Madagaskar übt sich in Geduld
Von
PHILIPPE
LEYMARIE *
MADAGASKAR mit seinen 12 Millionen Einwohnern gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Insel im Südosten des Indischen Ozeans gibt uns immer noch manche Rätsel auf. Was die Geschichte anbetrifft: Der Ursprung der dortigen Mischbevölkerung von Bantus aus Afrika und Malaien aus Asien liegt im dunkeln. Was die Menschen betrifft: Die Bevölkerung, von tiefer Spiritualität durchdrungen und dem Ahnenkult anhängend, offenbart selbst im tiefsten Unglück eine schier unerschütterliche Geduld, wenngleich es in ihrer Geschichte bisweilen zu vulkanischen Zornausbrüchen gekommen ist. Und was die Politik anbetrifft: Das Land hat alle erdenklichen Regierungsformen durchprobiert – Stammesherrschaft, Monarchie, Kolonialregierungen, danach eine Phase der Sozialdemokratie, eine nationalistische Revolution und schließlich den derzeitigen populistische Liberalismus christlicher Prägung – und scheint doch mit keinem System zurechtzukommen.
Nachdem die Erste Republik (19601972) die formelle Unabhängigkeit gebracht hatte – eine Zeit, in der Frankreich die Hohe Kunst des Scheinrückzugs kultivierte – stand während der Zweiten Republik (1975-1991) die öffentliche Meinung der Madegassen offenbar ganz im Banne glorifizierender Erinnerungen an den Aufstand von 19471: Man kündigte das „Sklaven-Abkommen“ mit Paris, zog sich aus der Franc-Zone zurück, Wirtschaft und Bildungswesen wurden nationalisiert bzw. „madegassiert“, Träume von einem autarken und industriell autonomen Madagaskar ausgesponnen... Alles mit dem Ziel, die Souveränität zurückzugewinnen.
Die Eliten waren von dem Programm weniger begeistert: vom Wechsel der Allianzen in Richtung Nordkorea, China oder Sowjetunion (eine „nach allen Richtungen orientierte“ Diplomatie, rechtfertigte sich der damalige Präsident); von der wenig demokratischen Zentralisierung einer Staatsmacht, die sich großspurig auf die Dezentralisierung und die Mobilisierung des Volkes berief; von der Vermehrung der „weißen Elefanten“ (von „schrankenloser“ Investitionspolitik sprach ein Präsident, der sich mit glasigem Blick auf ein phantasmagorisches „Madagaskar im Jahr 2000“ als großer Entwicklungsheld imaginierte); von der explosionsartigen Verschuldung der öffentlichen Hand (während zugleich die Weltmarktpreise der Exportprodukte ins Bodenlose sanken); oder von der Rückkehr des Landes zur Selbstversorgung, während in den Städten der Hunger wütete ...
Die breite Bevölkerung – im Hochland wie in den großen Küstenstädten – hatte die als antichristlich empfundene Haltung eines „wissenschaftlichen Sozialismus“, der nur selten die Eigenheiten des Landes berücksichtigte, gründlich verachtet. Bald lastete man dem Regime des Präsidenten Didier Ratsiraka die Abkehr von den überkommenen Werten der Besonnenheit und Solidarität an – vom sogenannten ihavanana, das nach traditioneller Vorstellung den Zusammenhalt der madegassischen Gesellschaft gewährleistet –, derweil Kinder in den Straßen starben, die Malaria ganze Dörfer dahinraffte, die Korruption auf allen Ebenen der Gesellschaft triumphierte und die Warteschlangen vor den Verkaufsständen immer länger wurden.2
Die liberale Neuorientierung, die der Revolutionschef Mitte der achtziger Jahre unter dem Druck der Krise und der von Weltbank und IWF gemachten Auflagen (Inflation, Abwertung, Sozialabbau, Privatisierung) durchführte, kam vor allem den Klans der bourgeoisen Geschäftemacher zugute, wenn nicht gar der Herrscherfamilie selbst.3 Die politischen Konzessionen – Aufhebung der Pressezensur, Mehrparteiensystem, „Make-up“ für die Verfassung – kamen zu spät. Die städtischen Massen gingen, vom Absturz ins tiefste Elend bedroht, auf die Barrikaden; Angefacht von den Predigten der Kirchenmänner kam es zu einem neuen politischen Erwachen (siehe die Reportage von Sylvie Brieu).
Endgültig diskreditierten sich das Regime und seine Gründer zum einen durch das Massaker von Iavoloa, bei dem der Staatschef am 10. August 1991 höchstpersönlich die Truppen kommandierte, die das Feuer auf eine versammelte Menschenmenge eröffneten. Und zum anderen durch den verzweifelten Versuch, auf dem empfindlichen und gefahrvollen Instrument der staatlichen Einheit nationalistische Klänge zu erzeugen, indem sie die Provinzversammlungen anstachelten, „Bundesstaaten“ auszurufen.
Das gab den Forces Vives – einer im wesentlichen urbanen und christlichen Bewegung – die Chance, die „politische Anpassung“ eines Landes zu erzwingen, das die Rezepte des IWF und der Weltbank in den achtziger Jahren zwar schon kräftig „entsozialisiert“ hatten, dessen politisches Regime sich aber noch durch eine jugendliche Unreife auszeichnete. Der schon 1991 neutralisierte „madegassische Castro“ wurde 1993 bei den Präsidentschaftswahlen durch den jetzigen Staatschef Albert Zafy endgültig aus dem Feld geschlagen. Der Medizinprofessor, ein frommer und bescheidener Mann mit Strohut, wurde zum Nachfolger des stolzen und protzigen Admirals, der zwanzig Jahre vorher als Fregattenkapitän und junger Außenminister der in Gestalt ihres damaligen Außenministers Michel Debré auftretenden französischen Kolonialmacht die Stirn geboten hatte.
Die Dritte Madegassische Republik steckt trotz ihrer liberalen Kehrtwendung und einiger Errungenschaften (eine gewaltfreie Bewegung, der Aufbau einer „zivilen Gesellschaft“ und ein neutralisiertes Militär) in denselben unentwirrbaren Schwierigkeiten wie das vorangegangene Regime: Es herrscht dieselbe Korruption, dieselbe Unsicherheit, dieselbe Unschlüssigkeit der politischen Akteure, dieselbe Verwirrung.
Der Staat kann grundlegende Funktionen wie Sicherheit, Transportwesen, Gesundheitsversorgung oder Bildung nicht mehr erfüllen. Es gibt keinerlei staatliche Weisungsstrukturen mehr. Die Wirtschaft ist privaten Initiativen überlassen, die ihre Profite aus dem Schattensektor ziehen (also aus dem Schmuggel von Zebus, Vanille, Drogen, Gold und anderen Edelmetallen) und von der Insellage des Landes profitieren.4
An der Spitze sind die Familienklans stärker als je zuvor in einen erbitterten Kleinkrieg verwickelt: Im Juli beschuldigte Präsident Albert Zafy seinen Premierminister, „der Hauptverantwortliche für die Korruption“ zu sein und damit „den Schiffbruch der Dritten Republik zu provozieren“. Daraufhin brachte Francisque Ravony den Obersten Gerichtshof unter seine Kontrolle und drohte mit der Bildung einer „Regierung zum Wohle des Landes“ mit Beteiligung der Militärs.
Seit zwei Jahren streiten sich die beiden Männer sowohl über die Finanzpolitik als auch über die Durchführung zahlloser bereits angekündigter, aber nie eingeleiteter Wirtschaftsreformen. Der Ministerpräsident, der sich wie viele ehemalige madegassische Linke zum Ultra-Liberalismus bekehrt hat, hält eine Politik jenseits der von IWF und Weltbank vorgeschriebenen Strukturanpassungsprogramme für ausgeschlossen.
Das Staatsoberhaupt hingegen – unterstützt von Pastor Richard Andriamanjato, ehemals Freund der Sowjetunion und heute Präsident der Nationalversammlung – ist überzeugt, daß sich das Land den praktisch unerfüllbaren Bedingungen und Fristen des IWF nicht unterwerfen darf. Also hat sich Zafy nach Kräften um eine Parallelfinanzierung bemüht, zu meist waghalsigen Bedingungen und zum großen Ärger der internationalen Finanzautoritäten, die deshalb ihre Kreditzahlungen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt haben.5 Pastor Andriamanjato versichert, er wolle „mit diesem Neokolonialismus brechen, der sich in allen internationalen Gremien etabliert hat“.
Der oft des Populismus bezichtigte Staatschef setzt auf die Verbundenheit mit der Landbevölkerung und beharrt auf seiner Mission, die Massen zu erziehen. Im Juli 1995 hatte er eine breite Parlamentsmehrheit gegen sich, als sein Mißtrauensantrag gegen den Premierminister keine Zustimmung fand. Seitdem zieht er es vor, „an das Volk zu appellieren“: Die Volksbefragung vom 17. September sprach sich für eine Verfassungsänderung aus, derzufolge der Ministerpräsident durch den Präsidenten ernannt und nicht mehr durch die Abgeordneten gewählt wird. Mit diesem Schachzug will er die Exekutive vom Druck durch das Parlament entlasten und das Spiel mit den ständig wechselnden Mehrheiten beenden. Pastor Andriamanjato spricht von einer „Demokratie der variablen Geometrie“6.
Kann diese „stille Revolution“ von Professor Zafy mit seiner Flucht in den Volksentscheid das Land aus der Lähmung führen? Nachdem die Spielchen der Politiker den großen Wurf einer Reform der Republik nicht gebracht haben, setzen einige Kreise ihre letzten Hoffnungen auf die dezentralen Kommunalwahlen im kommenden November und auf die dann fällige Einberufung eines Senats, der die Provinzen vertreten soll. Damit setzen sie wieder einmal auf den Glauben, eine Mobilisierung an der Basis könne das Land auf Trab bringen ...7
dt. Maria Helena Nyberg
1 Die Repression führte zum Tod von Hunderttausenden von Menschen und raffte eine ganze Generation dahin. In Frankreich wie in Madagaskar wurde ein Schleier des Schweigens über diese dramatischen Ereignisse gezogen, die einen der ersten nationalistischen Volksaufstände und eines der schlimmsten Massaker der kolonialen Nachkriegszeit darstellten.
2 Vgl. Jaona Ravaloson, „Transition démocratique à Madagascar“, Paris (L'Harmattan) 1994.
3 Vgl. Philippe Leymarie, „Le président Ratsiraka, champion de l'entreprise privée“, Le Monde diplomatique, Januar 1989.
4 Vgl. Claude-Gérard Marcus, „rapport d'information Nr. 1853“, französische Nationalversammlung, August 1994, und Françoise Raison-Jourde, „Une transition achevée ou amorcée?“, Politique africaine Nr. 52, Dezember 1993.
5 Eine von vier jungen Exponenten des alten Regimes redigierte Broschüre konnte unter dem Titel „Madagascar, naufragé volontaire“ einen großen Erfolg verbuchen. Darin werden alle Finanzskandale untersucht und als Zeichen einer „Abdankung der Nation“ gewertet.
6 Richard Andriamanjato, Interview in Radio France Internationale, 11. September 1995.
7 Vgl. Jean Hélène, „Dénuement et ranc÷ur au sud de Madagascar“, Le Monde, 9. Juli 1995.