12.01.1996

Die Zeiten verändern auch die Konflikte

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Die Zeiten verändern auch die Konflikte

ALLEM Anschein nach hat das alte Sprichwort ausgedient, das besagt: „Wenn du Frieden willst, dann bereite den Krieg vor.“ Die Gefahr bewaffneter internationaler Konflikte nimmt mehr und mehr ab, aber gleichzeitig macht sich eine allgemeine Unsicherheit breit, angesichts einer unentwirrbaren Verflechtung von gegensätzlichen Interessen. Lösungsansätze, die auf einzelstaatliche Verhältnisse zugeschnitten sind, können aber nicht ohne weiteres auf globale übertragen werden. Regionale Konzepte drängen sich auf, doch auch hier gilt wie in anderen Bereichen: Wir sind erst am Anfang.

Von ZAKI LAÏDI *

In den Analysen über das Ende des Kalten Krieges wurde einem besonderen historischen Ereignis nur geringe Beachtung geschenkt: Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ist eine politische Weltordnung zusammengebrochen, ohne daß es vorher zu einem größeren militärischen Konflikt zwischen den Großmächten gekommen wäre.

Nach den napoleonischen Feldzügen konnte dank des Wiener Kongresses 1815 mit der Neuordnung Europas wieder ein Gleichgewicht hergestellt werden. Dieses basierte auf „Kräftverhältnissen“, einem Kriterium, das damals gerade aktuell wurde. Der Erste Weltkrieg führte zum Versailler Vertrag. Der Zweite Weltkrieg brachte die Aufteilung der Welt in zwei feindliche Blöcke hervor. Nach jedem Großkonflikt bildeten sich so immer neue Kräfteverhältnisse und Prinzipien heraus, nach denen die Ordnung der Welt neu organisiert wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges wird es sehr viel komplizierter, die Kräfteverhältnisse richtig einzuschätzen und ein Fundament von Wertvorstellungen herauszubilden, auf das sich die Völkergemeinschaft stützen könnte.

Heute sieht die Situation grundlegend anders aus; als Beweis dafür genügt ein Blick auf die unterschiedlichen Interpretationen der neuen Ordnung der Welt, die seit dem Fall der Berliner Mauer entwickelt wurden. Es ist zwar möglich, die internationalen Beziehungen weiterhin als „amerikanische Unipolarität“ anzusehen. Doch eine solche Erklärung führt nicht sonderlich weit. Zum einen sagt sie zwar etwas über die Gegenwart aus, nichts jedoch über die Zukunft. Zum anderen schafft sie mehr Verwirrung als Aufklärung: Die Vereinigten Staaten haben zwar eine unbestreitbare Vormachtstellung, trotzdem ist es unwahrscheinlich, daß sie sich zum alleinigen Träger einer umfassenden Ordnung in einer Welt aufschwingen könnten, die immer mehr im Zeichen einer pluralen Logik steht.

Deshalb ist das Konzept der Multipolarität – das am besten die neue Situation beschreibt – außerhalb des ökonomischen Bereichs kaum anwendbar. Strukturell gesehen basiert die Weltordnung weniger auf Polarisierung als auf drei Handlungsschwerpunkten und Situationen, die eng miteinander verbunden sind: auf der jeweiligen Dynamik der Einzelstaaten, der weltweiten wirtschaftlichen und finanziellen Integration und der wechselseitigen kulturellen Durchdringung der Gesellschaften. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Dynamik lassen sich die drei Bereiche nicht in einem übergeordneten System zusammenfassen, und aus ihrer dynamischen „Unausgeglichenheit“ resultiert denn auch die Mehrzahl der gegenwärtigen Konflikte.

Die Suche nach den Prinzipien, die der Struktur der internationalen Ordnung zugrunde liegen, erweist sich als noch weit schwieriger.

Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer und nach dem Golfkrieg florierte zunächst die – halb idealistische, halb naive – Vorstellung, nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien könne die Welt nach Kantischen Prinzipien befriedet werden. Dieser optimistischen Sichtweise zufolge, die eine „Neubelebung der Demokratie“ anstrebt, war der Weltfriede in greifbarer Nähe, da sich die demokratischen Staaten doch niemals gegenseitig bekriegen würden. Inzwischen ist es wohl unnötig zu betonen, daß solche Überlegungen ihre Schwächen haben; die weltweiten Ereignisse haben sie auf grausame Weise widerlegt.

Wie einst das Duell ...

DIE zweite These ist weniger ideologisch, sondern eher methodologischer Natur: Danach ging der Kalte Krieg ohne größeren Konflikt zu Ende, weil der Krieg nicht mehr das hauptsächliche Mittel ist, um das globale Kräfteverhältnis zu bestimmen. Die allermeisten internationalen Krisen von heute sind keine zwischenstaatlichen Konflikte mehr, selbst wenn auch weiterhin hier und da derartige Auseinandersetzungen wieder aufleben können. Das Risiko einer Konfrontation zwischen Indien und Pakistan oder zwischen China und manchen Ländern im südostasiatischen Raum wegen der Spratley-Inseln kann nicht ausgeschlossen werden. Auch zwischen Rußland und seinen angrenzenden Nachbarn können Grenzstreitigkeiten aufflackern. Im Nahen Osten, in Südamerika und in Afrika muß mit unerwarteten Ausbrüchen von Waffengewalt durchaus gerechnet werden. Dies alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß zwischenstaatliche Konflikte in absehbarer Zeit und wahrscheinlich unwiderruflich der Vergangenheit angehören werden. Diese Entwicklung ist nicht weiter erstaunlich: In der Menschheitsgeschichte war oft zu beobachten, wie gewisse Formen der Auseinandersetzung allmählich verschwanden. So etwa das Duell – heute würde es keinem Menschen einfallen, mittels eines Duells seine Ehre retten oder seine Interessen verteidigen zu wollen.

Es gibt für diese geschichtliche Entwicklung eine zentrale Erklärung: Die internationalen Verhältnisse sind komplexer als die zwischen einzelnen souveränen Staaten. Sie gehorchen der eingangs erwähnten dreifachen Dynamik, die sich zu zwei Teilen (im wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich) einer direkten Kontrolle einzelner Staaten entzieht. Zwar sind diese deshalb noch lange nicht machtlos. Doch werden die heute relevanten wirtschaftlichen und sozialen Konflikte immer weniger durch den Einsatz nationaler Streitkräfte geregelt. Diese Tatsache ist in den entwickelten Gesellschaften des Westens inzwischen weitgehend anerkannt und setzt sich auch in den Ländern des Südens langsam durch. Die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit trägt viel dazu bei.

Gleichwohl – und darin liegt das Paradoxe der Situation – bedeutet die Verringerung zwischenstaatlicher Konfrontationen keineswegs eine Befriedung der internationalen Beziehungen. Sie geht im Gegenteil mit gewalttätigen Auseinandersetzungen von bewaffneten Banden, Mafias, Drogenhändlern, Verbrecherorganisationen und Zivilpersonen einher. Das Fehlen jeglicher Normen oder Regeln führt dabei oft zu einer Radikalisierung.

Auf einen Schlag verkehren sich alle klassischen Parameter ins Gegenteil. Es sind nicht mehr Staaten, die sich bekriegen, um ihre jeweiligen Nationen zu verteidigen, sondern virtuelle Nationen, die sich internationale Geltung zu verschaffen suchen, indem sie eigenstaatliche Souveränität beanspruchen. Es stehen sich nicht mehr reguläre Armeen gegenüber, um ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen, sondern Zivilpersonen, die „sich in vorderster Reihe engagieren“ und von Banden manipuliert werden. Diese bleiben im Hintergrund, um sich, wenn die Stunde der internationalen Anerkennung schlägt, in die nationale Armee des Landes zu verwandeln. Die Vertreibung der Bevölkerung ist nicht mehr die Folge von kriegerischen Zusammenstößen, sondern ihr primärer Beweggrund. Die Erschließung gewinnträchtiger Ressourcen (Diamanten- oder Drogenhandel) ist nicht länger das Ziel eines Krieges, sondern ein Mittel, ihn zu führen.

Daraus läßt sich eine ungeheure „Deregulierung“ der Konflikte ausmalen, die in gewissem Sinne die Welt, wie sie der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek entworfen hat, vorwegnimmt: Es soll nicht nur eine Marktwirtschaft aufgebaut, sondern das Fundament für eine weltumspannende, marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft gelegt werden. Hayek hat freilich nie gedacht oder gewünscht, daß die marktwirtschaftliche Gesellschaft zu einer Verstärkung unkontrollierter Gefühle führen würde. Er sah in ihr ganz im Gegenteil ein überaus wirksames Gegenmittel zu deren Ausbruch. Doch heute scheint der Krieg immer mehr zu einem Markt zu werden, wo an die Stelle des grundlegenden Unterschieds zwischen Mittel und Zweck die Logik von Angebot und Nachfrage tritt, die sich gegenseitig stimulieren.

Welche Folgen kann eine solche Analyse für die Interpretation und die Regelung der globalen Ordnung haben? Zunächst geht es um Identität. Historisch gesehen war der Krieg der Motor für die Bildung oder Stärkung der nationalen Identität und ein probates Mittel zur Legitimierung der staatlichen Einheit. Die Erinnerung an den Krieg diente auf dem Alten Kontinent vierzig Jahre lang als Triebkraft für den europäischen Einigungsprozeß. Mittlerweile ist es schwierig geworden, die jüngere Generation von der Notwendigkeit eines geeinten Europas mit dem Argument zu überzeugen, Kriege untereinander verhüten zu wollen. Die große Mehrheit der Jungen kann sich ein solches Szenario nicht mehr vorstellen. Zwar bestehen an den äußeren Grenzen der EU unzählige Konfliktherde, aber das genügt noch lange nicht, um eine europäische Identität zu schmieden.

Auch anderswo werden die Nationalstaaten zunehmend gezwungen sein, ihre Legitimität nicht auf die Frage von Krieg oder Frieden zu beschränken. Diese Aufgabe wird um so schwieriger sein, als sich globale Sicherheitsfragen weder rein militärisch noch rein nationalstaatlich behandeln lassen, auch wenn es zu ihrer Lösung sowohl militärischer als nationalstaatlicher Maßnahmen bedarf.

Die Vielzahl von Akteuren und die verflochtenen Interessen machen es schwierig, globale Konflikte nach klassischen Mustern zu lösen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, daß neue Konfliktsituationen auf Regulierungsstrukturen treffen, die fast ausschließlich zwischenstaatlich sind. Derart veränderliche Gegebenheiten sind nur schwer allgemeingültig und abschließend einzuschätzen. Man kann allenfalls versuchen, aus den ersten sechs Jahren nach dem Kalten Krieg drei Schlüsse zu ziehen.

Zum ersten scheint heute unumstritten, daß die humanitäre Hilfe, die anfangs als gewichtige Errungenschaft betrachtet wurde, gescheitert ist. In fast allen Fällen war sie unfähig, politische Regelungen einzuleiten. Zwar haben die Befürworter humanitärer Einsätze nie behauptet, auf diese Weise die Politik ersetzen zu können. Doch die staatlichen und diplomatischen Initiativen haben bedauerlicherweise nur dann Erfolgschancen, wenn sie sich auf eine einzige und gemeinsame Handlungsmaxime einigen. Wenn dies nicht der Fall ist, zieht jeder an einem anderen Strang, und statt sich auf den Zweck zu besinnen, konzentriert man sich auf die Mittel. Im ehemaligen Jugoslawien begann die Konfliktbeilegung an dem Tag, als sich die westlichen Mächte ausdrücklich dazu entschieden, den rein humanitären Einsatz aufzugeben und ihre Aktionen in eine politische Perspektive einzubetten.

Der zweite Schluß lautet, daß die Sicherheit künftig nur garantiert werden kann, wenn regionale Instanzen geschaffen werden; eine Aufblähung der UNO- Maschinerie bringt nichts, denn die Vereinten Nationen leiden sowohl an ihrer bürokratischen Trägheit als an der fehlenden Unterstützung seitens der Großmächte. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, sind verschiedene Reformprojekte ausgearbeitet worden (siehe den Artikel von Monique Chemillier-Gendreau auf Seite 7). Doch solange die Mitgliedsstaaten zögern, einen Teil ihrer Souveränität zugunsten einer multilateralen Institution aufzugeben, ist die versuchte Wiederbelebung der UNO umsonst.

Und als dritte Schlußfolgerung ist festzuhalten, daß der wachsenden Globalisierung der Probleme nicht zwangsläufig mit globalen Lösungen begegnet werden kann, genausowenig wie mit einer simplen Rückkehr zu nationalstaatlichen Konzepten. Statt dessen sind regionale Vermittlungs- und Schlichtungsstellen vonnöten, um die globalen Probleme dieser Erde zu bewältigen. Es geht um die Kunst, für die jeweilige Konfliktsituation das geeignete Vorgehen und die passende Regelung zu entwickeln.

dt. Maria Helena Nyberg

* Forscher am CNRS (Internationales Studien- und Forschungszentrum), Autor des Buches „Un monde privé de sens“, Paris (Fayard), 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Zaki Laidi