16.02.1996

Schatten über dem Paradies am Ende der Welt

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Schatten über dem Paradies am Ende der Welt

ZWAR hat Australien noch immer seine makellose Fassade, doch dahinter tauchen Fragen auf. Fragen nach der Identität: Haben sich die Weißen – der proklamierten Gleichberechtigung zum Trotz – nicht doch ihre Vormachtstellung bewahrt? Fragen nach dem inneren Zusammenhalt der Gesellschaft: Was verbindet – abgesehen vom Sport – die aus rund zweihundert verschiedenen Ursprungsländern stammenden Einwohner? Fragen an die vielgerühmte Lebensqualität: Haben nicht Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus und Drogen die australischen Gemüter zutiefst beunruhigt, insbesondere die jüngere Generation, unter der die Selbstmordrate die dritthöchste der Welt ist? Fragen schließlich an die eigene Vermittlerrolle zwischen der westlichen Welt und dem asiatischen Raum und danach, ob Australien seinen Platz findet angesichts der wachsenden Spannungen zwischen China und seinen Nachbarstaaten.

Von Sonderkorrespondentin FLORENCE BEAUGÉ *

Jedes Jahr sind es weltweit etwas mehr als eine Million Menschen, die sich in Australien – down under – niederlassen möchten und entsprechende Vorkehrungen treffen. 1995 haben lediglich 83000 ihr Ziel erreicht, gegenüber 87000 im Jahr davor. In den vergangenen zehn Jahren hat der Traum von einem Leben auf dem Inselkontinent in der südlichen Hemisphäre nahezu unverändert viele Anhänger gefunden; die Zahl derer aber, für die er Wirklichkeit werden sollte, wandelte sich entsprechend den Bedürfnissen des Landes und – uneingestandenermaßen – entsprechend der jeweiligen Einstellung seiner Bevölkerung. In Zeiten florierender Wirtschaft und niedriger Arbeitslosigkeit lockert die Bundesregierung die Schleusen; und schließt sie, sobald der gegenteilige Fall eintritt und die Stimmung im Lande auf Halbmast steht – was sie seit der Rezession Anfang der neunziger Jahre meist tut.

Australien ist ein eigenartiges Land, das den Vorstellungen, die man sich von ihm macht, nicht recht entsprechen will; mal übertrifft es, mal unterbietet es sie, abwechselnd fasziniert und enttäuscht das Land. Überraschend auch seine Begeisterung für Frankreich (trotz der Atomversuche), für die französische Sprache und Kultur, um die ein regelrechter Kult veranstaltet wird. Australien ist ohne Zweifel ein Land der Widersprüche. Es ist so groß wie die Vereinigten Staaten (Alaska ausgenommen), wird von etwas mehr als achtzehn Millionen Menschen bewohnt und beherbergt trotz seiner endlosen Weiten die am stärksten urbanisierte Bevölkerung der Welt: nicht weniger als 88 Prozent der Australier leben in Städten, auf einem Küstenstreifen, der sich entlang des Pazifischen Ozeans von Süden nach Nordosten zieht.

Bei aller Verschiedenheit zeigen die australischen Großstädte weitreichende Übereinstimmungen. Überall der gleiche Traum: vom Eigenheim im vorzugsweise viktorianischen, georgianischen oder auch konföderativen Stil mit Garten und Barbecue. Überall die gleiche Art zu leben: im Vorort – mit den dazugehörigen Bequemlichkeiten, der blühenden Vegetation, dem Vogelgezwitscher, aber auch mit den dazugehörigen langen Anfahrtswegen, der Einsamkeit und der Langeweile. Und überall die gleiche Leidenschaft: der Sport. Im ganzen Land wird Cricket und australischer Football gespielt; in Sydney dominieren Rugby, mal mit fünfzehn, mal mit dreizehn Spielern, und Windsurfen. Daneben der überall gleiche komplexe Charakter der Menschen, die hinter einem glatten Äußeren und ihrem ausgeprägten Sinn für Humor eine überraschende Zerbrechlichkeit verbergen – eine uneingestandene Angst vor der Zukunft und eine Identität mit vielen Fragezeichen...

Australien möchte jedoch ein glückliches Land mit unvergleichlich hoher Lebensqualität sein, und dies ist es zweifellos. Nacht für Nacht gelingt es ihm einzuschlafen, ohne sich die quälendste aller seiner Fragen gestellt zu haben: „Wer bin ich?“ Zufallsprodukt der Geschichte, Anhängsel Großbritanniens und Irlands, europäischer Vorposten am anderen Ende der Welt, „weißer Volksstamm Asiens“1. Das Land sieht sich als all das zugleich. Entsprechend schwer fällt es ihm, sich als Nation zu definieren, unsicher, ob es darüber beunruhigt sein sollte oder nicht.

Hartnäckig hält sich hier das in Europa unbekannte Syndrom cut the tall puppies („Was übersteht, wird abgeschnitten“). Es ist die Kehrseite einer egalitären Gesellschaft, die sich im wesentlichen aus einer breiten Mittelschicht zusammensetzt. Die Ausnahme bilden einige Reiche, die immer reicher werden, und einige Arme, die vor der völligen Mittellosigkeit durch ein soziales Netz bewahrt werden, das sehr effektiv ist und von der Bevölkerungsmehrheit und den politischen Parteien als notwendig anerkannt wird. Eine bemerkenswerte Schamhaftigkeit beherrscht diese Gesellschaft, in der man besser nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken oder als Anführer in Erscheinung treten sollte... In diesem Sinne hat David Malouf2 – einer der begabtesten Schriftsteller seiner Generation in Australien und zugleich der unauffälligste und vielleicht meistgeschätzte – zweifellos recht mit seiner Einschätzung, „daß man hier allzu sehr davon überzeugt ist, daß sich die Leute nur einfache Fragen stellen, unter welchem Vorwand man ihnen entsprechend einfache Antworten erteilt. Ich für meinen Teil halte das weder für gerechtfertigt noch für richtig. Die Australier sind vielschichtig und durchaus in der Lage, mit dieser Vielschichtigkeit fertig zu werden.“

Eines ist sicher: Australien hat die Herausforderung, sich selbst zu hinterfragen, angenommen und in den letzten fünfzig Jahren eine tiefgreifende Veränderung durchgemacht. Eine vormals nahezu homogene Gesellschaft, die zu 90 Prozent anglo-keltisch und weiß war und dies dank eines Arsenals gesetzlich verankerter Diskriminierung zu bleiben gedachte, hat sich Einwanderern unterschiedlichsten – zu 6 Prozent asiatischen – Ursprungs aus nahezu zweihundert verschiedenen Ländern geöffnet. Eine neue Gesellschaft entstand, in der kulturelle Vielfalt großgeschrieben wird und die Gleichheit aller Bürger ungeachtet ihrer Herkunft oberstes Gebot ist.

„Das einzige, was man hier von uns verlangt, ist, daß wir allgemeinverbindliche Werte wie die englische Sprache und die Demokratie teilen“, erklärt Quang Luu, Leiter des staatlichen Radiosenders Special Broadcasting Service, der in Zusammenarbeit mit einem Fernsehkanal landesweit seit zwanzig Jahren Sendungen in 68 Sprachen ausstrahlt. „Solange man sich daran hält, kann jeder hier tun, was er will, vor allem die eigene Sprache und Kultur pflegen. Man wird sogar ermutigt dazu.“

Über die Segnungen wie auch über die Beschränktheiten und eigentümlichen Auswirkungen des Multikulturalismus wird zumindest öffentlich kaum diskutiert. Dieses Thema gehört zusammen mit dem der Immigration zu jenem brisanten Kapitel, das die Politiker der regierenden Labor Party ebenso wie der konservativen Opposition, der Liberal Party unter John Howard3, in der Regel lieber nicht anschneiden, aus Angst, der von ihnen hofierten Wählerschaft zu nahe zu treten. Dazu muß man wissen, daß 46 Prozent der heutigen Bevölkerung nicht australischen Ursprungs sind.

Wollte man sich auf die Suche nach „der australischen Gesellschaft“ machen, würde man schwerlich fündig werden. Die Gesellschaft gibt es nicht, vielmehr eine ganze Reihe von Mikrogesellschaften, die ohne Konflikte miteinander, aber auch einigermaßen indifferent nebeneinanderher leben. All diese Gemeinschaften würden die meiste Zeit keinerlei Notiz voneinander nehmen, wäre da nicht der Sport – als echtes nationales Bindemittel – und die ihrer Vielfalt wegen geschätzte australische Küche, die nicht ohne Stolz als „französisch in ihren Grundlagen, australisch in ihren Zutaten und asiatisch in ihren Kochtechniken“ beschrieben wird. All das schafft jedoch noch keine einheitliche Identität. Jene, die sich mit ihrem Land identifizieren und unumwunden als Australier bezeichnen, sind fast ausnahmslos angelsächsischer Herkunft. Alle anderen treten ostentativ als Griechen, Italiener, Ukrainer, Inder, Indonesier, Malaysier, Filipinos oder auch Tamilen auf. „Ich bin hier vor 25 Jahren angekommen. Ich besitze die australische Staatsbürgerschaft, aber ich fühle mich zutiefst als Indonesier“, erklärt ein Taxifahrer. „Es gibt Dinge hier, die ich mag, und andere, die ich nicht mag, genauso wie in meinem Heimatland. Meine Kinder habe ich in der Achtung vor ihrer Herkunft erzogen. Was sind sie? Weder australisch noch indonesisch.“ Eine doppelte Verneinung, die ohne Bitterkeit über seine Lippen kommt...

Unter all den Einwanderern aus dem asiatischen Raum4, die außer ihrer Hautfarbe nichts miteinander verbindet, gibt es vielleicht nur zwei Gemeinsamkeiten: der Wille, ihren Kindern unter ganz gleich welchen Opfern eine vorzügliche Ausbildung zu vermitteln – und eine große Dankbarkeit gegenüber Australien. Von den Einwanderern der ersten Generation ist ausnahmslos und vorbehaltlos zu hören: „Es ist ein großartiges Land. Die Leute sind gut zu mir gewesen. Sie sind großzügig und tolerant.“ Eine spontane Reaktion, die man gleichermaßen von Tschechen, Makedoniern, Kroaten, Libanesen, Chilenen wie Russen vernehmen kann, die aber in der zweiten oder dritten Generation mitunter in Verbitterung umschlägt.

Zwischen allen Stühlen und Kontinenten

TATSÄCHLICH erheben sich hier und da kritische Stimmen, die ein schwer einzuschätzendes Unbehagen widerspiegeln. Antony Leong, ein achtunddreißigjähriger Modefotograf, der wie schon seine Eltern und Großeltern in Australien geboren wurde, wirft der Labor Party, in der er selbst Mitglied ist, eine lasche Haltung vor; was er sagt, ist von ungewöhnlicher Radikalität und Schärfe, aber für gewisse Teile seiner Volksgruppe sicherlich repräsentativ: „Ich fühle mich chinesisch, zutiefst chinesisch. Der Rassismus in diesem Land hat es mir immer unmöglich gemacht, mich als Australier zu fühlen, obwohl ich es wirklich gewollt hätte. Was immer die Weißen auch äußern mögen, in Wirklichkeit sind sie es, die hier im Land die Macht haben. Da muß ich doch gegenhalten. Es gibt eine Menge Dinge in diesem Land, die in Ordnung gebracht werden müßten, aber das politische Bewußtsein der Leute ist so gering, und die Macht der Gewerkschaften nimmt immer mehr ab, so daß ich nicht sehe, wie das gelingen kann. Dabei kenne ich in meiner Umgebung viele Leute, ganz in der Nähe von Melbourne, die arm und ohne Wohnung sind und seit Jahren hier leben, ohne ein Wort Englisch zu sprechen.“

In Cabramatta, eine Zugstunde vom Zentrum Sydneys entfernt, wird einem der reale Hintergrund dieser Behauptungen schlagartig bewußt. Cabramatta, das ist die Kehrseite des australischen Traums... Man glaubt sich in gewisse Gegenden von Washington oder New York versetzt: die gleiche Teilnahmslosigkeit und Verzweiflung, der gleiche Eindruck von Gewalt und Unsicherheit. Das Viertel mit seinen 26000 Menschen – zwei Drittel von ihnen sind asiatischer Herkunft – wird von Arbeitslosigkeit, Armut und Drogenproblemen gebeutelt. Um das wahrzunehmen, muß man jedoch an einem verregneten Nachmittag unter der Woche hierherkommen, nicht an einem sonnigen Sonntagmorgen, wenn alle Bewohner der Umgebung – auch aus Sydney – hier, einem Exotik-Hunger folgend, ihre Einkäufe erledigen...

Ob Phuong Canh Ngo, der für diesen Bereich zuständige Stadtrat und stellvertretende Bürgermeister von Fairfield, zu Recht darauf wettet, daß Cabramatta, von jeher ein Zentrum der vorübergehenden Unterbringung von Neueinwanderern, als einzige Ausnahme auf Dauer dem Schicksal eines Ghettos wird entgehen können?

Dabei hätte Australien zum Ende dieses Jahrhunderts durchaus die neue Heimstätte der Menschenrechte werden können. Alle Voraussetzungen dazu wären vorhanden. Doch als Nachbar von Ländern mit autoritären Regimen (nicht selten hinter scheindemokratischer Fassade) wird Australien es sich aus „wirtschaftlicher Vernunft“ heraus versagen, diese Rolle zu übernehmen, und dies noch für eine ganze Weile. Es ist kein Zufall, daß in Canberra das Außen- mit dem Wirtschaftsministerium zusammengelegt wurde. Als das Land 1957 sein erstes Wirtschaftsabkommen mit Japan abschloß, entfielen noch 51 Prozent seiner Exportgüter auf die Länder der heutigen EU, lediglich 21 Prozent auf den asiatischen Raum. Die Situation hat sich mittlerweile umgekehrt. In die EU fließen etwas mehr als 11 Prozent der australischen Exporte, während sich Asien mit 58 Prozent den Löwenanteil sichert.

„Dank der wirtschaftlichen Verflechtungen, die uns mit den asiatischen Ländern verbinden, betrachten wir sie nicht länger mit angsterfüllter Sorge. Ich teile diese Anschauung von Premierminister Paul Keating. Die Wirtschaft ist ganz sicher die Triebkraft in dieser Region; aber nicht minder wichtig, würde ich hinzufügen, sind die kulturellen und psychologischen Bindungen, die dadurch entstehen, daß jedes Jahr 24000 junge Asiaten in Australien studieren. Viele von ihnen sind heute Minister in Indonesien oder Malaysia, und das erleichtert unsere Beziehungen ungemein.“ Elaine McKay ist die für die Situation der Frauen zuständige Staatssekretärin in Canberra. Gleichzeitig ist sie, was Asien betrifft, eine große Expertin; sie hat selbst lange dort gelebt, bevor sie in den siebziger Jahren in ihr Land zurückkehrte, um sich neben anderen einflußreichen Personen, etwa dem Sinologen und ersten australischen Botschafter in China, Stephen Fitzgerald, dafür einzusetzen, daß ihr Land endlich seiner geographischen Wirklichkeit Rechnung trägt. „Damit ist ein unwiderruflicher Schritt erfolgt. Anstelle der noch in den sechziger Jahren obligatorischen Europareise zieht es die jungen Australier heute in die asiatischen Länder. Und immer mehr junge Menschen wollen heute Japanisch lernen.“

Der Leiter des Südostasien-Instituts an der Monash-Universität in Melbourne, John McKay, bekundet die gleiche ruhige Zuversicht: „Wir könnten durchaus eine Vermittlerrolle übernehmen, zwischen West und Ost und vor allem zwischen den Ländern des Südpazifiks und den Vereinigten Staaten.“

„Eine Vermittlerrolle? Hat man dafür wirklich die Australier nötig?“ brummt seinerseits ein französischer Diplomat in Canberra. „Australien weiß nicht, wohin es sich orientieren soll; die Länder in dieser Region schätzen das nicht. Sie wollen Partnerstaaten mit einer klar ausgeprägten Identität und Kultur, was bei Australien nicht der Fall ist.“ Auch wenn die Arbeit der diplomatischen Vertretung Frankreichs seit dem vergangenen Juni keineswegs angenehm ist, gelingt es ihm, seine Verärgerung hinter einer gleichmütigen Haltung zu verbergen. Seit der Ankündigung der Wiederaufnahme der Atomversuche haben militante Atomkraftgegner unter seinen Fenstern ihr Lager aufgeschlagen, eine Art Hüttendorf von provozierender Schmutzigkeit, das Tag und Nacht – voraussichtlich noch bis zum März – besetzt gehalten wird. Das erklärt vielleicht, warum sein Wohlwollen gewisse Grenzen zeigt.

„Die französischen Atomversuche erfüllen eine ausgezeichnete Ventilfunktion in diesem Heimatland des Konformismus“, setzt der französische Diplomat hinzu. „Das erlaubt ihnen, den wahren Problemen auszuweichen; etwa dem der Immigration aus den asiatischen Ländern, die immer mehr Leute beunruhigt, und zwar nicht bloß in den rassistischen Splittergruppen. Im übrigen hat Australien große Mühe, sich in der Region zu behaupten. Indonesien mit seinen 198 Millionen Einwohnern betrachtet es merklich distanziert, geradezu mißtrauisch. Mit Malaysia liegen die Dinge nicht viel anders; dort hat man ähnliche Probleme mit unterschiedlichen Volksgruppen und Identitäten, denen gegenüber eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche praktiziert wird. Premierminister Mahathir ist nicht gerade ein einfacher Zeitgenosse, außerdem der felsenfesten Überzeugung, man müsse Asien sich selbst überlassen. Australien und Neuseeland mit ihren demokratischen Wertvorstellungen werden darum wie Eindringlinge betrachtet. Laut und deutlich zu sagen, was man denkt, gilt in Asien als impertinent und schlecht erzogen. In Staaten wie Singapur dagegen ist man über das geringe Ausmaß australischer Investitionen enttäuscht.“

Könnten sich die offenkundigen Schwachstellen Australiens eines Tages paradoxerweise als seine Stärken herausstellen? Etliche Experten auf multikulturellem Gebiet, wie James Jupp, oder hohe Regierungsbeamte der Einwanderungsbehörde, wie John Nieuwenhuysen, sind davon überzeugt; das ist der Grund, warum sie, anders als der Mann auf der Straße, der Zukunft mit solcher Gelassenheit entgegensehen. So auch der Politologe David Camroux: „Der Begriff des Nationalstaats ist weitgehend obsolet geworden angesichts der Tatsache, daß Menschen und Geldmittel die Grenzen überschreiten und längst in der ganzen Welt zu Hause sind. Es stimmt zwar, daß Australien besessen ist von der Frage nach seiner Identität; ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß es dank seiner multikulturellen Gesellschaft und den durch sie entstandenen vielfältigen Verbindungen zu seinen asiatischen Nachbarn besser als manche altehrwürdige Nation für das 21. Jahrhundert gerüstet ist. Das Land ist gerade wegen seiner offenen Identität so anpassungsfähig. Es braucht sich nicht ständig auf eine rein national fixierte Vergangenheit zu beziehen und kann sich auf die Zukunft hin entwerfen.“

Mögen den australischen Wählern Arbeitslosenrate und Auslandsverschuldung5 auch wichtiger erscheinen als diplomatische Verwicklungen, so hängen diese doch wie ein Damoklesschwert über der Bundesregierung. Dabei ist offiziell nie von einer „bedrohlichen“, allenfalls von einer „ungewissen“ Zukunft die Rede. „Nordkorea macht uns große Sorgen, der größte Alptraum für die Länder der Region aber ist meiner Meinung nach die Entwicklung in Taiwan. China wird gegenüber den dort immer vehementeren Unabhängigkeitsbestrebungen nicht von seiner unnachgiebigen Haltung abrücken, das ist uns klar. Die Vereinigten Staaten und Japan sind darüber genauso tief beunruhigt wie wir“, äußert der stellvertretende Generalsekretär des Außen- und Wirtschaftsministeriums in Canberra, Kim Jones. „Der größte Unsicherheitsfaktor freilich ist China selbst und die Frage, wie sich langfristig sein Verhältnis zu Japan und die beiderseitige Rivalität entwickeln wird. Außerdem sind da noch die Spratlyinseln im Südchinesischen Meer, die sich mehrere Staaten ihrer Erdölvorkommen und fischreichen Gewässer wegen streitig machen: neben China noch Malaysia, die Philippinen und Vietnam. Diese Spannungen könnten schlagartig zum offenen Konflikt führen.“

In einem Punkt jedoch sind sich die Experten jenseits aller Bedenken mit den politisch Verantwortlichen einig: Die Anwesenheit der Vereinigten Staaten in der Region ist absolut unverzichtbar, denn ohne sie könnte das gegenwärtige Gleichgewicht der Kräfte in sich zusammenbrechen, der Rüstungswettlauf eine bislang ungekannte Beschleunigung annehmen und Japan beispielsweise in die Versuchung geraten, sich erneut zu einer Militärmacht zu entwickeln.

„Wenn es zum Zerwürfnis zwischen Tokio und Washington kommen sollte, würde eine strategisch gefährliche Situation entstehen, deren Folgen kaum absehbar wären“, vermutet Kim Jones. Dabei „kann die Präsenz der Amerikaner in der Region durchaus nicht als gesichert gelten. Unser großer Trumpf ist, daß ihnen Asien in ihren Augen nach wie vor als Markt offensteht. Daher ihr immenses Interesse an der APEC6, in der sie Mitglied sind“, bekräftigt Richard Bush, ein für äußere Angelegenheiten zuständiger hoher Regierungsbeamter.

Zu der gleichen Einschätzung kommt auch John McKay. „Die APEC würde den Austritt der Vereinigten Staaten nicht überleben. Für Australien ist dieses Forum unverzichtbar. Offiziell kreisen die Gespräche bei den Treffen der Regierungen zwar um wirtschaftliche Themen; in Wirklichkeit aber machen politische und strategische Fragen einen großen Teil der Tagesordnung aus. Darum steht die APEC gegenwärtig im Zentrum der australischen Außenpolitik.“

Wie fern erscheinen doch Großbritannien und die britische Krone, von Canberra oder Sydney aus betrachtet. Im Jahre 2001 wird anläßlich der Feiern zum hundertjährigen Bestehen der australischen Föderation wahrscheinlich das letzte institutionelle Band, das Australien mit der Monarchie verbindet, durchtrennt und das Land zur Republik erklärt werden.7 Das Ereignis wird kaum als wesentlicher Einschnitt gewertet, gilt aber als unausweichlich, und die Jüngeren halten mit einer vagen inneren Hoffnung daran fest, daß in diesem Moment die australische Identität und der Stolz auf die eigene Staatsangehörigkeit aus der Versenkung auftauchen. „Man hat ständig das Bedürfnis zu reisen, vor allem wenn man jung ist, möchte sich in Europa umschauen und sehen, wie es in der Welt zugeht“, gesteht der dreißigjährige Mark. „Wir sind so wenige und so weit weg von allem, daß es mir immer vorkommt, als könnte man hier glatt vor die Hunde gehen, ohne daß es jemand bemerkt. Man muß sich vorstellen, daß unser nächstgelegenes Nachbarland – von Neuseeland einmal abgesehen – Indonesien ist, und das liegt sieben Flugstunden von Sydney entfernt!“

Werden die Olympischen Spiele von Sydney im Jahr 2000 diesem noch jungen Land neuen Schwung geben? Für eine Weile, gewiß; aber seine Einwohner müssen andere Ziele und Herausforderungen für sich entdecken, um das dritte Jahrtausend in Angriff zu nehmen. Unterdessen vertieft sich aber die Kluft zwischen denen, die eine regelrechte Flucht nach vorn antreten, und jenen, die sich nostalgischen Träumen von einem Australien hingeben, das fast vollständig verschwunden ist: das Australien der Pioniere, der Buschlandschaft und der heldenhaften Vergangenheit. Eine Zeit, als die Frauen noch nicht mit den Männern im Streit lagen und ohne zu murren ihre Rolle als „Bürger zweiter Klasse“ ertrugen, bis sie Anfang der siebziger Jahre einen Kampf um ihre Gleichstellung zu führen begannen, der zu Recht bis heute andauert, von den Männern jedoch als bedrohlich und umstürzlerisch empfunden wird.

„In den letzten zwanzig Jahren haben sich alle Bezugspunkte auf sozialem, kulturellem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet entweder verflüchtigt, abgenutzt oder verlagert, über die sich einst der ,Australian way of life‘ definieren ließ“8, erklärt der Politologe Hugh Mackay. „Was das betrifft, ist mir um die Zukunft nicht bange. Was mich jedoch an dieser Gesellschaft zur Verzweiflung bringt, ist ihr unglaublicher Hang, die geringfügigsten Schwierigkeiten und Probleme auf dem Wege von etablierten Regeln und Gesetzen zu lösen. Wir rühmen uns unserer unbeugsamen Natur, und gleichzeitig verlangen wir ständig, daß man uns Werte mittels fester Regeln vorgibt.“

Das Mißverständnis vom glücklichen Land

GENAUSO paradox erscheint es, daß dieses nach eigener Einschätzung glückliche Land, das sich nie über sein Schicksal beklagt, so verständnislos und ohne nach den Ursachen zu fragen auf den Schock einer kürzlich bekanntgewordenen Entdeckung reagiert: Es hat bezüglich der Jugendlichen im Alter von fünfzehn bis vierundzwanzig Jahren eine der höchsten Selbstmordraten der Welt; 28 von 100000 Menschen nehmen sich das Leben, doppelt so viele wie in Japan und in den Vereinigten Staaten. Damit liegt Australien gemeinsam mit Neuseeland auf dem dritten Platz hinter Island und Finnland. Und die Zahlen steigen stetig an, ohne daß man die Gründe wüßte. 1991 hat der Suizid die Zahl der Verkehrstoten überholt und ist zur primären Todesursache für Menschen unter dreißig geworden.

Warum? Bob Dunlop, der gerade erst in Sydney die Hilfsorganisation „Hearing The Cry“ aufgebaut hat, vermag zu seiner Verzweiflung keine Antwort darauf zu geben und ist empört darüber, daß hier Selbstmord immer noch als Tabu behandelt wird; außerdem fehlten Gelder, damit intensive Untersuchungen auf diesem Gebiet angestellt werden können. Wo ist die Schuld zu suchen? In einem vermeintlich zu leichten Leben? In einem zu ausgeprägten Materialismus? Im Fehlen geistiger Orientierung, die weder das Interesse an ökologischen Fragen noch die Begeisterung für Okkultwissenschaften je zu kompensieren vermochten. Oder in der hohen Scheidungsrate und in dem Auseinanderbrechen der Familien? Die wenigen vorhandenen Untersuchungen untermauern keine dieser Erklärungsversuche.

Der Leiter des staatlichen Instituts für Suizidforschung und -vorbeugung an der Griffith-Universität von Brisbane, Professor Pierre Baume, ist mangels gesicherter Erkenntnisse auf diesem Gebiet ebenfalls auf Hypothesen angewiesen. „Zunächst einmal liegt die Arbeitslosenrate in dieser Altersstufe mit 35 Prozent viermal höher als der allgemeine Durchschnitt im Lande; hinzu kommt ein enormer sozialer Druck: Wenn man keine Arbeit hat, bedeutet dies, daß man als schwach angesehen wird oder eben nichts für sein berufliches Weiterkommen unternommen hat. Ein weiteres, dramatisches Problem ist der Alkohol, was sich in einer wachsenden Gewalt in den Familien ausdrückt. Es wird viel zuviel getrunken, vor allem nimmt man, was noch gefährlicher ist, unglaubliche Mengen Alkohol in kurzen Abständen zu sich. All das hängt mit unserem angelsächsischen und kolonialen, sehr männlichkeitsbetonten Erbe zusammen. Und noch heute reden wir aufgrund dieses Erbes so wenig miteinander, kommunizieren kaum. Die Leute sind es nicht gewöhnt zu sagen, was sie fühlen. In unserer Gesellschaft gilt es als ein Zeichen von Schwäche, wenn ein Mann seine Gefühle offen zeigt. Also behält er für sich, worunter er leidet. In den Vereinigten Staaten äußert sich das dann in Morden, hier wenden die jungen Leute die Gewalt gegen sich selbst – während die Rate bei Tötungsdelikten seit dreißig Jahren unverändert niedrig ist.“

„Australia, lucky country...“ Hat die berühmte Formulierung des Historikers Donald Horne9, der ewige Jugend und lächelnden Optimismus verkörpert, ihre Berechtigung verloren? Sicherlich nicht, auch wenn sie auf einem Mißverständnis beruht. Als Horne dies 1964 schrieb, hatte er ein „vom Glück begütertes Land“ im Kopf und warnte seine Landsleute dabei, es sich nicht zu leicht zu machen. Doch die Australier wollten es anders verstehen und dachten, ihr Land stünde per se „unter einem glücklichen Stern“. Ob die Zukunft ihnen recht geben wird? Sie wird in jedem Fall darüber Aufschluß geben, ob in den kommenden Jahren Solidarität und Toleranz als zwei grundlegende Werte erhalten bleiben und nach wie vor höher geschätzt werden als Geld und Profit. Denn die größte Gefahr für die Bevölkerung ist vermutlich nicht, daß sie sich „asiatisiert“, wie sie befürchtet, sondern daß sie sich nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten „amerikanisiert“, dabei aber willenlos nur deren schlechte Seiten und nicht auch die guten übernimmt. Sollte der erste Fall eintreten, wird Australien wohl noch eine Weile auf der Suche nach der eigenen Identität herumirren, im letzteren Fall aber, und vor allem wenn weiterhin jeder Grundsatzdebatte aus dem Wege gegangen wird, droht das Land seine Seele zu verspielen.

Dann bliebe freilich für alle, die sie jenseits seiner Mythen und glänzenden Erscheinung entdeckt haben, nur die Erinnerung an eine Gesellschaft, die ideal sein wollte, ihren Mißerfolg nicht ertragen konnte und ihre Utopie preisgab, bevor sie begriffen hatte, daß sie für die Welt und ihre Zeit hätte prägend sein können...

dt. Christian Hansen

1 Ratih Hardjono, „White Tribe of Asia. An Indonesian View of Australia“, Melbourne (Monash University) 1993.

2 Von David Malouf sind in Frankreich erschienen: „Ce vaste monde“, Paris 1991 und „Je me souviens de Babylone“, ebd. 1995.

3 Das Bundesparlament in Canberra wird im kommenden Mai neu gewählt. In den Umfragen liegen die Arbeiterpartei und die Koalition aus liberaler und nationaler Partei gleichauf.

4 Gemessen an seiner Einwohnerzahl, nimmt Australien weltweit die meisten Flüchtlinge auf. Anders als die asiatischen Einwanderer mit „qualifizierter Berufsausbildung“ haben die Flüchtlinge große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.

5 Die Arbeitslosenrate liegt bei 8,6 Prozent, die Auslandsschulden betragen 40 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt.

6 Die APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) wurde 1989 auf Initiative Australiens gegründet; ihr gehören 18 Länder des asiatisch-pazifischen Raums an, die die Einrichtung einer Freihandelszone in dieser Region um das Jahr 2010 beabsichtigen.

7 Australien ist keine Republik, sondern eine bundesstaatliche, der britischen Krone angeschlossene parlamentarische Demokratie. Elizabeth II, die Königin Australiens ist, wird vor Ort durch einen Generalgouverneur vertreten, der über keine politische Macht verfügt.

8 Hugh Mackay, „Reinventing Australia. The Mind and Mood of Australia in the 90s“, Editions Angus and Robertson 1994.

9 Donald Horne, „The Lucky Country“, London (Penguin) 1964.

* Rundfunkredakteurin bei Radio Monte Carlo

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Florence Beauge