13.10.1995

Ein geopolitischer Raum bricht auseinander

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Ein geopolitischer Raum bricht auseinander

DAS „strategische Herz der Welt“ wird der Indische Ozean bei jeder neuen Erdölkrise genannt, er bleibt aber von äußeren Mächten dominiert, die alle Seewege und Meerengen abgeriegelt haben. Die USA halten dabei eine beherrschende Stellung, auch gegenüber regionalen Giganten wie Südafrika, Indien und Australien. Zumal diese unfähig sind, eine gemeinsame Front von Anrainerstaaten zustande zu bringen. Hinzu kommt, daß die kleinen oder mittleren Staaten – wie etwa Madagaskar – in endlose wirtschaftliche, soziale und politische Krisen verstrickt sind.

Von RAOUL DELCORDE *

Selbst wenn es Ex-Präsident George Bush nicht wirklich beabsichtigt haben sollte, hat die Operation „Desert Storm“ dafür gesorgt, daß den Vereinigten Staaten eine neue sicherheitspolitische Rolle im Indischen Ozean zufällt. Nebst der Sicherung eines freien Zugangs zu den Meerengen und den „Flaschenhälsen“ der Seerouten haben es sich die amerikanischen Streitkräfte zur Aufgabe gemacht, die Förderung und den Abtransport des Golföls zu schützen und das regionale Gleichgewicht im Auge zu behalten, insbesondere die Wiederaufrüstung des Iran und des Irak.

Aber Washington verfolgt damit gleichermaßen noch weitere Ziele: den Ausgang des Roten Meers und des Suezkanals zu kontrollieren; die malaiischen und indonesischen Meerengen, welche den Indischen Ozean mit dem Pazifik verbinden, wie auch den Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung zu überwachen; nötigenfalls in Ostafrika zu intervenieren; schließlich auch auf dem indischen Subkontinent präsent zu bleiben, wo nach wie vor Spannungen zwischen Pakistan und Indien und zwischen Indien und China herrschen.1

Auf dieser poltischen Bühne gibt es keine zweite gebietsfremde Macht, die hier einen ähnlichen Einfluß besäße. Rußland ist in der Region derzeit nicht präsent, aber auf Dauer wird das Land auf seine Rolle als „asiatische Macht“ sicher nicht verzichten können: Der einzige einigermaßen unbehinderte Seeweg, der den Pazifik mit dem Schwarzen Meer – also die asiatischen mit den europäischen Teilen des russischen Territoriums – verbindet, verläuft durch den Indischen Ozean.

Zur Zeit gibt es keine nennenswerte Präsenz der russischen Marine, denn ihre Schwarzmeerflotte ist in einem jämmerlichen Zustand, auch wenn sich Moskau durch die am 9. Mai 1995 unterzeichnete Vereinbarung mit der Ukraine die Kontrolle über vier Fünftel der ehemals sowjetischen Schwarzmeerflotte eingekauft hat. Zudem mußte man die wenigen aus Sowjetzeiten verbliebenen Stützpunkte im Roten Meer (in Jemen und Eritrea) aufgeben.

Zwischen dem Nahen Osten und dem pazifischen Asien gelegen, stellt Indien die zentrale Landmasse innerhalb des nach ihm benannten Ozeans dar. Indien ist zwar entschlossen, die Rolle einer regionalen Großmacht zu spielen, doch man weiß dort sehr wohl, daß dazu eine aktive Flottenpräsenz außerhalb der eigenen Sicherheitszone notwendig ist. Zu deren politischen Aufgaben würde gehören: erstens Flagge zu zeigen („show the flag policy“), nicht nur gegenüber den unmittelbaren Nachbarn, sondern auch gegenüber der Kriegsmarine von Nichtanrainerstaaten; zweitens die lebenswichtigen strategischen Schiffahrtsrouten zu schützen – 90 Prozent des indischen Außenhandels werden auf dem Seeweg abgewickelt; drittens in ausreichender Stärke zu intervenieren, wenn ein anderes Land darum bittet, wie im Falle der Malediven und Sri Lankas bereits geschehen.

Mit der weltweit sechstgrößten und der regional größten Kriegsflotte ist Indien tatsächlich das einzige Land, das gegen die Marineeinheiten der umliegenden Länder ein zwar begrenztes, aber eindrucksvolles Aufgebot von Flugzeugträgern aufbieten kann. Ein im Januar 1995 unterzeichnetes Abkommen sieht die Lieferung von Flugzeugträgern der Admiral- Gorschkow-Klasse aus ehemaligen Beständen der sowjetischen Nordmeerflotte an die indische Marine vor.

Daß Indien die amerikanische Präsenz auf der Insel Diego Garcia verurteilt – im Namen einer auf den Indischen Ozean übertragenen Monroe-Doktrin (Gandhi- Doktrin) – könnte zugleich den Willen signalisieren, die ausländischen Militärmächte in der Region fernzuhalten, um sich als alleinige – und von Hegemonialinteressen auch nicht ganz freie – regionale Großmacht zu etablieren. Eine solche Strategie kann Indien jedoch ernsthaft erst dann in Angriff nehmen, wenn es die latenten Konfliktherde auf dem Subkontinent selbst – namentlich an seiner pakistanischen und chinesischen Grenze – in den Griff bekommen hat.

Australien verfolgt die Machtgelüste Neu-Delhis mit einiger Sorge, strebt aber gleichzeitig bei der Verteidigung der Seerouten und beim Schutz der Handelsschiffahrt eine Zusammenarbeit mit Indien an. Als militärische Mittelmacht verfügt Australien über eine Marine, die sich technologisch wie strategisch am Westen orientiert. Eine engere Beziehung beider Länder würde es Indien zudem ermöglichen, die Sicherheitsinteressen der südostasiatischen Länder, deren Bedeutung ständig wächst, besser einzuschätzen.

In diesem Teil des Indischen Ozeans ist überdies eine Zusammenarbeit zwischen Indonesien, Malaysia, Singapur und Thailand im Entstehen begriffen. Die Vereinigten Staaten, die 1992 ihre Militärbasen auf den Philippinen räumen mußten, sehen sich in der Region einem wachsenden Widerstand gegenüber, wenn sie neue militärische Einrichtungen durchsetzen wollen. Mit Ausnahme von Singapur will kein Staat der amerikanischen Marine als logistischer Stützpunkt dienen. Zwar sieht man in der Präsenz der USA ein nützliches Gegengewicht zu den seerechtlichen Ansprüchen Chinas (man denke an die chinesisch-vietnamesischen Spannungen bezüglich der Spratleyinseln), doch dürfe diese Präsenz „nicht die Form von Militärstützpunkten annehmen“, erklärte ein maßgeblicher indonesischer Diplomat.

Am Roten Meer und am Horn von Afrika herrscht nach wie vor eine äußerst ungewisse Lage. Mit der Unabhängigkeit Eritreas hat Äthiopien – der Gigant Ostafrikas – den Zugang zum Roten Meer verloren, auch wenn das im April 1995 mit Asmara geschlossene Abkommen eine Freihandelszone mit Eritrea vorsieht. Äthiopien dürfte wohl über kurz oder lang versuchen, wieder einen direkten Zugang zum Meer zu erlangen oder verschärften Druck auf Dschibuti auszuüben. Somalia ist wegen der im Lande herrschenden Anarchie nicht in der Lage, seine Nordprovinz – in der mittlerweile die unabhängige Republik Somaliland ausgerufen wurde – unter Kontrolle zu bringen.

Der im Mai 1994 ausgebrochene Konflikt im Jemen hat die politische Instabilität der Region weiter verschärft; die forcierten Anstrengungen Saudi-Arabiens, die Niederlage des Südens zu verhindern, zeigten deutlich, daß man in Riad befürchtet, am Eingang zum Roten Meer und im Süden der Arabischen Halbinsel könnte sich ein feindlicher Staat etablieren. Diese Furcht wird vom prowestlichen Sultanat Oman geteilt, das sich nur unter größten Schwierigkeiten gegen ein starkes Jemen behaupten könnte. Jemen, das unter die Vorherrschaft der bewaffneten Stammesverbände des Nordens geraten ist, hat gleichwohl die Grenzstreitigkeiten mit seinem Nachbarn beigelegt.2

In der Golfregion schließlich üben die Vereinigten Staaten die totale Kontrolle über sämtliche Sicherheitsfragen aus. Sie arbeiten an der Errichtung eines Verteidigungssystems, das iranische oder irakische Bestrebungen im Keim ersticken soll. Bilaterale Abkommen zwischen den Staaten des Golfkooperationsrates und Washington sehen gemeinsame Manöver vor und erlauben die Errichtung von Luftwaffen- und Marinestützpunkten.

Selbst wenn der Irak nicht mehr über ein Militärpotential verfügt, das ihm ein neues Kriegsabenteuer erlauben würde, konnte er sich doch eine Streitmacht erhalten, die seine iranischen Nachbarn abschreckt, feindselige Operationen zu beginnen oder interne Aufstände zu provozieren. Die Sonderkommission der UNO übt eine weitgehend erfolgreiche Kontrolle über die von den Vereinten Nationen verfügten Abrüstungsmaßnahmen aus. Und die USA haben mehrfach demonstriert, daß sie keinen Moment zögern, das Regime in Bagdad mit militärischen Mitteln unter Druck zu setzen.

Doch nach der Theorie der „doppelten Eindämmung“3 muß Teheran ebenfalls neutralisiert werden. Washington sieht in der Aufrüstung des Iran eine ernste Bedrohung der Sicherheit der Golfregion und übt entsprechenden Druck auf die waffenexportierenden Länder Pakistan, Indien, China, Nordkorea und Rußland aus.

Von einem regionalen Sicherheitssystem ist man am Golf also weit entfernt, was einerseits an dem erheblichen militärischen Ungleichgewicht zwischen den einzelnen Ländern der Region liegt, andererseits an der Weigerung der Vereinigten Staaten, sich zurückzuziehen. Kein einziges Land am Indischen Ozean ist in der Lage, einen politischen Plan vorzulegen, der die verschiedenen Interessen bündeln und als Beweis dafür dienen könnte, daß es eine gemeinsame Ebene für die strategischen Bedürfnisse der ganzen Region gibt. Infolgedessen können Drittmächte – allen voran die Vereinigten Staaten – weiterhin ungehindert die wichtigsten Schiffahrtsrouten und die internationalen Meerengen kontrollieren – jene „Flaschenhälse“, an denen immer wieder Krisen und Konflikte ausbrechen ...

dt. Maria Helena Nyberg

* Belgischer Politologe und Diplomat.

1 Siehe Raoul Delcorde, „Le Jeu des grandes puissances dans l'océan Indien“, Paris (L'Harmattan) 1993.

2 Vgl. Olivier Da Lage, „Les rèves brisés de l'unité yéménite“, Le Monde diplomatique, Juli 1994.

3 Zur Theorie der „doppelten Eindämmung“ vgl.: Alain Gresh, „Entre Washington et Israäl, une alliance sans faille“, Le Monde diplomatique, Juli 1993.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Raoul Delcorde