13.10.1995

Ausnahmezustand als Chance für Reformen?

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Ausnahmezustand als Chance für Reformen?

SEIT dem 18. April 1995 herrscht in Bolivien der Ausnahmezustand. Kernpunkte der Krise sind der ständig wachsende Unmut in der Bevölkerung – 70 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze –, der Aufruhr in einigen Gebieten im Zusammenhang mit dem Reizthema „Dezentralisierung“ sowie vor allem ein starker Widerstand gegen die Reformpolitik der Regierung.

Welch kurioser Cocktail sind diese Reformen, eine Mischung aus der Geisteshaltung von 19521 und den klassischen Rezepten des Neoliberalismus (wobei letztere überwiegen). Nicht anders die Bildungsreform, die mit einer humanistischen Vision aufwartet: Einführung des Unterrichts in indigenen Sprachen an den Grundschulen. Aber begleitet von einem Frontalangriff auf den Lehrkörper: der sei „überwiegend unterqualifiziert“ – aber ist denn seine Ausbildung nicht Aufgabe des Staates? – und stehe „unter der Botmäßigkeit von Anführern, die sich mit ihren gewerkschaftlich garantierten Privilegien ein schönes Leben machen“. So lautet die Begründung für die Einrichtung einer ständigen Leistungskontrolle der Lehrer (der durch die Androhung von Entlassungen Nachdruck verliehen wird) und die Öffnung des Lehrbetriebs für Vertreter anderer Berufsgruppen. Bei all dem wurden die vorrangig Betroffenen nicht konsultiert, die immerhin bereits 1992 den Entwurf eines Rahmengesetzes zur Reform des Erziehungswesens erarbeitet hatten.

Dahinter verbirgt sich eine gezielte Schwächung der Lehrergewerkschaften, die seit dem fast vollständigen Verschwinden der Bergarbeiter den harten Kern des Gewerkschaftsverbandes (Central Obrero Boliviano, COB) bilden. In einem Land, in dem sich die politischen Parteien durch Korruption und neoliberale Praktiken gründlich in Verruf gebracht haben, ist die Arbeitervertretung die letzte mächtige oppositionelle Kraft.

Die gleiche Ambivalenz prägt das kommunale Beteiligungsgesetz. Es überträgt den Gemeinden – je nach Höhe der jeweiligen Einwohnerzahlen – Geldmittel in einem Umfang von insgesamt 20 Prozent der Staatseinnahmen und sieht vor, daß die städtischen und ländlichen Kommunen erstmals die alleinige Entscheidungsgewalt über diese Gelder zugesprochen bekommen. Dadurch, daß den indianischen Dorfgemeinschaften die juristische Anerkennung gewährt wurde, „existiert heute ein Mit- und Nebeneinander der althergebrachten Gemeinschaftsstruktur und des Gemeinwesens nach westlichem Muster“, erläutert der Minister für Volksentwicklung, Enrique Ipina.

Damit sollten bäuerliche Schichten, die man bislang völlig außer acht gelassen hatte, in großem Maße in den Prozeß politischer Mitwirkung eingebunden werden. Aber diese Reform – auf die Weltbank und IWF gedrängt haben, damit die Regierung sich ihrer Ausgaben im Bereich der Gesundheit und Erziehung „entledige“ – beinhaltet, daß die Gemeinden mit den ihr nun zur Verfügung stehenden Mitteln die Kosten für die Verwaltung wie für den Unterhalt schulischer Einrichtungen und Krankenhäuser eigenständig bestreiten müssen. Einzige Ausnahme: die Lohnkosten. Die öffentlichen Einrichtungen sind jedoch großteils in einem verheerenden Zustand.

Hinzu kommt, daß die Sorge zahlreicher Bürgermeister angesichts des unerwarteten Geldsegens – soviel weiß man bereits – meist als erstes der Neuanschaffung gilt: hie eines Kleinlasters, hie einer Parabolantenne. Mit dem Aufbau solch neuer territorialer Basisorganisationen versucht die politische Führung, die bestehenden bäuerlichen und Volksorganisationen ebenso wie die Gewerkschaften ins Abseits zu drängen. Das am 22. März 1994 erlassene Gesetz zur Kapitalisierung von Staatsbesitz wird als eines der weltweit ehrgeizigsten Wirtschaftsprogramme präsentiert. Und bietet einen Ansatz, wie er klassischer kaum sein könnte: Verkauf von Staatsbetrieben, von denen einige durchaus wirtschaftlich arbeiten: Entel (Elektrizität) und YPFB (Erdöl) machen allein 49 Prozent der staatlichen Einnahmen aus. Aber „Kapitalisierung“ ist nicht gleich „Privatisierung“, heißt es in La Paz. Hat man den geschätzten Wert eines Unternehmens ermittelt, entrichtet der Investor den geforderten Betrag und übernimmt die Firmenleitung, „aber 50 Prozent der Aktien verbleiben im Besitz des bolivianischen Staates“. Eine Kapitalverdopplung also, die auf Investitionen zielt. Der staatliche Aktienanteil soll „an das bolivianische Volk“ verteilt werden – an alle Bolivianer, die in diesem Jahr volljährig werden (was, nebenbei gesagt, all diejenigen ausschließt, die erst nächstes Jahr einundzwanzig werden, also eine Diskriminierung zwischen den Generationen darstellt) – und bis zur Pensionierung von einem Rentenfonds verwaltet werden; erst in diesem Moment besteht die Möglichkeit, über die Erträge aus diesem Besitz zu verfügen.

DAS zumindest hat es noch nicht gegeben. Aber es fällt schwer zu glauben, daß sich ein privater, eventuell ausländischer Investor findet, der die Hälfte zum Preis des Ganzen kauft – es sei denn, der geschätzte Wert der fraglichen Betriebe wäre, wie einige behaupten, beim „Wert eines toten Huhns“ gelandet. Das bolivianische Institut für Wirtschaftsforschung macht sich seinerseits Gedanken: „In welchen Ausmaß steht ein Stellenabbau bevor? Bis die Produktion einen hohen Grad erlangt hat, muß das kapitalisierte Unternehmen nur verminderte Zahlungen an den Staat leisten. Spielen Verluste eine Rolle? Und über welchen Zeitraum? Wie man weiß, steht auch 42 Jahre nach der Agrarreform die Rückgabe enteigneten Besitzes in zahlreichen Fällen noch aus. Was gedenkt man zu tun, damit die Verteilung der Aktien unter drei Millionen Bolivianern nicht genausoviel Zeit in Anspruch nimmt?“2

Und Verteilung an wen? „Ein Drittel der Bevölkerung verfügt nicht einmal über die nötigen Papiere, um den Nachweis der Staatsbürgerschaft zu erbringen – die Hälfte aller Frauen befindet sich in dieser Situation.“ Und schließlich – wie unglaublich es auch klingen mag – muß man zwanzig Jahre lang Steuern bezahlt und das pensionsberechtigte Alter von fünfundsechzig Jahren erreicht haben, bevor man in den Genuß seiner Dividenden kommt: Das gelingt kaum 4,3 Prozent der Bevölkerung. Die Lebenserwartung der Armen liegt bei unter fünfzig Jahren!

Wenige Tage bevor auf abenteuerliche Weise das Gesetz zur Dezentralisierung durchgesetzt wird, das den vom Präsidenten ernannten Präfekten weitreichende Befugnisse überträgt, verlängert die Regierung am 18. Juli den Ausnahmezustand, um seine Reformpolitik „in einvernehmlicher und ruhiger Atmosphäre“ fortsetzen zu können. Als Vorwand dient der Aufruhr unter den cocaleros in der Region Chapare.

M.L.

dt. Christian Hansen

1 1952 hatte ein Volksaufstand – angeführt (und gebremst) von der Nationalen Revolutionsbewegung (MNR) – die Verstaatlichung der Zinnminen, die Auflösung der Armee und die Einleitung einer Agrarreform herbeigeführt.

2 Los Tiempos, Cochabamba, 11. Juli 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von M.L.