13.10.1995

Die Vereinten Nationen der Vereinigten Staaten

zurück

Die Vereinten Nationen der Vereinigten Staaten

SIND die Vereinten Nationen eine hinfällige Organisation? Während die 50. Generalversammlung zusammentritt, muß die UNO eine Bilanz der gewaltigen Umwälzungen ziehen, die unseren Planeten in den letzten fünfzig Jahren erschüttert haben: demographische und wissenschaftliche Revolutionen, Entkolonisierung, Niedergang des Kommunismus, Sieg des Kapitalismus. Die Konfrontation zwischen Ost und West hat sich überlebt, doch Armut, ökonomische Ungleichheiten und ökologischer Raubbau bleiben permanente globale Herausforderungen. Gewiß muß die UNO erneuert werden, doch dürfen weder sie noch ihre Sonderorganisationen in den Dienst der Interessen der Vereinigten Staaten gestellt werden.

Von GILBERT ACHCAR *

Im Unterschied zu den Institutionen von Bretton Woods, in denen die amerikanische Dominanz dadurch abgesichert wurde, daß die Stimmen nach dem Beitrag zum Finanzaufkommen gewichtet wurden, folgte die Organisation der Vereinten Nationen einem eher idealistischen Konzept. Das in der Charta verankerte „Prinzip der souveränen Gleichheit aller Mitglieder“ gewährt jedem Staat nur eine Stimme und damit gleiches Gewicht in der Generalversammlung.

Dieses Prinzip wird relativiert durch den nicht bindenden Charakter der Beschlüsse der Generalversammlung, die zu den wichtigen Fragen lediglich „Empfehlungen“ abgeben kann. Die Regeln des Sicherheitsrats, in dem die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht besitzen, verhindern zudem jede Berufung auf Abschnitt VII der Charta, also die Verabschiedung von zwingenden Anordnungen, einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt, sofern eine der Siegermächte von 1945 die Zustimmung verweigert.

Für Washington sollte die UNO ein Instrument zur Sicherung und Erhaltung des Friedens in der neuen Weltordnung sein, an deren Spitze nach dem Krieg unangefochten die Vereinigten Staaten standen: 1945 erzeugten sie mehr als die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts und waren die einzige Atommacht in der Welt. In der Generalversammlung hatten sie das Sagen, da sie zusammen mit ihren zahlreichen Klientelstaaten über die Stimmenmehrheit verfügten. (Von den 51 UNO- Mitgliedern gehörten 1945 nur zehn Länder zu Asien oder zu Afrika, wozu auch noch die Südafrikanische Union zählte.) Dagegen wurde der Sicherheitsrat als Organ konzipiert, das auf dem Konsens zwischen den Großmächten gründet. Dies führte dazu, daß er in den 45 Jahren von der Gründung der UNO bis zum Golfkrieg aufgrund eines potentiellen oder tatsächlichen Vetos sehr häufig handlungsunfähig wurde.

Moskau hat in den ersten Jahren des Kalten Krieges von 1945 bis 1955 mit 77 Einsprüchen von seinem Vetorecht intensiven, quasi systematischen Gebrauch gemacht. Nur das vorübergehende Fernbleiben der UdSSR aus dem Sicherheitsrat – aus Protest dagegen, daß der chinesische UNO-Sitz den Nationalchinesen in Formosa (Taiwan) zugesprochen wurde – erlaubte es der Regierung Truman im Juni 1950, bei der Intervention in Korea ihre Truppen und die der Alliierten unter die Flagge der Vereinten Nationen zu stellen. Als Moskau in den Sicherheitsrat zurückkehrte, verfiel der amerikanische Außenminister Dean Acheson auf die Idee, das sowjetische Veto dadurch zu umgehen, daß bei einem blockierten Sicherheitsrat die Anrufung der Generalversammlung möglich sein sollte (Resolution „Union für den Frieden“ vom 3. November 1950). Dies zeigt, in welchem Maße die Vereinigten Staaten die Generalversammlung als ein ihr willfähriges Forum betrachteten.

Erstmals im Jahr 1970 sah sich Washington genötigt, (in der Frage des südlichen Afrikas) von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen. Doch in den Jahren, die nun folgten, sollten sie ihre Macht, eine Entscheidung zu blockieren, weitaus häufiger einsetzen als die Sowjetunion. Denn inzwischen hatte sich die Zusammensetzung der Generalversammlung grundlegend gewandelt, wobei sich die veränderten Kräfteverhältnisse innerhalb der Organisation auch auf den Sicherheitsrat auswirkten: Die Zahl der nichtständigen Mitglieder wurde 1965 von sechs auf zehn erhöht. Der massive Zustrom afrikanischer und asiatischer Staaten in die UNO, der ab 1960 mit der Entkolonisierung einsetzte, sowie die zunehmende Bedeutung des Gedankens der „Blockfreiheit“ ließen mit der Zeit eine neue Mehrheit entstehen, die zwar nicht gleichgeschaltet war, aber deshalb den Hegemonieplänen der Vereinigten Staaten, die als größte „neokoloniale Macht“ galten, nicht weniger ablehnend gegenüberstand.

Diese Verkehrung der Verhältnisse erreichte ihren Höhepunkt in den siebziger Jahren: Die Generalversammlung bezeichnete 1975 gegen den Widerstand Washingtons den Zionismus als „eine Form von Rassismus und Rassendiskriminierung“, nachdem sie sich bereits für eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ ausgesprochen hatte. Die Reaktion der Vereinigten Staaten zu diesen wie zu vielen anderen Fragen fiel – besonders während der Präsidentschaft von Ronald Reagan – außerordentlich heftig aus. Washington wetterte gegen die „Diktatur der Mehrheit“ und verlangte, daß die Stimmen der UNO-Mitglieder bei Haushaltsfragen entsprechend ihrem Beitragsanteil zu ebendiesem Haushalt gewichtet werden sollten.1 Und die amerikanische Regierung entschied, ihren Anteil von 25 auf 20 Prozent zu senken, bis ihre Forderung erfüllt würde. Außerdem beschloß sie, ihre Zahlungen zu verzögern und zurückzuhalten, was die UNO in eine schwere Finanzkrise stürzte. Zur gleichen Zeit verschärften sich die politischen Differenzen zwischen Washington und den Vereinten Nationen, insbesondere als die Organisation 1984 die Blockade der Häfen von Nicaragua und 1986 die amerikanischen Bombenabwürfe auf Ziele in Libyen verurteilte.

Obwohl den Vereinigten Staaten 1986 von der UNO de facto ein Vetorecht hinsichtlich der Verwendung der Haushaltsmittel eingeräumt wurde, setzten diese, nachdem sie 1987 größere Zahlungsrückstände beglichen hatten, ihre finanziellen Störmanöver fort. Der Kleinkrieg schwelte weiter. Als sich die USA 1988 weigerten, Jassir Arafat ein Einreisevisum für New York auszustellen, mußte sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach Genf begeben, um den Palästinenserführer anzuhören. Zu Beginn der Amtszeit von Präsident George Bush flackerten die Scharmützel wieder auf, als die Generalversammlung die amerikanische Intervention in Panama vom Dezember 1989 verurteilte.

Unterdessen mehrten sich die Anzeichen für den Wandel, der auch durch die sowjetische Diplomatie unter Michail Gorbatschow beschleunigt wurde. Präsident Reagan hatte gegen Ende seiner zweiten Amtszeit die Chance erkannt, die Rolle der UNO im Sinne amerikanischer Interessen zu reaktivieren. Der Kongreß war jedoch nicht bereit, ihm auf diesem Weg zu folgen, und verweigerte die finanziellen Mittel, um die amerikanischen Beitragsrückstände gegenüber der Organisation zu begleichen. Dennoch gingen die Veränderungen weiter. Dabei stellte sich die UNO in den Dienst einer friedlichen Lösung sogenannter Stellvertreterkonflikte auf dem afrikanischen Kontinent, in denen sich Klientelstaaten der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gegenüberstanden. Zudem stimmten die beiden Supermächte der Entsendung von UNO-Beobachtern zu. So gestattete Moskau von 1988 an, den Abzug seiner Truppen aus Afghanistan zu überwachen, und Washington war seit 1989 damit einverstanden, in Mittelamerika die Demobilisierung der „Contras“ in Nicaragua kontrollieren zu lassen.

Der neue Multilateralismus

ZWEI Faktoren haben die zweite Wende in den Beziehungen zwischen Washington und den Vereinten Nationen beschleunigt, die weitaus abrupter als die erste erfolgte. Da war zunächst natürlich der Niedergang der Sowjetunion, der das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten grundlegend veränderte. „Multilateralismus“, der für die Vereinigten Staaten nie etwas anderes bedeutet hatte als die Bildung von Militärbündnissen unter amerikanischer Führung, wenn möglich mit UNO-Unterstützung, wurde wieder zu einer plausiblen Perspektive; einer Perspektive überdies, die sich um so verlockender darstellte, als einer einseitigen Intervention der Vereinigten Staaten seit dem Vietnamkrieg beträchtliche Hindernisse entgegenstanden.

Der zweite, unvermutet auftretende Faktor war die Golfkrise, die durch die irakische Invasion in Kuwait am 2. August 1990 ausgelöst wurde. Sie sollte gewissermaßen zum Prüfstein für das Ende des Kalten Krieges und für einen neuen „Multilateralismus“ werden. Zum ersten Mal verurteilten die Großmächte einstimmig einen wichtigen Staat der Dritten Welt. Dabei gingen sie so weit, eine Seeblockade gegen ihn zu verhängen und die Zurückdrängung seiner Truppen „mit allen erforderlichen Mitteln“ zu billigen. Zum ersten Mal seit 1950, als die UdSSR den Sicherheitsrat aus Solidarität mit der Volksrepublik China blockiert hatte, griff man wieder auf Artikel 42 der Charta über den Einsatz militärischer Gewalt zurück – dieses Mal jedoch mit Zustimmung des Kreml und mit Billigung Pekings, das sich der Stimme enthielt.

George Bush begriff sehr rasch, welchen Vorteil er aus dem Entgegenkommen ziehen konnte, das Moskau ihm seit Beginn der Krise entgegenbrachte. „Multilateralismus“ sollte künftig zum Herzstück des politischen Marketing werden, das seine Regierung entwickelte, um den von ihr vorbereiteten Krieg der öffentlichen Meinung und dem Kongreß zu verkaufen.

In diesem „unipolaren Moment“2 war für das Weiße Haus die Rückendeckung durch die UNO aus innenpolitischen Gründen paradoxerweise nützlicher als der militärische Vorteil, den man sich von der Beteiligung der Alliierten versprechen konnte. Das größte Problem der Intervention bestand darin, sie in den Augen der Amerikaner zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht leistete die ausdrückliche Zustimmung der UNO einen entscheidenden Beitrag, der um so wertvoller war, als er zum ersten Mal erfolgte.3

Die Zustimmung der UNO hatte aber noch einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil. Sie legitimierte die von Washington vorgeschlagene Strategie und räumte dem US-Interventionismus ein anderes großes Hindernis aus dem Weg – das Problem der Finanzierung eines massiven Militäreinsatzes angesichts des kolossalen amerikanischen Haushaltsdefizits und einer hohen Netto-Staatsverschuldung. Washingtons Lösung bestand darin, die wohlhabendsten Verbündeten wie die Ölmonarchien am Golf, Japan, Deutschland und so weiter zur Kasse zu bitten. Diese Aufgabe erledigte Außenminister James Baker so überzeugend, daß ihm zwei bedeutende Vertreter des think- tank der amerikanischen Diplomatie den Spitznamen „Mutter aller Spendeneintreiber“ (mother of all fundraisers) anhängten.4 Seine Kollekte war in der Tat beachtlich. Die 53 Milliarden Dollar deckten die Kosten des Pentagon reichlich ab und brachten womöglich sogar einen Nettogewinn ein ...

Im Dezember 1992 beschloß Präsident George Bush die Intervention in Somalia, und zwar auf recht ungewöhnliche Weise, nämlich kurz bevor er im Weißen Haus von seinem Nachfolger Bill Clinton abgelöst wurde. Die Somalia-Mission sollte die vermeintlich wichtigste Errungenschaft seiner auslaufenden Amtszeit festklopfen: die erneuerte moralische Qualifikation der Vereinigten Staaten, militärische Interventionen unter der Flagge der Vereinten Nationen durchzuführen. Das Unternehmen hatte aber noch einen weiteren Effekt: Indem der noch amtierende Präsident Bush seinen Nachfolger darauf festlegte, eine bereits angelaufene Operation weiterzuführen, betätigte er sich gewissermaßen als Exorzist, der Clinton seine vor der Wahl bekundete Kriegsgegnerschaft austreiben konnte.5 Der Fall Somalia bot insofern eine geradezu unwiderstehliche Gelegenheit, als die Weltmeinung einhellig für eine Intervention war und auch die amerikanische Öffentlichkeit den Einsatz für legitim hielt. Die Sache ging dann allerdings ganz anders aus, als alle Welt erwartet hatte.

Ob es an der schlechten Durchführung der Operation lag oder an der unzureichenden Definition ihrer Ziele, sei dahingestellt. Jedenfalls hat der Abzug der amerikanischen Truppen aus Somalia die Pathologie des Pentagon um ein weiteres Krankheitsbild bereichert: Zu dem „Beirut-Syndrom“ und dem immer noch virulenten „Vietnam-Syndrom“ kam jetzt das „Somalia-Syndrom“ hinzu.7 Diese Syndrome haben schließlich jegliche Versuchung, amerikanische Truppen nach Bosnien zu entsenden, entscheidend gebremst. Um so deutlicher trat damit aber der außergewöhnliche Charakter des Konflikts in der Golfregion zutage, wo sich die Geländeformation wie nirgendwo sonst für eine elektronische Kriegsführung eignete.

Die amerikanische Intervention in Haiti vom September 1994 entsprach zwar dem Muster von 1990 – ein von der UNO unterstütztes Bündnis unter Führung der Vereinigten Staaten –, doch sie verdeutlicht eher die Probleme, die mit der Wiederholung eines solchen Musters verbunden sind, als dessen Wirksamkeit. Wenn man bedenkt, daß Haiti dicht vor der amerikanischen Küste liegt und der innere Zustand des Landes unmittelbare Auswirkungen auf die benachbarte Supermacht haben mußte, dann kann man sich nur über den heftigen Widerstand wundern, dem die Regierung Clinton vor ihrer Intervention im Kongreß und in der Öffentlichkeit gegenüberstand. Dieser Widerstand veranlaßte sie, vor Beginn der Operation einen Kompromiß mit der Junta auszuhandeln.

Eine wohlverdiente Ruhepause

SEIT mindestens zwei Jahren scheint jedoch der „Isolationismus“ in den Vereinigten Staaten die Oberhand zu gewinnen. Der „internationalistische“ Elan, den der Golfkrieg geweckt hatte, erwies sich als ebenso vergänglich wie das damit einhergehende Versprechen einer „neuen Weltordnung“. Das Ende des Kalten Krieges hat bei den Amerikanern vielmehr das weitverbreitete Gefühl genährt, ihrem Land stehe nunmehr, nachdem es die Hauptlast im Kampf gegen den Kommunismus zu tragen hatte, eine wohlverdiente Verschnaufpause zu. So war der von Bush eingeläutete neue „Honeymoon“ zwischen Washington und der UNO letzten Endes zu kurz, um zwei Jahrzehnte ständiger Scheidungsstreitereien vergessen zu machen. Und wie schon in früheren Jahren hatten die Auseinandersetzungen auch dieses Mal finanzielle Folgen.

Washington schmückt sich gerne mit der Flagge der UNO, wenn dies gelegen kommt, und um so lieber dann, wenn die Intervention seiner Truppen unter dem Vorwand des „Multilateralismus“ von anderen finanziert wird. Bei dieser Art Intervention gemäß Artikel VII agieren die amerikanischen Truppen unter eigenem Kommando, ohne sich UNO-Symbole wie das Tragen von Blauhelmen zuzumuten. Für einen Beitrag zur Finanzierung von Einheiten, an denen die USA nicht beteiligt sind oder die nicht ihrer direkten Kontrolle unterliegen, wie dies bei den unter UNO-Kommando stehenden sogenannten friedenserhaltenden Streitkräften der Fall ist, ist Washington jedoch nach wie vor nicht zu haben.8 Dies führte dazu, daß die Zahlungsrückstände der Vereinigten Staaten gegenüber internationalen Organisationen am 31. August 1994, zum Ende des letzten Haushaltsjahres, schon auf mehr als 1,5 Milliarden Dollar aufgelaufen waren. Davon entfielen nahezu zwei Drittel auf „friedenserhaltende“ Operationen.

Der 1994 gewählte Kongreß, der wegen seiner republikanischen Mehrheit für die Clinton-Administration „unansprechbar“ war, konnte die Beziehungen zwischen der UNO und ihrem Gastgeberland nur erschweren, zumal Bill Clinton kaum bereit ist, sich auf diesem Gebiet mit ihm anzulegen. Inzwischen wurde außerdem der amerikanische Wunsch nach Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien, der im Kongreß eine breite Mehrheit gefunden hatte und zeitweilig auch von der Regierung geteilt wurde, von den anderen Mächten im Sicherheitsrat abgelehnt. Am 17. Mai dieses Jahres mußte Washington sogar erstmals seit 1990 in der Israel-Frage wieder sein Vetorecht in Anspruch nehmen.

Gewiß besteht ein Widerspruch zwischen der „isolationistischen“ Rhetorik, die die Stars der siegreichen republikanischen Rechten zu jedem demagogisch passenden Anlaß verbreiten, und den „harten“ Interessen eines Landes, das empfindlich wie nie zuvor auf das reagiert, was sich auf dem Rest des Planeten ereignet. Und dieser Widerspruch sorgt dafür, daß die immer wieder aufwallende Leidenschaft der rechten Republikaner auch regelmäßig wieder abgekühlt und sachdienlich korrigiert wird. Zum Beispiel wurde der vom Kongreß verabschiedete National Security Revitalization Act, der den Präsidenten verpflichten sollte, die Zustimmung des Parlaments einzuholen, bevor amerikanische Truppen unter UNO-Kommando gestellt werden können, in dieser Hinsicht doch noch erheblich abgeschwächt.

Brent Scowcroft und Arnold Kanter, zwei einflußreiche Mitglieder der betont „internationalistischen“ Regierung Bush, haben in einem Artikel auf die Besonderheit des von ihnen so bezeichneten „neuen Unilateralismus“ hingewiesen. Dieser bestreite im Gegensatz zum traditionellen Isolationismus keineswegs die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Amerika und dem Rest der Welt; er signalisiere jedoch, „daß man sich der schweren Aufgabe, die internationale Führung zu übernehmen, nicht entziehen will, wohl aber bestrebt ist, die entsprechenden Lasten nicht nur zu teilen, sondern wo immer möglich loszuwerden. Einfacher ausgedrückt beinhaltet der neue Unilateralismus ein Verständnis von Außenpolitik, wonach sich die Vereinigten Staaten um die Welt kümmern, wenn es unbedingt sein muß, aber nur auf ihre Art und Weise, nach ihrem Zeitplan und unter den ihr genehmen Bedingungen.“9

Die beiden Autoren kritisieren die Kurzsichtigkeit des „neuen Unilateralismus“, den sie der Regierung Clinton insbesondere bei deren Drohung nachweisen, die UNO-Resolutionen zum Embargo gegen den Irak oder Bosnien zu mißachten. Sie betrachten diese Haltung als schädlich für die Interessen der Vereinigten Staaten, besonders mit Blick auf die internationale Organisation: „Wenn sich Washington unter den Resolutionen des Sicherheitsrats die herauspickt, die es zu beachten bereit ist, anstatt konsequent seine Vormachtstellung dafür einzusetzen, bei der UNO die für Amerika erforderlichen Aktionen durchzusetzen, schwächt sie damit ein wertvolles Instrument amerikanischer Außenpolitik.“

Der Rahmen, in dem sich die internen Debatten des Establishments zur amerikanischen Politik gegenüber den Vereinten Nationen abspielen, ist damit deutlich abgesteckt: Entweder benutzt man die Vereinten Nationen à la carte, orientiert nur am eigenen Geschmack und Nutzen, oder man beansprucht konsequent die Führung und kann dann selbst das Menü bestimmen. Zu Zeiten, da die UNO zahlreiche Reformvorhaben formuliert, die ohne Zustimmung der USA leere Wunschvorstellungen bleiben, sollten wir nicht aus den Augen verlieren, was die Vereinigten Staaten aus dieser Organisation machen wollen.

dt. Erika Mursa

1 1988 leisteten 107 Mitgliedsländer einen Beitrag von 2 Prozent zum Haushalt, die 15 anderen Mitglieder kamen für 84,5 Prozent auf. Innerhalb dieser letzten Gruppe wurde der Anteil der USA 1972 von 31,5 auf 25 Prozent des Budgets gesenkt.

2 Der Ausdruck stammt von Charles Krauthammer, einem amerikanischen Kolumnisten, der früher der UNO äußerst ablehnend gegenüberstand, inzwischen aber deren Einsätze zynisch begrüßt, sofern sie amerikanischen Interessen dienen.

3 Zur „Kehrtwende“ der Vereinigten Staaten und allgemeiner zur Entwicklung ihrer Beziehungen zur UNO bis zur Amtsübernahme von Bill Clinton vgl. das ausgezeichnete Buch von Robert W. Gregg, „About Face? The United States and the United Nations“, Boulder/Colorado (Lynne Rienner Publishers) 1993.

4 Graham Allison und Gregory F. Treverton, „Rethinking America's Security: Beyond Cold War to the New World Order“, New York (Norton) 1992.

5 Es wurde häufig vermerkt, daß der junge Clinton ein Gegner des Vietnamkriegs war; weitaus seltener war davon die Rede, daß er als Gouverneur von Arkansas den Vorsitz des Democratic Leadership Council (eine Vereinigung der Demokraten außerhalb des Kongresses) innehatte, der sich 1990 für die militärische Intervention gegen den Irak aussprach.

6 Erneut war Japan der wichtigste Geldgeber, als es um die Finanzierung der Intervention in Somalia ging. Das Land trug 100 Millionen Dollar, das waren 91 Prozent des Gesamtvolumens, zum ersten Sonderfonds für die Intervention der UNO-Streitkräfte in Somalia bei.

7 Im Sprachgebrauch des Pentagon bezeichnet das „Beirut-Syndrom“ die Furcht vor Attentaten jenes Typs, der am 23. Oktober 1983 im Libanon 241 amerikanischen Marinesoldaten das Leben kostete.

8 Die Vereinigten Staaten sollen 30 Prozent zur Finanzierung von friedenserhaltenden Maßnahmen, einschließlich solcher von Blauhelmsoldaten, beitragen. Sie verlangen, daß dieser Anteil auf 25 Prozent gesenkt wird.

9 „Going It Alone and Multilateralism Aren't Leadership“, International Herald Tribune, 4./5. Februar 1995.

* Dozent an der Universität Paris-VIII

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Gilbert Achcar