethnische Säuberungen, offene oder versteckte Kriege, die irreparable Zerstörung der Umwelt, die Bestrafung eines ganzen Volkes für die Vergehen eines einzelnen Staatschefs – all dies geschieht trotz der Existenz der UNO und bisweilen sogar mit ihrer Zustimmung, wie im Golfkrieg. Der Krieg in Bosnien konnte zwar einstweilen gestoppt werden, aber nicht durch die UNO, sondern durch die USA. Er wird ein Schandfleck für den Westen bleiben.6 Aber wer weiß heute noch, daß die Schmach bereits 1979 begann, als das Regime der Roten Khmer noch nach seinem Sturz für lange Zeit den UNO-Sitz von Kambodscha einnahm, wo doch alle Welt um das Ausmaß seiner Verbrechen wußte?

Die Finanzen geraten außer Kontrolle

DIE UNO ist in einer Zeit entstanden, zu der die westliche Welt vom Liberalismus geprägt war. Und in diesem Geist hat sie sich entwickelt. Hinter der Verteidigung der institutionellen Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten sowie hinter einem wohlwollenden Interesse für das Elend der anderen kommt die latente Gewalt des liberalen Anspruchs zum Vorschein. Der Gesellschaftsvertrag – sowohl der, auf dem die Einzelstaaten gründen, wie auch der, mit dem Staatenbünde entstehen – bleibt auf den Bereich des Politischen beschränkt. Die ökonomischen Beziehungen sind ihm fremd. Innerhalb der Vereinten Nationen zeigt sich dies an der Schwäche des Wirtschafts- und Sozialrats: Der finanzielle Bereich entzieht sich jeder kollektiven Regelung. Der Bankrott der Barings Bank 1994 hat das Fehlen eines übergeordneten Regelwerks für spekulative Finanzierungsmechanismen (wie etwa Termingeschäfte) gezeigt.

Der Anspruch, den Akteuren des Wirtschaftslebens alle „Freiheiten“ zu lassen, spiegelt einen klaren Grundsatzentscheid zugunsten des Finanzkapitalismus wider, der auch die Bereiche Wirtschaft und Politik berührt.

Die Profite entstehen mittlerweile nicht mehr primär durch die (gesellschaftlich nützliche) Produktion, sondern durch Spekulation oder Produkte der Mafia (namentlich Drogen). Die Finanzplätze der Länder des Nordens wetteifern mit den Steuerparadiesen (siehe den Artikel von Jean Chesneaux auf den Seiten 16 und 17) um die lukrativen Aktivitäten.

So werden die Staaten in ihrer Funktion geschwächt, und keine übergeordnete Macht kann dieses Vakuum füllen, weder die Europäische Union noch die UNO. Nur ein Gebilde, das sowohl über die erforderliche politische Macht als auch über wirtschaftliche und finanzielle Kompetenz verfügt, könnte eine solche Rolle übernehmen.

Da in den Vereinten Nationen Regierungen eine Vormachtstellung innehaben, die mit der internationalen Finanzwelt aufs engste liiert sind, konnte die Organisation dieser keinerlei Gegengewicht entgegensetzen. Während der 70er Jahre stand die Regelung der Weltwirtschaft noch auf der Tagesordnung, doch die neue Weltwirtschaftsordnung, die sich abzeichnete, beendete diese Debatte. Nunmehr ist es Mode, schlüsselfertige Hilfsprogramme zur Durchführung von Wahlen anzubieten.

Seitdem die Krise der UNO unübersehbar geworden ist, bleibt mangels Handlungsmöglichkeiten nur noch die Debatte über eine Reform der Organisation.7 Der Lösungsansatz wäre eine „gerechtere“ Vertretung im Sicherheitsrat, die über eine Erhöhung der Mitgliederzahl zu bewerkstelligen wäre. Aber die mit der Untersuchung dieser Frage beauftragte, frei zusammengesetzte Arbeitsgruppe konnte bislang nur über das Bestehen „gravierender Meinungsverschiedenheiten“ unterrichten. Eigentlich erlaubt das internationale Kräfteverhältnis gar keine echte Reform, da die UNO-Charta (Artikel 109) nur mit der Zustimmung von zwei Dritteln ihrer Mitglieder einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats revidiert werden kann. Die eklatante Ungerechtigkeit in der Zusammensetzung des Sicherheitsrats geht theoretisch auf eine Legitimität besonderer Art zurück: Als ständige Mitglieder wurden die Siegermächte von 1945 ausgewählt; was auf die damaligen Umstände zurückgeht, wurde inzwischen geschickt in einen Dauerzustand umgewandelt. Die Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens obliegt somit „naturgemäß“ denjenigen, die über die erforderlichen politischen, finanziellen und militärischen Mittel verfügen. Diese Vorstellung berücksichtigt jedoch nicht die Unberechenbarkeit einer solchen Macht, die Bedeutung der Rüstungsindustrie für die betreffenden Staaten und deren Scheitern bei der Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems. Der Krieg in Tschetschenien und die brutale Unterdrückung der Kundgebungen vom Tiananmen-Platz erinnern uns daran, welche Vorstellungen sich Rußland und China vom Frieden innerhalb ihrer Landesgrenzen machen. Und die drei übrigen Mitglieder des Sicherheitsrats haben trotz einer besser verankerten formalen Demokratie keinerlei Anspruch auf eine Sonderstellung.

Eine monarchistische Vorstellung

ES hätte gute Gründe gegeben, das Verbot der Anwendung von Gewalt (Artikel 2, Paragraph 4) mit der Rüstungsregelung (Artikel 26), die dem Sicherheitsrat obliegt, zu koppeln. Denn schließlich ist dieser beauftragt, darüber zu wachen, „daß von den menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen der Welt möglichst wenig für Rüstungszwecke abgezweigt wird“. Nun liefern sich die Großmächte aber auf dem internationalen Rüstungsmarkt einen scharfen Konkurrenzkampf8, und jeder Verteidigungsminister wird nach seinen Fähigkeiten als Handelsvertreter beurteilt.

Mittlerweile sind die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten so weit in die Enge getrieben, daß sie die Notwendigkeit erkennen, den Sicherheitsrat zu erweitern. Sie räumen ein, Deutschland und Japan könnten womöglich als ständige Mitglieder aufgenommen werden, da „diese den Wunsch haben, sich bei der Vermeidung von Konflikten zu engagieren, und über die dazu geeigneten Einrichtungen verfügen“. Gleichzeitig würde die Anzahl der nichtständigen Mitglieder von 10 auf 13 erhöht werden.

Dieser Vorschlag hat die übrigen Mitgliedsstaaten in zwei Lager gespalten. Eine Minderheit (Malaysia, Kolumbien) kritisiert die durch ein solches Vorgehen zementierte Ungleichheit und verlangt die Abschaffung der Kategorie von ständigen Mitgliedern. Die anderen wollen eher eine substantielle Öffnung des Sicherheitsrats und fordern die Schaffung einer Kategorie halbpermanenter Mitglieder (Kanada), ja sogar die Aufhebung des Vetorechts (Iran, Mexiko, Honduras, Kuba) oder dessen Einschränkung auf gewisse Beschlüsse (Australien, Spanien, Simbabwe).

Neben diesen offiziellen Positionen kursieren beharrlich Pläne, wonach diejenigen entscheiden sollen, die zahlen. Die Vorstellung einer solchen „Demokratie unter den Reichen“ würde zu einer Klassenwahl führen, die bereits in den Finanzinstitutionen existiert (namentlich beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank). Auf diese Weise würde der ursprüngliche Pakt gebrochen, der auf der Gleichheit aller UNO-Mitglieder beruht, unabhängig von ihrer jeweiligen Finanzkraft, ihrem militärischen Potential oder ihrer vermuteten Eignung für die Wahrung des Friedens.

Ist es nicht an der Zeit, mit dieser monarchistischen Vorstellung von einer Völkergemeinschaft abzuschließen und sich klarzumachen, daß sich die Strukturen der UNO seit fünfzig Jahren nicht verändert haben? Kein einziger neuer Gedanke hat die alten zu ersetzen vermocht, die in der Zwischenzeit verblaßt sind. Ein von der Generalversammlung für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren gewählter 20- oder 25köpfiger Sicherheitsrat wäre ein Instrument, mit dem die Welt wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnte. Und wenn unter solchen Umständen die am stärksten bewaffneten und reichsten Länder sich weigern würden, sich an den Friedenseinsätzen zu beteiligen, könnte man guten Gewissens behaupten, daß der Frieden dabei nichts zu verlieren hätte: Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats waren für die Völker von Ruanda, Liberia, Irak, Exjugoslawien oder Tschetschenien keine Hilfe.

Gleich einem neuen Wind der Demokratie könnte diese Reform etwa den Regierungen Frankreichs oder Großbritanniens ermöglichen, eine nützlichere und zweifellos prestigeträchtigere Rolle zu spielen. Die Reform würde den Schraubstock lockern, der sie an die Vereinigten Staaten bindet und sie zwingt, ihnen zu folgen, um sich ihrem Veto nicht auszusetzen. Ein repräsentativ zusammengesetzter Sicherheitsrat hätte auch den Vorteil, die Generalversammlung zu beleben. Die Ernennung des gesamten Sicherheitsrats würde ihr endlich eine echte Verantwortung übertragen, während sie bislang nur alle zwei Jahre zehn Statisten Klappsitze zuweisen konnte.

Die Rolle des Wirtschafts- und Sozialrats müßte ebenfalls neu überdacht werden, um eine Instanz zu errichten, die es mit der wildgewordenen Eigendynamik des heutigen Kapitalismus aufnehmen könnte. Zudem sollte man die Zivilgesellschaft und die Rolle der regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) besser berücksichtigen. Ernsthafte Reformbestrebungen haben jedoch nur dann eine Chance, wenn innerhalb des Sicherheitsrats absolute Gleichheit herrscht. Nichts wäre schlimmer, als alles beim alten zu belassen oder sich mit simplen kosmetischen Maßnahmen zu begnügen.

Im ersten Fall würde das derzeitige Abdriften unweigerlich zu einer totalen Ablehnung der Organisation führen – womit Washington bereits gedroht hat. Doch könnten auch eines Tages die „schwachen“ Mitgliedsstaaten Bilanz ziehen und ausrechnen, ob die UNO-Mitgliedschaft ihnen unter dem Strich etwas gebracht hat, und dann beschließen, ihr endgültig den Rücken zu kehren.

Eine partielle kosmetische Änderung steckt ebenfalls voller Gefahren. Einige Berichte über die Finanzreform9 drücken den Wunsch aus, den Verteilungsschlüssel der einzelnen Mitgliedsbeiträge abzuändern: Die Berechnung sollte sich auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der letzten drei Jahre anstatt wie bislang auf das der letzten zehn Jahre beziehen. Die Abgaben würden dann schwerer auf den jungen „aufstrebenden“ Ländern lasten und die Aufwendungen der alten reichen Mitgliedsstaaten um ebensoviel erleichtern. Doch wenn man die tatsächliche Macht gegen die Kostenbeteiligung am UNO- Haushaltsplan hält, so wird man feststellen, daß der Orient Schritt um Schritt an Einfluß gewinnt: Hat die Völkergemeinschaft damit eine bessere Bürgschaft für die Demokratie in der Hand?

dt. Maria Helena Nyberg

1 Siehe Monique Chemillier-Gendreau, „Comment assurer cette paix qui partout se dérobe?“, Le Monde diplomatique, Juli 1994, und Maurice Bertrand, „Demain, la sécurité mondiale“, Le Monde diplomatique, März 1994.

2 Bericht des Generalsekretärs über die Tätigkeit der Organisation, August 1995, Vereinte Nationen, A/50/1 1995.

3 „Die Generalversammlung prüft und genehmigt den Haushaltsplan der Organisation. Die Ausgaben der Organisation werden von den Mitgliedern nach einem von der Generalversammlung festzusetzenden Verteilungsschlüssel getragen.“

4 Siehe Géraud de La Pradelle, „L'ONU, le droit et la poigne américaine“, Le Monde diplomatique, Mai 1992, und Bruno Callies de Salies, „Oberst Gaddafi in Bedrängnis“, Le Monde diplomatique dt., Dezember 1995.

5 Naima Lefkir-Laffitte und Roland Laffitte, „Armes radioactives contre l'ennemi irakien“, Le Monde diplomatique, April 1995.

6 Claire Tréan, „La communauté internationale discréditée“, Le Monde, 23. November 1995.

7 Namentlich in den Debatten der Generalversammlung (A/50/254 und A/50/230) geht es um Reformbestrebungen. Siehe auch den Bericht des Generalsekretärs über die Tätigkeit der Organisation, Vereinte Nationen, A/50/1, August 1995.

8 Siehe Bruno Barillot und Belkacem Elomari, „Les Transferts d'armes de la France, 1991-1995“, Lyon (Editions Golias und Observatoire des transferts d'armements), 1995.

9 Vgl. das Projekt der Ford Foundation – einer unabhängigen Beratergruppe – über die Finanzierung der UNO, April 1993, Vereinte Nationen, A/48/460.

* Professorin an der Universität Paris-VII – Denis-Diderot, Präsidentin des Verbandes der europäischen Juristinnen und Juristen für die Demokratie und die Menschenrechte.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von M. Chemillier-Gendreau