Der Einfluß der Kirchen auf die „Große Insel“
Von unserer
Sonderkorrespondentin
SYLVIE BRIEU *
EIN heftiger Wind fegt über die zwanzig Hektar große Mülldeponie von Andralanitra, dem größten Schuttabladeplatz von Antananarivo (die „Stadt der Tausend“), acht Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt Madagaskars entfernt. Die Luft ist erfüllt von einem atemberaubenden Gestank. Es wimmelt von Fliegen. Ganze Familien hocken inmitten ihrer schwarzen Hausschweine auf Bergen von Unrat und warten geduldig auf den nächsten Mülltransport.
Jungs mit struppigem Haar und in verfilzten Lumpen betreiben diese Art von Müllverwertung mehrere Stunden am Tag. Den Rest der Zeit verbringen sie in der an der Zufahrt zur Deponie gelegenen Schule, die Pater Pedro Opeka und seine Vereinigung Akamasoa („Die guten Freunde“) eigens für sie errichtet haben. Mit Unterstützung einer Handvoll Freiwilliger hilft der katholische Priester seit 1989 diesen Ausgestoßenen, ihre Würde wiederzufinden. Inzwischen sind drei gemeinnützige Zentren – Andralanitra, Manantenasoa und Antolojanahary – nebst Schulgebäuden und Ambulatorien entstanden. Die ehemaligen „vier Mis“, wie diese Leute genannt werden1, durchwühlen die Müllberge, arbeiten in einem Steinbruch oder stellen Karten und Decken her. Eine Art interner Sozialversicherung, kleine Zuwendun* Journalistin.
gen in Form von Reis oder Geld, vielleicht sogar die Zuteilung eines kleinen Grundstücks für den Bau eines Ziegelhäuschens machen es Hunderten von Familien möglich, ihre Existenz am äußersten Rand der Gesellschaft hinter sich zu lassen.
Im Kreise seiner Mitarbeiter geht Pater Pedro regelmäßig mit großen Schritten durch die bevölkerungsreichen Quartiere seiner Schützlinge von Antananarivo. Die Hauptstadt der „Großen Insel“ ist eines der großen Elendszentren der Großregion, die den Indischen Ozean umgibt. In ihren Quartieren, die über eine Million Menschen und damit die Hälfte der städtischen Bevölkerung Madagaskars beherbergen, sind die Zeichen des sozialen Verfalls offensichtlicher als anderswo. Halbnackte Kinder hängen sich an Passanten, um Kleingeld zu erbetteln. Die Wohnungsnot schreit zum Himmel, die Behausungen sind winzig, die Müllabfuhr ist permanent überlastet, überall herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. Und all dies in einem Land, in dem die galoppierende Inflation den Preis für einen Sack Reis auf über 50000 FMG2 getrieben hat, was etwa einem Mindestlohn entspricht, den viele freilich gar nicht erhalten ...
Die Madegassen, von wachsender Armut in die Enge getrieben, scheinen illusionslos unter der Dritten Republik dahinzuvegetieren. Zu deren Entstehung haben die christlichen Kirchen, die zu den wenigen unumstrittenen Institutionen im Lande gehören, nicht unwesentlich beigetragen. „Das Elend breitet sich wie ein Krebsgeschwür aus. Die Zahl der ,vier Mis‘ steigt laufend. Die Ausgestoßenen wollen nichts als raus aus den Städten, in denen sie als Untermenschen angesehen werden. Sie suchen Schutz in den Dörfern. Sie haben Angst. Sie wissen nicht, wie sie sich wehren können“, erklärt Pater Pedro.
Das kleine Dorf Antsiramandroso liegt inmitten des tropischen Regenwaldes, 15 Kilometer nördlich von Toamasina, dem einzigen natürlichen Hafen an der Ostküste. Ein ausgetretener Pfad wird von Bananenstauden, Kaffeesträuchern und Gewürznelken gesäumt und führt über enge Brücken, die aus einfachen Holzplanken notdürftig zusammengenagelt sind.
Das von Pater Jean-Pierre Calvez – einem vazaha, einem weißen Ausländer – und Dutzenden von Betreuern geleitete Bildungszentrum macht die Bauern mit den modernen Techniken der Landwirtschaft und der Herstellung von Werkzeugen vertraut. Auf Wunsch werden die Leute auch in der Gesundheitspflege ausgebildet, und langsam entstehen genossenschaftlich geführte Apotheken. In Madagaskar ist die Sozialarbeit ein Grundelement der Evangelisation. Die christlichen Kirchen – ob katholisch, reformiert, lutherisch oder anglikanisch – gehören zu den Hauptträgern der Entwicklungshilfe; seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 spielen sie im Leben des Landes eine immer intensivere Rolle. Und angesichts der steigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten seit Beginn der achtziger Jahre haben sie zunehmend die Funktion, das staatliche Versagen zu kompensieren.
„In jeder Kirchengemeinde haben wir Kommissionen gebildet, die sich um alles kümmern, was das politische und soziale Leben der Nation betrifft“, erklärt Pastor Edmond Razafimahefa, Präsident der reformierten Kirche Madagaskars. „Die Privatschulen weisen eine größere Anzahl von erfolgreichen Schulabgängern auf“, meint der Kardinal und Erzbischof von Antananarivo, Monsignore Armand Razafindratandra. Der Rückzug des Staates aus der Gesundheitsversorgung – die 1994 gerade mal zwei Prozent des Staatshaushaltes ausmachte –, hat die Präsenz der Kirchen im gesellschaftlichen Leben noch verstärkt: Viele Regionen des Landes haben völlig unzureichende Gesundheitseinrichtungen, um die Krankenhäuser kümmert sich niemand mehr. Auch hier sind die Kirchen eingesprungen und haben überall auf der Insel Ambulatorien, Entbindungsstationen, Leprakrankenhäuser sowie Zentren für geistig und körperlich Behinderte aufgebaut. Pater Sylvain Urfer, der Verantwortliche für das Zentrum „Foi et Justice“ (Glaube und Gerechtigkeit), muß aber zugeben, daß die Kosten für den Unterhalt dieser medizinischen Einrichtungen ausschließlich vom Ausland bestritten werden.
DIE an allen Fronten aktiven Kirchen können ein großes Vertrauenskapital nutzen: 45 Prozent der madegassischen Bevölkerung bekennt sich zum Christentum. „In diesen schwierigen Zeiten wächst der Einfluß der Kirchen vor allem in den am meisten benachteiligten Schichten. Die Kirchengemeinden sind offenbar ein Zufluchtsort, wo die Menschen sich nach all ihren Enttäuschungen wieder sammeln können, ohne eine politische oder ideologische Vereinnahmung befürchten zu müssen“, schreibt Henry Ranaivosoa, Herausgeber Revue de l'océan Indien.
Die kirchlichen Instanzen werden ständig aufgefordert, sich zu innenpolitischen Angelegenheiten zu äußern, und üben damit eine „quasi-politische Ge
genmacht“ aus. Gabriel Rabearimanana, Assistenz- professor an der geographischen Fakultät der Universität Antananarivo, glaubt, daß „ihr ideologischer und strategischer Einfluß bei der Machterlangung und -erhaltung eine beherrschende Rolle spielt“.1
Seit 1980 haben sich die reformierten, lutherischen, katholischen und anglikanischen Kirchen im FFKM, dem Rat der Christlichen Kirchen, zusammengeschlossen und gemeinsam gegen die sich zuspitzende Ungleichheit und gegen die ideologische Manipulation unter dem „sozialistisch-marxistischen“ Regime von Admiral Didier Ratsiraka gekämpft. Auf seinem ersten Kongreß, 1982 in Antsirabe, verabschiedete der FFKM eine Reihe von Resolutionen, in denen er die Behörden äußerst scharf kritisierte.4
Die unter zweifelhaften Umständen vollzogene Wiederwahl von Präsident Ratsiraka führte im Juni 1991 zu einer Mobilisierung des Volkes, die zutiefst von christlichen Werten geprägt war. Die Bibelverse „Laß dein Volk sich erheben“ und „Nieder mit den Mauern von Jericho!“ – womit natürlich die Regierung gemeint war – wurden auf zahllosen, den Gottesdiensten vorangehenden Kundgebungen aufgegriffen.
Die Konvention vom 31. Oktober 1991 markierte den Start einer Übergangsperiode und besiegelte die institutionelle Beteiligung des FFKM am politischen Leben des Landes. Artikel 3 übertrug ihm das Generalsekretariat der Obersten Staatsbehörde (HAE) und Artikel 6 das Mandat, ein nationales Forum zu organisieren. Auf diesem Forum wurden eine Verfassung und ein Wahlverfahren entworfen und Resolutionen verfaßt, die vom Geist des ersten FFKM-Kongresses durchdrungen waren. Sie wurden schließlich zum Regierungsprogramm der Forces Vives (Hery Velona), der Partei von Professor Albert Zafy, die siegreich aus den Präsidentschaftswahlen von 1993 hervorging.
Angesichts dieser Ereignisse schätzt Rabearimana, daß „der FFKM seit 1991 ohne einen hohen Regierungsposten de facto die politische Macht in Händen hält, da dieses Gremium eine politische Figur zu ,belobigen‘ wie auch zu ,verdammen‘ vermag.“5 Und Pater Adolphe Razafintsalama, ehemaliger Vertreter katholischen Kirche im FFKM, ergänzt: In einem fragilen Land wie Madagaskar, in dem die Christen das Sagen und die Macht haben, ist es doch verständlich, daß die Kirche auf nationaler Ebene eine starke Stellung hat.“ Mit Komitees zu Bereichen wie „nationales Leben“, „Entwicklungsprojekte“ usw. hält sich der FFKM über die inneren Vorgänge des Landes auf dem Laufenden.
Doch unter den Intellektuellen hat die Einmischung der Kirchen in die Politik der Übergangsperiode ein gewisses Unbehagen verbreitet; sie haben den Eindruck, man hätte ihnen ihre Verantwortlichkeiten weggenommen. „Die Kirche muß die Christen ermutigen, politische Verantwortung zu übernehmen, und nicht meinen, selber alles in die Hand nehmen zu müssen“, meint Madeleine Ramaholimihaso, eine militante Christin und Generalsekretärin des Nationalen Wahlbeobachtungskomitees (CNOE).
Einigen Mitgliedern des FFKM wird vorgeworfen, die Religion als persönliches Sprungbrett für die Durchsetzung politischer Ambitionen benutzt zu haben. In der Tat besteht eine enge, „affektive“ Verbindung zwischen der Kirche und der Macht. Ranaivosoa bestätigt: „Der FFKM ist praktisch eine Staatsinstitution. Offiziell besteht zwar eine Trennung zwischen Kirche und Staat. Aber praktisch neigt der Staat dazu, auf die geistlichen Führer zu hören. Der Staat fürchtet sich vor den Kirchen, so sieht die Wirklichkeit aus. Ratsiraka ist nur deshalb gescheitert, weil er nicht auf sie gehört hat.“
Seit kurzem sind die christlichen Kirchen zum Regime von Präsident Zafy etwas auf Distanz gegangen; im April 1995 haben sie eigens zur Respektierung der Verfassung aufgerufen, als gewisse Projekte den Eindruck erweckten, die Trennung von Politik und Rechtswesen in Frage zu stellen.
In dem Bestreben, gute Beziehungen zur Geistlichkeit zu unterhalten, nehmen die Vertreter der Staatsgewalt regelmäßig an kirchlichen Feierlichkeiten teil und laden die Kirchenoberhäupter zu wichtigen Staatsereignissen ein. In einer Botschaft an die katholische Kirche Madagaskars, anläßlich der Gedenkfeierlichkeiten vom 21. August 1994 für den heiligen Victoire Rasoamanarivo, ging Präsident Zafy so weit, die Kirche und den Staat mit Wasser und Reis zu vergleichen ...
Angesichts einer 36jährigen politischen Karriere ist Pastor Richard Andriamanjato, der Vorsitzende der Nationalversammlung, ein Beispiel dieser Verflechtung von Religion und Politik. Könnte es ein Kirchenmann bis zum Präsidenten schaffen? „Gewiß“, antwortet er prompt, „warum sollte Regieren das Monopol von Leuten bleiben, die keine theologische Ausbildung haben?6“
Innerhalb der Geistlichkeit gibt es aber auch Stimmen, die auf die Risiken einer Unterjochung der Kirche durch den Staat hinweisen; sie empfehlen lautstark die Rückkehr zur Ökumene, die sie als die vordringlichste Aufgabe des FFKM betrachten: „Die Bibel ist kein politikwissenschaftliches Buch, sondern ein Buch des Glaubens!“ So der markante Ausspruch eines reformierten Pfarrers.
Die Sensibilität für dieses Thema ist allerdings je nach Glaubensrichtung unterschiedlich stark: „Wir sind eher im politischen Bereich aktiv“, erklärt Pfarrer Razafimahefa, „während sich die katholische Kirche stärker im sozialen Bereich engagiert.“ Der Konsens innerhalb des FFKM ist damit in gewisser Weise in Frage gestellt. Deshalb wird auch bereits darüber diskutiert, wie man eine gemeinsame Linie finden und für die Zukunft jegliche Gefahr einer Spaltung abwenden kann.
dt. Maria Helena Nyberg
1 So nennt man die Ausgestoßenen, weil die Wörter, mit denen sie beschrieben werden könnten, alle mit dem Laut „Mi“ beginnen: mifoka, Drogen; misotro, Alkoholismus; mivarotena, Prostitution; mingalatara, Diebstahl.
2 Die Daten wurden im Mai 1995 erfaßt. Der Wechselkurs betrug damals für 1 franz. Franc 820 FMG.
3 Siehe Revue de l'océan Indien, Mai 1994.
4 Siehe Sylvain Urfer, „Quand les Églises entrent en politique“, Politique africaine, Dezember 1993.
5 „Le pouvoir au service de la société, 27. September 1984.
6 Ein anderer Pastor, Paul Ramino, ehemaliger Generalsekretär der Hohen Staatsbehörde und einer der Väter der jetzigen Verfassung, hat sich für das Amt des Bürgermeisters von Antananarivo beworben, ein Posten, den Pastor Andriamanjato mehr als fünfzehn Jahre innehatte.