16.02.1996

Melbourne – Sydney – Canberra

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Melbourne – Sydney – Canberra

DIE Dreimillionenstadt Melbourne ist dank einer umfangreichen Einwanderungswelle in den fünfziger Jahren die drittgrößte griechische Stadt der Welt nach Athen und Saloniki. Ein Ballungsraum, dessen spezielle Mischung aus britischer Vornehmheit und mediterraner Lässigkeit so verführerisch wie unvergeßlich ist. In ständiger Rivalität zu Sydney und als erste australische Stadt 1956 Austragungsort für die Olympischen Spiele, kehrt Melbourne dem Meer entschlossen den Rücken zu und schmeichelt sich, eine „Gartenstadt“ und, wenn schon nicht die offizielle Hauptstadt – den Titel mußte sie 1927 an Canberra abtreten –, so doch die kulturelle wie gastronomische Hauptstadt des Landes zu sein.

Die alten viktorianischen Gebäude mit den schmiedeeisernen Balustraden und die grün-gelben Straßenbahnen mit den holzverzierten Bänken, einige wenige Wolkenkratzer und die beiden Flaniermeilen seiner „City“, die eleganten Silhouetten der Ibisse und Kormorane sowie die schwerfälligere Erscheinung der Pelikane am Himmel über Melbourne tragen zu dem besonderen Charme der Stadt bei. Es herrscht in ihr die friedliche und entspannte Atmosphäre einer großen Provinzstadt, die nichts aus der Ruhe bringt, nicht einmal eine völlig unberechenbare Wetterlage, die der Stadt beinahe das ganze Jahr über „vier Jahreszeiten pro Tag“ beschert. Eine Leidenschaft hat Melbourne aber doch: das footy, die australische Form des Football. Es ist nach wie vor das bevorzugte Gesprächsthema der Männer, trotz der verzweifelten Anstrengungen des Journalisten Keith Dunstan, der vor mehr als fünfundzwanzig Jahren eine Anti-Football-Liga ins Leben gerufen hat und den sein Humor zu einer berühmten Persönlichkeit gemacht hat. „Ich hatte die Nase voll von diesen verblödenden Gesprächen, die an sieben Tagen der Woche – vor, während und nach einem Spiel – um nichts als Football kreisen“, erzählt er in seiner unnachahmlichen Art. „Meine viertausend Anhänger und ich haben beschlossen, eine Plakette zu tragen. Diese zeigt einen roten, viereckigen Football und will ausdrücken: ,Ich steh' auf intelligente Gespräche!‘. Jedes Jahr wird im Rahmen einer offiziellen Feierstunde derjenige ausgezeichnet, der sich am wenigsten um den australischen Football verdient gemacht hat. Am Tag des Endspiels im vergangenen September habe ich dazu aufgerufen, während des Matchs eine Hamletaufführung zu besuchen, und das Theater war brechend voll!“

Sydney mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern ist im Vergleich zu Melbourne eine eher anstrengende und paradoxerweise sehr wenig exotische Stadt. Man denkt bei ihrem Namen immer gleich an San Francisco, doch die Wolkenkratzer, die Büros und die gehetzt wirkenden Menschen in den Straßen erinnern ebenso sehr an Manhattan. Der ungeheure Vorzug Sydneys gegenüber Melbourne ist die herrliche Lage, in der die Stadt 1788 von den aus England deportierten convicts (Sträflingen) gegründet worden ist. Verläßt man das durch und durch amerikanisierte Zentrum zum Meer hin, stößt man auf ein Hafenviertel, das sich an einer schimmernden, weit geschwungenen Bucht entlangzieht, die übersät ist von waldigen Inseln und mit zahlreichen kleinen, öffentlich zugänglichen Sandstränden lockt. Bei Sonnenschein verschlägt einem die Schönheit Sydneys die Sprache. Im Regen verliert die Stadt ihren Zauber und nimmt ein stellenweise unwirtliches, fast beunruhigendes Aussehen an... Man kann sich diesen Anblick aber auch ersparen und in der Erinnerung an ihr pulsierendes und kreatives Leben schwelgen.

Die Gegensätze liegen in Sydney dicht beieinander, ohne sich in die Quere zu kommen: die Papageien und die Möwen, die alten Fähren und die Surfbretter, die spiegelverglasten Wolkenkratzer und die alten, wie durch ein Wunder von der Bauwut verschonten viktorianischen Gebäude, die Wohnpaläste und die wenigen Sozialbauten, die futuristisch wirkende Magnetschwebebahn, die sich rund zehn Meter über dem Erdboden zwischen den Häusern dahinschlängelt, und die Autobahn, die sich mitten ins Stadtinnere bohrt.

Dem berühmten Opernhaus mit seinem eleganten Dinosaurierrücken gegenüber richten sich riesige Leuchtreklamen einer Art Luna-Park an einen ganz anderen Geschmack. Etwas weiter, auf der anderen Seite der Bucht, erstrecken sich in ununterbrochener Folge Docks, Werften, Kräne und Traumvillen mit Gärten, Treppen und Stegen, die bis ans Wasser reichen, wo die eine oder andere Yacht vertäut liegt. Man hat Sydney die Stadt aller erdenklichen Kühnheiten genannt1 und ihre Schönheit mit dem einzigartigen Panorama ihrer Gegensätze in Verbindung gebracht. Wirklich möchte man nicht aufhören, von dieser dem Meer und dem Vergnügen zugewandten Stadt zu erzählen...

Fast selbstgefällig nennt Sydney sich selbst „amerikanisch und vulgär“. Die Wirklichkeit hat einige Nuancen mehr zu bieten. Es ist eine gay city, in der die Aids-Seuche wütet, die Frauen sich beklagen, in der Überzahl zu sein, und in der das Geld zählt. Wenn man in Melbourne zu hören bekommt: „Sag mir, auf welche Schule deine Kinder gehen, und ich sage dir, wer du bist“, lautet das Prüfungsthema in Sydney eher: „Welchen Blick hat man von deinem Haus auf den ,harbour‘? Welches Auto und welches Boot gehören dir?“ Mit einem leichten Lächeln und leichtem Bedauern erklären Alita und Warren, ein dreißigjähriges Pärchen: „Hier ist alles auf den Strand ausgerichtet, ,Beach-Kultur around the clock‘. Und wenn du kein Boot hast, hält man dich für nicht ganz normal!“

Getrübt wird das Bild nur durch die erschreckende Verbreitung von Hautkrebs, dessen Rate durchschnittlich doppelt so hoch liegt wie in Kalifornien, achtmal höher als in Frankreich oder Großbritannien und sechsundfünfzigmal höher als in Japan. Nach den Statistiken des Gesundheitsministeriums kommen zwei von drei Australiern im Verlauf ihres Lebens in den zweifelhaften Genuß eines Melanoms, weil sie sich zu sehr der Sonne ausgesetzt haben...

Canberra ist der Phantasie des US-amerikanischen Architekten Burley Griffin entsprungen, der die Stadt 1910 auf 2000 Quadratkilometern Weideland entworfen hat; wo früher ahnungslose Schafe grasten, leben heute 300000 Menschen. Der Vergleich mit Melbourne oder Sydney ist eine schmerzliche Erfahrung. Man muß diese seltsame australische Bundeshauptstadt gesehen haben, um so etwas für möglich zu halten: Canberra liegt abgeschnitten vom Rest des Landes, durchkonstruiert bis in alle Einzelheiten, um einen ebenfalls künstlich angelegten See; die übermäßig langen und breiten Straßenzüge säumen Verwaltungsgebäude, aber auch Akazien, Eukalyptusbäume und Grünanlagen, die einen lichten und friedlichen Eindruck erwecken. Man wäre versucht, Canberra für eine seelenlose Stadt zu halten, wären die Bewohner, in der Mehrzahl Verwaltungsbeamte, ihr nicht so innig zugetan.

Wie dem auch sei. Mit ihrem alten und neuen Parlamentsgebäude, ihrem Hohen Gerichtshof und all ihren Denkmälern für die in den beiden Weltkriegen und später in Vietnam gefallenen Soldaten präsentiert sich die Stadt der australischen Bevölkerung als ein Lehrstück in Sachen Staatsbürgerkunde und als eine Kultstätte der militärischen Vergangenheit des Landes.

1 Pierre Grundmann, „En Australie“, Paris (Visa Hachette), aktualisierte Neuauflage 1995.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996